Wie lebt es sich vom Notvorrat?

Ein Selbstversuch mit Notvorrat und Campingkocher.

Jetzt nur die Ruhe bewahren. Ich habe mich schliesslich vorbereitet, zumindest ein bisschen. Normalität simulieren an diesem frühen Freitagmorgen in Zürich, an dem in der ganzen Stadt der Strom ausgefallen ist – Blackout. Nichts geht mehr: kein Licht, kein Internet, kein Trolleybus, kein Tram. Wann der Strom wieder fliessen wird, weiss keiner.

Was tun? Trotzdem zur Arbeit fahren mit dem Velo? Bei modernen Gebäuden würden sich wohl nicht einmal die Eingangstüren bewegen. Mit meinem Badge käme ich nicht ins Büro. Ich bleibe zu Hause und mache mir erst einmal einen Kaffee – auf meinem brandneuen Brennspritkocher.

Gaskocher seien zu gefährlich für drinnen, hatte der Verkäufer im Outdoor-Fachgeschäft gesagt, als er mir das Teil präsentierte im Laden: einen sogenannten Sturmkocher, mit zwei handlichen Töpfen und einer Pfanne, die man auch als Deckel oder «Herdplatte» verwenden kann, für 140 Franken. Man solle den Kocher zuerst draussen ausprobieren, bevor man ihn indoor verwende, steht in der Beschreibung.

Auf Probe kochen an der frischen Luft? Ach was, ich brauche Kaffee, und zwar hier und jetzt. Was soll schon passieren?

Ausserdem bin ich vorsichtig: den Kocher wie empfohlen auf ein Backblech auf dem Herd platzieren, Brennsprit in den Brenner, anzünden – «Wmm!» –, das Streichholz schnell zurückziehen, damit man sich nicht die Finger verbrennt. Pfanne auf den Kocher, und dann den Kaffeekocher drauf. Es funktioniert. Nach etwa zehn Minuten riecht es in der Küche nicht nur nach Tankstelle, sondern auch nach Kaffee. Die Flamme geht von selber aus. 50 Milliliter Sprit reichen ziemlich genau für eine Kanne.

Und jetzt?

Jetzt werde ich drei Tage lang vom Vorrat leben, den ich mir für dieses Szenario angelegt habe. Für Notlagen also, wenn sämtliche Geschäfte geschlossen wären und man in der Migros oder im Coop nicht einmal eine Flasche Wasser kaufen könnte. Da auch dort weder Eingangstüren noch Kassen funktionieren würden.

Das ist die Ausgangslage für diesen Selbstversuch: Wir wollten wissen, was wäre, wenn der grosse Blackout kommt. In der Küche, am Herd, in einer dunklen, kalten Wohnung, allein. Wenn Menschen zum Nichtstun verdammt sind. Und was passieren müsste, um die Lebensmittelversorgung wieder in Gang zu bringen – und um Panik in der Bevölkerung zu verhindern.

«Eines der wahrscheinlichsten Krisenszenarien»

Seit Monaten warnen Behörden in der Schweiz immer eindringlicher vor der Gefahr eines länger dauernden Stromausfalls. Wegen Putins Krieg in der Ukraine und dessen Folgen für die hiesige Energieversorgung. Die Zürcher Regierung etwa schrieb Mitte September:

Eine über mehrere Wochen oder Monate andauernde Mangellage in der Stromversorgung, insbesondere im Winterhalbjahr, wird von Bund und Kantonen als eines der wahrscheinlichsten Krisenszenarien in der nahen Zukunft betrachtet.

Und weiter:

Zur Überbrückung eines kurz bis einige Tage andauernden Blackouts ist die Bevölkerung angewiesen, einen entsprechenden Notvorrat mit lebenswichtigen Gütern zu halten, der für rund eine Woche ausreicht.

