Wie Frankreich die Atomenergie lieben lernte

Der Plan von Emmanuel Macron, 100 Milliarden Euro in die Atomkraft zu investieren, stösst im Wahlkampf kaum auf Kritik. Denn die Atomindustrie hat in Frankreich Gemeinden reich gemacht und zu einem nationalen Mythos beigetragen. Gegner haben es schwer.

Civaux hat durch das Atomkraftwerk eine grosse Aufwertung erfahren, seine Einwohnerzahl hat sich seit den 80er-Jahren verdoppelt. Derzeit stehen beide Reaktoren still (Bild vom Oktober 2021).

Stephane Mahe / Reuters

In Civaux ragen zwei Wahrzeichen unterschiedlicher Epochen in den Himmel: Eine der ältesten Kirchen des Landes, erbaut von den Merowingern ab dem 6. Jahrhundert, steht quasi neben den Kühltürmen des jüngsten Atomkraftwerks.

Civaux ist eine Destination für Archäologiefans aus dem In- und Ausland. Aber das Dorf, rund eine halbe Stunde von Poitiers und idyllisch am Fluss Vienne gelegen, ist auch eine ausserordentlich wohlhabende Gemeinde. Den rund 1200 Einwohnern steht eine Infrastruktur zur Verfügung, von der manche Kleinstadt träumt. Es gibt ein Hallenbad mit Tauchbecken, ein Fitnesscenter, Räumlichkeiten für Bowling und Squash, Tennisplätze, eine Kantine für die Grundschule, eine Mediathek, eine Reptilienfarm sowie ein eigenes Ärztehaus. Zudem subventioniert die Gemeinde ein sehr reges Vereinsleben. Möglich macht dies das zweite Wahrzeichen des Ortes: das Atomkraftwerk.

Eine Fusion ohne Probleme

Es sei verrückt, all das Geld, sagt Roselyne Le Floc’h. Sie weiss, wie das Atomkraftwerk den Ort verändert hat, in dem sie vor 75 Jahren zur Welt kam: nicht nur im Hinblick auf die grosszügige und gute Infrastruktur, die sich durch die üppigen Steuereinnahmen realisieren liess. Die Einwohnerzahl der Gemeinde hat sich seit den achtziger Jahren quasi verdoppelt. Zuvor war Civaux ein landwirtschaftlich geprägtes Dorf, das die Jungen in der Regel verliessen. Le Floc’h war keine Ausnahme. Mit 23 Jahren zog sie mit ihrem Mann an den Ärmelkanal. Aber das Paar wusste, dass es dereinst zurückkehren wollte; jedes Jahr verbrachten sie ihre Ferien dort. Die Heimkehr kam früher als erwartet. 1997 fand Le Floc’hs Mann eine Stelle in Poitiers.

Das Atomkraftwerk stand damals kurz vor der Fertigstellung. Die Baustelle hatte bereits für einen beträchtlichen Bevölkerungszuwachs gesorgt. «Cité EdF» nennen die Bewohner die Ansammlung von Häusern, die der quasistaatliche Stromkonzern für die Mitarbeiter bauen liess. Sie stehen ausserhalb des alten Dorfkerns und sind durch ihren eigenen Stil auch heute noch leicht erkennbar. Viele Bewohner von Civaux arbeiten heute für das Kraftwerk; bei Arbeiten und Revisionen kommen jeweils Dutzende temporär dazu, die im Dorf Unterkünfte mieten. Mit 1300 Beschäftigten ist die «centrale», wie die Einheimischen sagen, der grösste industrielle Arbeitgeber des Département.

Die Verschmelzung des Kraftwerks mit dem Bauerndorf verlief ohne Probleme. Le Floc’h hat sich vor unserem Treffen noch einmal bei anderen Alteingesessenen versichert: Nein, es gab in Civaux keine Antiatomproteste. Der Bürgermeister, der die Entscheidung der Regierung von 1980 unterstützte, bekam zwar Todesdrohungen. Wie sich herausgestellt habe, seien die aber aus dem Ausland gekommen, erzählt Le Floc’h. Sie selbst hat das Projekt nie beunruhigt: «Es gibt hier nicht mehr kranke Leute als anderswo», sagt sie. Wenn es ein grosses Problem gebe, so seien sie hier zwar die Ersten, die es erwische – aber so sei das eben.

