Wie ein Tunesier nach Paris reiste

Seit Anfang Jahr brechen Tausende junge Tunesier auf nach Europa. Es sind so viele, dass sich ganze Dörfer im Süden des Landes leeren. Die Jungen haben – auch durch Videos in den sozialen Netzwerken – eine neue Route entdeckt.

Hinter den Grenzzäunen in Serbien liegt seit Jahren das Ziel von vielen Migrantinnen und Migranten: die Europäische Union. Foto: September 2015.

Beata Zawrzel / Nur Photo / Getty

Als kleiner Junge wollte Khaled Arzt werden. Nur ein Kindheitstraum, sagt der 22-Jährige heute verlegen, er habe natürlich rasch begriffen, dass dies unrealistisch sei. Da, wo er herkomme, hätten die Jungen nur bescheidene Erwartungen, erzählt Khaled am Telefon. Sie möchten anständige Kleider und einen Job, der ihnen ein normales Leben ermöglicht.

Khaled, der eigentlich anders heisst, ist in Tataouine aufgewachsen, als ältester Sohn einer Familie mit sechs Kindern und wenig Geld. Tataouine ist die südlichste Provinz Tunesiens, vernachlässigt vom Staat schon seit der französischen Kolonialzeit. Der Ertrag des Bodens, reich an Öl und Gas, wird kaum in der Region investiert.

Die Arbeitslosigkeit ist hoch, die Armut ebenfalls, und gerade entsteht in Khaleds Heimat ein noch grösseres Problem: Die Jungen verschwinden.

12 000 Menschen seien seit Anfang Jahr aufgebrochen, berechnete der lokale Soziologe Mohammed Nejib Boutaleb im Spätsommer. Das ist rund ein Zwölftel der Bevölkerung der Provinz Tataouine. Manche halten diese Schätzung für übertrieben. Andere sagen, es seien noch mehr.

Menschen vor Ort erzählen, die Plastikstühle der Cafés blieben leer, in den Strassen sei es stiller, den Imbissbuden fehlten Kunden. Immer öfter machen sich Frauen oder Familien mit Kleinkindern auf den Weg und manchmal auch Studierende.

Vorgeschichte: Khaled verliert die Hoffnung

Tunesien steckt in der schlimmsten Wirtschafts­krise seit der Unabhängigkeit im Jahr 1956. Der tunesische Dinar verliert gegenüber dem Dollar an Wert, die Staatsverschuldung steigt. Rating-Agenturen, die Tunesien nach 2011 noch mit B bewerteten, stufen das Land mittlerweile im roten C-Bereich ein. Kurz: Dem Staat droht der Bankrott.

«Seit etwa zwei Jahren ist das Leben in Tunesien kaum mehr zu ertragen», sagt Khaled. Das Geld für die Einkäufe wird immer knapper, die Hälfte der Bevölkerung lebt unter der Armutsgrenze. Die Stimmung der Jungen sei miserabel, sagt Khaled. Sie sähen keine Zukunft.

In Tataouine gingen die Jungen in den vergangenen Jahren aus Frust immer wieder auf die Strasse zum Protestieren. Foto: Februar 2021.

In Tataouine gingen die Jungen in den vergangenen Jahren aus Frust immer wieder auf die Strasse zum Protestieren. Foto: Februar 2021.

Nacer Talel / Anadolu / Getty

Er macht ein Beispiel: Heiraten finde er neben der Arbeit die wichtigste Verpflichtung, die man im Leben eingehe. Doch würde er sich in eine junge Frau verlieben, könnte er weder ein Auto noch ein Haus kaufen, was von ihm als Mann in Tataouine erwartet werde, sagt er. «Ich sehe keine Hoffnung mehr in Tunesien.»

In Tataouine mag dieses Gefühl besonders stark sein, doch auch landesweit denken zwei Drittel der jungen Tunesier ans Auswandern. Für zwei Fünftel ist es eine Option, illegal zu reisen, falls sie kein Visum erhalten. Tunesiens Politik spricht zwar über dieses Problem, unternimmt aber wenig dagegen, ausser dass Sicherheitskräfte Personen festnehmen, die sie erwischen, bevor sie in ein Boot steigen.

Start: Die ersten Versuche scheitern

Die «Harga», wie die Migration ohne Papiere in Tunesien genannt wird, ist unter Jungen in Tataouine so ein grosses Gesprächsthema, dass Khaled schon lange darüber nachdachte. Er sieht Europa als einzigen Ausweg, seine Zukunft zu retten.