Eigentlich ist es eine alte Botschaft. Seit 1950 ruft der Bund dazu auf, einen Vorrat an haltbaren Nahrungsmitteln zu Hause zu haben. Nachkriegszeit, Kalter Krieg. Es war eine Zeit, als viele Menschen noch gewohnt waren, Früchte und Gemüse einzumachen – nicht nur wegen der atomaren Bedrohung, sondern weil es im Herbst und im Winter längst nicht alles zu kaufen gab.

«Kluger Rat, Notvorrat», so sagte man damals.

Die Broschüre mit den wichtigsten Empfehlungen des Bundesamts für wirtschaftliche Landesversorgung (BWL) heisst immer noch so. Bestellt wird sie derzeit zu Tausenden. Auch ich habe die Publikation aufmerksam studiert. Denn für meinen Selbstversuch musste ich zuerst wissen: Einen Notvorrat für eine Woche anlegen – was bedeutet das genau?

Die Liste des Bundesamts enthält mehrere Punkte, die man mit einem Häkchen versehen kann:

  • Reis oder Teigwaren
  • Öl oder Fett
  • Konserven (zum Beispiel Gemüse, Früchte, Pilze)
  • Mehl, Trockenhefe
  • Dauerwürste, Trockenfleisch
  • Fertiggerichte, zum Beispiel Rösti
  • Dörrfrüchte
  • Zwieback oder Knäckebrot
  • Schokolade
  • Kondensmilch und so weiter

Die Mengen muss man selber ausrechnen. Gaskocher, Kerzen, Streichhölzer, WC-Papier, Seife, Medikamente, Desinfektionsmittel, Bargeld und ein batteriebetriebenes Radio gehören gemäss BWL ebenfalls dazu. Der Kanton Zürich ist etwas konkreter. Auf seiner Website zum Thema erfährt man, wie eine «ausgewogene Tagesration» für eine erwachsene Person aussehen könnte:

  • 50 Gramm Zwieback (210 Kalorien)
  • 100 Gramm Salsiz (450 Kalorien)
  • 1 Stück Getreideriegel (100 Kalorien)
  • 200 Gramm Spaghetti (320 Kalorien)
  • 200 Gramm Thunfisch aus der Konserve (200 Kalorien)
  • 200 Gramm Kidneybohnen (200 Kalorien)
  • 20 Gramm dunkle Schokolade (80 Kalorien) und so weiter

Der Tagesbedarf eines Erwachsenen liege ungefähr bei 2200 Kalorien, schreibt der Kanton. Wer jetzt noch nicht weiss, was er oder sie damit anfangen soll, kann sich von speziellen Kochbüchern inspirieren lassen, die auf der Website ebenfalls angepriesen werden («Kochen ohne Strom», «Lecker kochen im Notfall»). Die Bilder auf den Covers machen durchaus Appetit. Aber mit bestimmten Rezepten im Kopf einkaufen, das wäre mir zu kompliziert gewesen.

Und so operiere ich eher auf gut Glück, als ich zwei Tage vor dem «Ernstfall» mit den Empfehlungen des Bundesamts in der Hand im Laden stehe. Ich kaufe ein: Konserven, Trockenfrüchte, haltbaren Käse, haltbare Milch, eine kleine Salami am Stück, eine Backmischung für ein Brot (statt Hefe und Mehl), eine grosse Toblerone (fürs Gemüt im Blackout), Nudeln, Rösti, Reis.

Apropos Nudeln, Rösti, Reis: Wie viel davon habe ich noch zu Hause?

Die Folgen eines Blackouts werden unterschätzt

Ein Vorrat wird erst im Notfall zum Notvorrat. Ohne Blackout handelt es sich lediglich um Lebensmittel, die man halt so hat in der Küche. Die Schränke von Herrn und Frau Schweizer sind gut gefüllt. Eine Studie von Agroscope, der landwirtschaftlichen Forschungsanstalt des Bundes, kam 2018 zu dem Schluss, dass das Essen in hiesigen Haushalten durchschnittlich für 16,2 Tage ausreichen würde, mehr als doppelt so lang wie die vom BWL empfohlenen 7 Tage.