Probleme gibt es in Civaux tatsächlich, sie sind allerdings nur ein paar Millimeter gross. Bei einer routinemässigen Kontrolle von Reaktor Nummer 1 wurden mindestens acht verätzte Stellen in Rohren entdeckt, die zum Kühlungskreislauf gehören. Aus Sicherheitsgründen wird nun auch der zweite Reaktor untersucht.

Seit November produziert das Kraftwerk daher keinen Strom mehr; frühestens im Sommer kann es wieder ans Netz gehen. Für das Dorf hat dies zur Folge, dass das Altersheim, die Kirche und die Reptilienfarm vorübergehend mit Öl beheizt werden müssen. Die Betreiberfirma EdF ist von der Atomsicherheitsbehörde aufgefordert worden, die Reaktoren derselben Serie ebenfalls zu überprüfen. Dies hat zur Abschaltung von neun weiteren Reaktoren im ganzen Land geführt; Risse an dieser sicherheitsrelevanten Stelle seien weltweit noch nie vorgekommen, teilte EdF mit.

Als sie davon gehört habe, habe sie sich gefragt, ob die Kontrollen in den letzten Jahren vielleicht nicht mit der nötigen Sorgfalt gemacht worden seien, sagt Roselyne Le Floc’h. Und ob die nötige Expertise verlorengegangen sei, weil man lange nicht in die Atomindustrie investiert habe. Dass Emmanuel Macron nun mindestens sechs, vielleicht aber auch vierzehn neue Reaktoren bauen möchte, findet Le Floc’h eine gute Sache. Es garantiere die weitere Ausbildung von Fachkräften. Die Atomenergie sei sauberer als Kohle, und mit den Erneuerbaren sei es in Frankreich ja nicht so einfach. Tatsächlich gibt es gegen den Bau von Windparks mehr Widerstand als gegen Atomkraft.

Eine übermächtige Lobby?

«Je weiter die Leute von einem Atomkraftwerk entfernt leben, desto mehr Angst haben sie.» Das sagt Yannick Beudaert im Sitzungszimmer des Rathauses, durch dessen Fenster man den Kühlturm des Reaktors Nummer zwei in voller Grösse sieht. Der 46-Jährige kümmert sich um das Freizeitangebot der Gemeinde. Er kam vor 25 Jahren aus Nordfrankreich nach Civaux, wegen des Jobs seiner Frau. Er selbst fand Arbeit beim Kraftwerk: anfangs als Wachmann, dann als Strahlenschutztechniker. Inzwischen begleitet er im Auftrag eines Konsortiums die zahlreichen Subunternehmer auf dem Gelände in Sicherheitsfragen.

Je mehr er über die Arbeit und die Prozesse auf dem Gelände gewusst habe, desto grösser sei sein Vertrauen geworden, sagt er. Mit der Atomenergie sei es wie mit anderen risikobehafteten Industrien: Die totale Sicherheit gebe es nicht. Es gehe also darum, das Risiko zu beherrschen. Beudaert ist überzeugt, dass dies in Frankreich gelingt. «Hätten sie sonst beide Reaktoren heruntergefahren?», fragt er.

Sezin Topçu sieht in einer solchen Argumentation den Erfolg der einflussreichen französischen Atomlobby. Diese habe über Jahre einen risikorelativierenden Diskurs geführt. Nun werde dieser vom Argument des Klimaschutzes abgelöst, das auf europäischer Ebene Schule mache. «Das ist doch einigermassen erstaunlich, ist doch der Unfall von Fukushima erst elf Jahre her», sagt die an der Pariser Hochschule EHESS tätige Soziologin. In Fukushima habe sich gezeigt, dass die Lernfähigkeit des Sektors Grenzen kenne. «Über Stunden war nicht zu eruieren gewesen, was im Innern des Kraftwerks passierte», erinnert sie sich.