Khaled hat keine Diplome. Als er die 9. Klasse abschloss, war klar: Er muss arbeiten, seine Familie brauchte Geld. Einer seiner Brüder ist gehörlos, Arzt und Hörgerät kosten viel. Er versuchte sich in so vielen Jobs, dass ihm beim Aufzählen immer wieder welche einfallen.

Khaled verkaufte Gemüse auf dem Markt, arbeitete auf dem Bau, putzte in einem Restaurant. Er handelte mit Textilien. Eine Saison lang pflückte er Pfirsiche von Bäumen und krümmte den Rücken über Melonen auf Feldern. Er arbeitete ohne Gewissheit, am nächsten Tag noch einen Job zu haben. Und ohne Sozial­versicherung, wie ungefähr 40 Prozent der Arbeiter in Tunesien.

Ihn frustrierte, dass die Löhne trotz den vielen Stunden Arbeit nie zum Leben reichten. Noch wollte Khaled die Hoffnung nicht aufgeben. Er nahm einen Kredit auf, eröffnete damit eine kleine Werkstatt, in der er Türen und Fenster aus Holz schreinerte. Doch das Geschäft lief schlecht. Die Inflation habe das Einkommen aufgefressen, sagt er, und die Holzpreise seien ständig gestiegen und gefallen mit der Krise.

Zwei Mal bezahlt Khaled einen Schlepper, der kleine Boote überfüllt mit Menschen übers Mittelmeer Richtung Italien schickt. Beide Versuche scheitern. Einmal springt der Motor nicht an, das andere Mal kommen zu wenig Personen, und die Überfahrt wird abgesagt.

Khaled ist enttäuscht, er wollte unbedingt nach Deutschland. Er möge die Kultur, die Arbeitsmoral, das Wetter und wie sich das Land selbst wieder aufgebaut habe, sagt er. Immerhin: Die rund 950 Euro gibt ihm der Schlepper zurück.

Zwischenstation: Flughafen Istanbul

Dann sieht er auf seinem Smartphone Videos von jungen Tunesiern, die sich filmen, wie sie nach Istanbul fliegen und über den Balkan Richtung Zentraleuropa reisen.

Die Route ist mittlerweile so beliebt, dass ein tunesischer Rapper kürzlich einen Song darüber schrieb. Als Khaled die Videos schaut, schöpft er Hoffnung. Diese Route kostet zwar mehr, ist aber weniger gefährlich als das Mittelmeer. In diesem Jahr ertranken bereits 544 Migranten vor den Küsten Tunesiens.

Dass die Videos die Reise als Abenteuer verharmlosen, ist Khaled bewusst. Er hörte von Uniformierten, die zuschlagen; von Menschen, die aus Lastwagen fallen oder sich an Grenzzäunen so stark verletzen, dass sie verbluten. Bei einem Autounfall nahe der ungarisch-österreichischen Grenze starben vier Migranten, davon zwei junge Männer aus Tataouine. Khaled reist trotzdem los. Seiner Familie sagt er nichts.

In solchen Videos in den sozialen Netzwerken zeigen Tunesier, wie sie illegal via den Balkan in die EU reisen. Die Videos verharmlosen, wie gefährlich die Route ist.

Tiktok

Er fährt im vergangenen Juni von Tataouine quer durchs Land Richtung Norden bis zum Flughafen Tunis. Eingepackt hat er wenig: Bargeld, ein paar Kleider und ein Schreiben von den Eltern, das unter 35-Jährige in tunesischen Flughäfen zeigen müssen, wenn sie in die Türkei, nach Marokko, Algerien oder Libyen reisen. Khaleds Vater hatte das Papier unterschrieben, als er früher einmal nach Algerien wollte.

Die Türkei gehört zu den wenigen visafreien Ländern für Tunesier. Trotzdem sind die Grenzbeamten aufmerksam, sie wissen, dass ihr Land als Transit genutzt wird. Der Trick der jungen Tunesier: Sie buchen ein Retourticket, das sie später stornieren werden.

Die türkischen Beamten bleiben skeptisch. Die NZZ sprach am Telefon mit dem 28-jährigen Ali, ebenfalls aus Tataouine, der am Flughafen Istanbul festgenommen und nach einer Woche zurück nach Tunesien geschickt wurde. Wieso sie ihn aufgriffen, weiss Ali nicht. Für ihn ist klar: Er wird die Reise wieder versuchen.

Etappenziel: über den Zaun in die EU

Die Beamten stellen Khaled nur wenige Fragen. Er bleibt zehn Tage in Istanbul, steigt dann in ein Flugzeug nach Belgrad. Serbien gehört damals, im Juni, zu den visafreien Ländern für Tunesier.