Topçu hat unter anderem untersucht, mit welchen Mechanismen Frankreichs Regierungen über Jahrzehnte eine umstrittene Technologie zum Teil der nationalen Identität geformt haben. Vieles sei geschickte Kommunikation, von einer lernenden, zukunftsgerichteten Branche. Dass der ganze Atompark innert kürzester Zeit gebaut worden sei, habe zudem den Effekt einer Dampfwalze gehabt: Er habe die Proteste, die es durchaus gab, richtiggehend erdrückt, sagt Topçu.

Die 56 Reaktoren, die rund 71 Prozent der französischen Stromproduktion liefern, wurden alle zwischen 1974 und 1991 gebaut. Seither wurde einzig 2006 in Flamanville eine neue Baustelle eröffnet. Der erste Druckwasserreaktor (EPR) der sogenannten dritten Generation ist allerdings aufgrund zahlreicher technischer Probleme bis heute nicht fertiggestellt; die Kosten haben sich auf rund 13 Milliarden Euro vervierfacht.

Wettern gegen Windparks

Dass die französische Regierung trotz diesen offensichtlichen Problemen auf die Zukunft der Atomindustrie setzt und die hochverschuldeten Betreiber und Bauherren immer wieder vor dem Konkurs rettet, hat laut Topçu identitätspolitische Gründe. Die Fortschritte bei den Experimenten zur Energiegewinnung nach dem Zweiten Weltkrieg waren eng mit der nuklearen Aufrüstung verbunden. «Wenn man die Atomindustrie infrage stellt, stellt man auch die militärische Dimension infrage – und das ist undenkbar», sagt Topçu. Die Atombombe gehöre zum französischen Selbstverständnis und sei Teil der Staatsräson. Zudem sei der ganze Bau, Betrieb und Unterhalt in quasistaatlicher Hand. Politiker und Atomlobby pflegen seit je eine grosse Nähe.

Das erklärt unter anderem, warum die Entscheidung von Emmanuel Macron, massiv in die Atomkraft zu investieren, kein Streitthema im Wahlkampf ist. Kritisiert wird höchstens, dass er die Zentrale in Fessenheim schliessen liess und nun «eine Kehrtwende» vollzogen habe. Mit Ausnahme der Grünen und des Links-aussen-Politikers Jean-Luc Mélenchon will niemand aus der Atomkraft aussteigen. Konservative Kandidaten wettern dafür gegen Windparks, die Macron parallel entwickeln will. Sie würden die Landschaft verschandeln oder die Fischerei gefährden, heisst es.

Doch die Erfahrung von Flamanville zeigt: Die neue Generation von Atomkraftwerken wird eher in zehn bis zwanzig denn innerhalb der nächsten zwei, drei Jahre Strom liefern. Macrons Plan sieht daher auch eine Laufzeitenverlängerung bei den bestehenden Anlagen vor. Diese waren eigentlich alle für eine Lebensdauer von vierzig Jahren konzipiert. Doch die französische Agentur für Atomsicherheit (ASN) hat dem Vorhaben der Regierung im vergangenen Jahr zugestimmt, unter der Bedingung, dass EdF bei der Sicherheit massiv aufrüstet und die Kontrollen verschärft.

Ein zäher Kampf

Tricastin, rund 20 Kilometer südlich von Montélimar gelegen, ist eines der ältesten Kraftwerke am Netz. Sein Reaktor Nummer 1 hat im vergangenen Jahr sein vierzigstes Betriebsjahr beendet. Für Alain Volle war dies kein Grund zum Feiern. Er hat zu dem Anlass eine Demonstration organisiert. Volle, 75 Jahre alt, ist der Präsident des Vereins «Stop Tricastin». Er hat ihn mit ein paar Mitstreitern vor rund vier Jahren gegründet, als immer deutlicher wurde, dass die Laufzeit der beiden Reaktoren verlängert werden könnte.

Nach einer eingehenden Prüfung der Anlage laufen derzeit Beratungen der zuständigen Behörden. Bis Ende des Jahres soll die Entscheidung fallen. Sie werde wegweisend sein, sagt Volle. Wird die Verlängerung bei einem der Reaktoren dieses Typs zugelassen, dürften die anderen 31 Reaktoren derselben Bauart folgen.