Wegen des Drucks der EU kündigte Serbien an, von Tunesiern ab dem 20. November ein Visum zu verlangen. Der Tunesier Ali, der zurückgeschickt wurde, will sich davon nicht abhalten lassen. Schlepper würden immer neue Wege finden, Menschen in die EU einzuschleusen, ist er überzeugt.

Als Khaled am Flughafen Belgrad landet, ist er nervös. Die serbischen Beamten wollen eine Hotelbuchung sehen, fragen, wo er hinwill, ob er genügend Geld dabei habe. Khaled hat sich auf das Gespräch vorbereitet, auf Blogs und Youtube stellen Tunesier unzählige Anleitungen zu den verschiedenen Routen online. Die Beamten lassen Khaled einreisen.

In einem Café sucht er auf Google Maps die Busstation. Er fährt in den Norden in die Stadt Subotica. Dort im Hotel trifft er per Zufall auf zwei Kollegen aus Tataouine. Subotica ist zu einem Umschlagplatz für Migranten und Schlepper geworden.

Das Business ist gross. Laut der EU-Grenzschutzbehörde Frontex reisten seit Anfang Jahr 150 000 Menschen via Balkanroute in die EU ein. Vier Mal so viele wie 2021. Manche Schlepper bauen sich ein Imperium auf, der bekannteste ist al-Kazawi, angeblich ein Marokkaner. Auf seiner Facebook-Seite teilt er Videos und seitenweise Namenlisten mit Personen, die er in die EU eingeschleust hat.

Einer der bekanntesten Schlepper in Serbien, der sich al-Kazawi nennt, teilt auf seiner öffentlichen Facebook-Seite Namenlisten mit Personen, die er in die EU eingeschleust hat.

Einer der bekanntesten Schlepper in Serbien, der sich al-Kazawi nennt, teilt auf seiner öffentlichen Facebook-Seite Namenlisten mit Personen, die er in die EU eingeschleust hat.

Screenshot Facebook

Frontex und die EU-Asylagentur EUAA schreiben auf Anfrage, sie würden die sozialen Netzwerke nicht überwachen. Ein EUAA-Sprecher fügt an, sie kennten solche Schmuggler-Profile, doch der Europäische Datenschutzbeauftragte habe ihnen die Überwachung untersagt, obwohl die Informationen öffentlich seien. Aus der E-Mail ist herauszulesen, dass er wenig Verständnis hat für diesen Entscheid.

Khaled kontaktiert mehrere Schlepper. Sie sagen ihm, er solle mit einem Taxi in die Stadt Sombor fahren. Dort trifft er mitten in der Nacht Männer in Sturmmasken. Es sei wie ein Marktplatz mit vielen Angeboten, sagt Khaled. Er entscheidet sich für einen unbekannten Schmuggler, weil er glaubt, dass sich jemand, der sich noch einen Namen aufbauen möchte, besser um seine Kunden kümmere.

Khaled drückt ihm 3000 Euro und den tunesischen Pass in die Hand. Sollte er irgendwo von Polizisten angehalten werden, will Khaled nicht identifizierbar sein. So könnten sie ihn nicht zurück nach Tunesien schicken.

Im Dunkeln marschiert er zu Fuss mit anderen Migranten zur Grenze. Sein Schmuggler organisierte Leitern, mit denen sie über die zwei Grenzzäune klettern. Plötzlich tauchen ungarische Beamte auf. Sie kontrollieren die Gruppe, finden keine Ausweise, bringen sie zurück in den serbischen Wald vor der Grenze.

In der nächsten Nacht startet Khaled einen zweiten Versuch. Wieder klettert er die Leiter hoch über den ersten Zaun. Geht ein Stück, klettert dann über den zweiten. Er beginnt, durch den ungarischen Wald zu marschieren. Und realisiert: Endlich ist er in der EU. «Ich war zu diesem Zeitpunkt so glücklich, mir fehlen dafür die Worte», sagt Khaled.

Unterwegs: im Zug durch die Schweiz

Schweizer Grenzwächter bringen Migranten aus einem Zug aus Wien zur Kontrolle am Bahnhof in Buchs.

Schweizer Grenzwächter bringen Migranten aus einem Zug aus Wien zur Kontrolle am Bahnhof in Buchs.

Gian Ehrenzeller / Keystone

Ungefähr sieben Stunden geht Khaled zu Fuss. Dann wartet in einem Auto ein Komplize seines Schleppers, der ihn und die anderen bis zur österreichischen Grenze fährt.

Khaled fühlt sich schmutzig, er ist müde. Und er hat gehört: Am einfachsten ist die Weiterreise, wenn er sich bei der Polizei meldet. Die österreichischen Beamten seien super nett, sagt Khaled. Sie geben ihm Essen und Zigaretten. Er diktiert ihnen seinen Namen, drückt die Fingerkuppen auf ein Gerät.

Ein Beamter überreicht ihm ein Infoblatt und ein Zugticket. Er solle selbständig zum angegebenen Ort fahren, vermutlich ein Asylzentrum. Wo genau in Österreich er war, kann sich Khaled nicht erinnern, wahrscheinlich in Wien. Am Bahnhof kauft er sich ein Billett nach Zürich. Er entscheidet sich, nach Frankreich statt nach Deutschland zu reisen. Das ergebe mehr Sinn, denkt er, denn in Paris kennt er mehr Menschen.

Ein Sprecher des österreichischen Innenministeriums erklärt auf Anfrage, dass Asylbewerber nach höchstens 48 Stunden nicht mehr als festgenommen gälten. Es komme vor, dass sie in andere Länder weiterreisten.

Khaled fährt durch die Schweiz. Ein schönes Land, sagt er, und die Wirtschaft sei gut. Doch die Polizei habe den Ruf, streng zu sein. In Zürich kauft er sich ein Ticket nach Basel, dort steigt er erneut um.

Endstation: untertauchen in Paris

Als Khaled in Paris aus dem Zug aussteigt, füllen sich seine Augen mit Tränen. Das Einzige, was seine Freude etwas trübt: Noch lieber wäre er in Deutschland angekommen.

Er findet Unterschlupf bei einem Kumpel, und nach ein paar Tagen kann er seinen tunesischen Pass bei einem Mann abholen, der für seinen Schmuggler arbeitet. Andere Tunesier erzählen, dass ihnen der Pass per Post geschickt worden sei, sobald sie am Ziel angekommen seien.

6000 Euro hat Khaled für die Reise hingeblättert. Das war’s wert, findet er. Wie die meisten Tunesier, die ohne Visum nach Europa kommen, beantragt er kein Asyl. «Was ich tue, ist illegal, das ist mir klar.» Er sehe schlicht keinen anderen Weg. Ein Asylgesuch wäre aussichtslos, das weiss er. Seine Herkunft: ein einigermassen demokratischer Staat. Sein Fluchtgrund: Suche nach einer besseren Zukunft.

Durch Kontakte findet er eine Bäckerei, die ihn schwarzarbeiten lässt. Morgens von vier bis sieben, abends von fünf bis zehn. Zurzeit sei er in Ausbildung, einen Lohn zahle ihm der Chef noch nicht, sagt Khaled. Er schlägt sich durch dank Freunden aus Tataouine. Das Leben in Paris ist mühsamer, als die Selfies vor dem Eiffelturm suggerieren, die Zurückgebliebene in den sozialen Netzwerken sehen.

Wenn Khaled auf der Strasse Polizisten sieht, beginnt er vor Angst zu zittern. Er fürchtet, dass sie ihn zurück nach Tunesien schicken. Frankreich hat ein Abkommen für Ausschaffungen. Vergangenes Jahr gewährte es ein Drittel weniger Visa für Tunesier, um Druck auf Tunis zu machen, Migranten ohne gültige Papiere zurückzunehmen. Laut der französischen Regierung funktioniert diese Strategie. Sie habe mehrere hundert Personen nach Tunesien ausschaffen können.

Die Optionen für Khaled, irgendwann legal in Paris zu leben, sind begrenzt. Er könnte eine Französin heiraten oder einen Aufenthaltstitel beantragen, falls er nach drei Jahren 24 Lohnabrechnungen vorweisen kann. Manche Sans-Papiers fälschen Dokumente von anderen europäischen Ländern, die sie bei Kontrollen der Polizei vorzeigen können.

Seit vier Monaten lebt Khaled nun in Paris. Eigentlich bietet ihm das Leben zurzeit kaum mehr als in Tunesien. Er verdient nichts, ist abhängig von anderen, und draussen fürchtet er sich vor der Polizei. Trotzdem: Wenn er morgens erwache, fühle er sich ruhiger, er mache sich weniger Sorgen um die Zukunft, sagt er.

Was Khaled in Paris vorwärtstreibt, ist stärker als rationale Gedanken und realistische Szenarien: Er hofft wieder.

Radhouane Addala ist freier Journalist in Tunesien.

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