Allerdings fände Volle eine verlängerte Laufzeit gerade im Fall von Tricastin fatal; die Reaktoren hätten das Potenzial, ein «Fukushima an der Rhone» auszulösen, sagt er. Damit spielt er darauf an, dass das Kraftwerk auf seismisch aktivem Gebiet liegt. Erst 2019 gab es im nahe gelegenen Ardèche ein Erdbeben der Stärke 5,4. Zudem liegt die Anlage an einem Nebenkanal der Rhone. Dass EdF derzeit den das Kraftwerk schützenden Erdwall bereits zum zweiten Mal verstärkt, beruhigt ihn nicht: Das Kraftwerk liegt sechs Meter tiefer als die Rhone, das einfallende Wasser hätte eine grosse Wucht.

Die Zentrale von Tricastin, eine der ältesten in Frankreich, wartet derzeit auf eine Laufzeitverlängerung um zehn bis zwanzig Jahre.

Die Zentrale von Tricastin, eine der ältesten in Frankreich, wartet derzeit auf eine Laufzeitverlängerung um zehn bis zwanzig Jahre.

Theo Giacometti / Bloomberg

Mindestens so sehr treibt Volle der Zustand des Reaktors an sich um. Der Reaktorbehälter hat mehrere Risse und steht deshalb schon seit ein paar Jahren unter verstärkter Aufsicht der ASN. Auch hat neulich ein Whistleblower Haarsträubendes über den Umgang mit Pannen öffentlich gemacht. Das ehemalige Kadermitglied erzählte gegenüber «Le Monde» relativ detailliert, wie mehrere eigentlich meldepflichtige Zwischenfälle vertuscht werden sollten.

Volle ist hart in seinem Urteil und klar in seinen Argumenten. Er sagt von sich, ein 68er zu sein, und erzählt von abenteuerlichen Antiatomkraftdemos im ganzen Land. Aber sein Kampf hat erst richtig an Fahrt gewonnen, seit der frühere Headhunter aus dem Berufsleben ausgestiegen und in seine Heimatregion zurückgekehrt ist.

Eine Mehrheit der Franzosen findet es in Ordnung, dass die Atomenergie weiterhin eine wichtige Rolle spielt

Frage: Wo sollen die Prioritäten der französischen Energiepolitik der Zukunft liegen? Angaben in %

Investitionen in Erneuerbare, aber auch in die Renovation beziehungsweise den Neubau des Atomparks

Vor allem auf Erneuerbare setzen und sukzessive aus der Atomkraft aussteigen

Er plädiert nicht für den sofortigen Ausstieg, sondern für einen mittelfristig atomstromfreien Energiemix. Kein Wunder, hat Macrons Entscheidung vom Herbst, bis 2030 rund 100 Milliarden Euro in die Atomkraft zu investieren, seinen Widerstand noch befeuert. «Die Argumente für den Ausbau der Atomkraft sind allesamt scheinheilig», sagt Volle. Die Energiegewinnung sei unglaublich teuer, risikoreich und auch nicht umweltfreundlich, nur rede von den Abfällen keiner. Auch das Argument der energiepolitischen Unabhängigkeit, das im gegenwärtigen Kontext besonders oft erwähnt wird, bezeichnet Volle als falsch: «Das Uranium muss sich Frankreich im Ausland besorgen.»

Doch Volle weiss, dass er seinen Kampf gegen einen ungleichen Gegner führt. Seine Petition für die Abschaltung von Tricastin hat landesweit rund 45 000 Personen mobilisiert; aus den vier an das Kraftwerk angrenzenden Départements kamen lediglich 4000 Unterschriften. Dafür haben mehr als 30 Lokalpolitiker aus der Gegend der Regierung geschrieben, um sie zu bitten, Tricastin auch als Standort für die neu geplanten Reaktoren zu berücksichtigen. Das Problem, sagt Volle, sei, dass der Atomstrom zu Frankreich gehöre wie die Marseillaise und die Tricolore. Wer die Atomkraft kritisiere, kritisiere Frankreich.

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