Das klingt beruhigend. Doch die Unterschiede sind gross. Ein Viertel der Befragten hat nach eigenen Angaben nicht genug daheim, um sich eine Woche lang selbst versorgen zu können.

Und: Einem Grossteil der Bevölkerung scheint nicht bewusst zu sein, dass bei einem Blackout Ofen, Herd, Kühlschrank und Tiefkühler nicht mehr funktionieren. Was nützen einem Spaghetti, wenn man kein Wasser aufsetzen kann? Was soll man mit einem Filet oder einer Packung Fischstäbchen, wenn man keine Pfanne erhitzen kann? Was mit einer Tiefkühlpizza, wenn man nicht backen kann? Wohin mit dem Gemüse, das schlecht zu werden droht?

Danach gefragt, ob sie auch ohne Strom mit ihren Vorräten zurechtkommen würden, stehen viele Haushalte weitaus schlechter da: Drei Viertel würden die 7-Tage-Marke nicht erreichen. Für die meisten der Befragten spielen Notfallszenarien beim Einkaufen denn auch eher keine, mehrheitlich keine oder gar keine Rolle.

Eine Versorgungskrise treibt die wenigsten um

Anteile der Haushalte, die wegen Notfällen einen Vorrat anlegen, in Prozent

Die Corona-Pandemie, als in den Regalen der Detailhändler plötzlich etliche Lücken klafften, scheint an dieser Haltung nur wenig geändert zu haben. In einer weiteren Untersuchung zum Lockdown im Frühling 2020 gaben über die Hälfte der Befragten an, die Empfehlungen des Bundesamts für wirtschaftliche Landesversorgung nicht zu kennen. 17 Prozent haben damals zum ersten Mal davon gehört. Ich selber hatte bis vor kurzem keine Ahnung, dass es diese Liste gibt.

Machen wir es uns zu einfach?

Vielleicht haben wir genug von Krisen, nach der Finanzkrise, der Euro-, der Flüchtlings- und der Corona-Krise. Vielleicht wollen wir der nächsten Gefahr entgehen, indem wir sie einfach ignorieren. Und uns selber gut zureden: Wird schon nicht so schlimm werden. Auch wenn ein flächendeckendes Blackout über mehrere Tage eine andere Dimension von Schlimm wäre. Das haben wir wahrscheinlich noch nicht verstanden.

Die Sache mit dem Trinkwasser

Eine gewisse Sorglosigkeit zeigt sich auch beim Trinkwasser, dem wichtigsten Lebensmittel überhaupt. Der Bund empfiehlt, 9 Liter Wasser pro Person sowie weitere Getränke zu lagern. Das reiche für drei Tage. Ab dem vierten Tag sind die Wasserversorger verpflichtet, jedem Haushalt mindestens 4 Liter pro Person und Tag zukommen zu lassen. So zumindest will es die Verordnung über die Sicherstellung der Trinkwasserversorgung in schweren Mangellagen, die seit August 2020 in Kraft ist.

Trinkwasser für drei Tage: Für die meisten Schweizerinnen und Schweizer ist das kein Problem. Ihr privater Wasservorrat reiche für 7,5 Tage. Behaupten die Teilnehmer der Umfrage von Agroscope.

7,5 Tage. Bei 3 Litern pro Tag bedeutet das 22,5 Liter Wasser. Das wären 2,5 Sixpacks aus 1,5-Liter-PET-Flaschen. Pro Person. Immer verfügbar daheim. Kann das sein?

Die Wissenschafter von Agroscope wollten es genauer wissen. Sie untersuchten auch, wie viel Wasser die Befragten tatsächlich tranken. Und siehe da: Die Studienteilnehmer lagen mit ihrer Einschätzung ziemlich daneben – zumindest dann, wenn man die vom BWL empfohlenen 3 Liter pro Tag und Kopf zum Massstab nimmt. Dann nämlich würde der Trinkwasservorrat der Befragten nur für 2,2 Tage reichen.

So weit will ich es nicht kommen lassen. Ich rechne damit, mindestens drei Tage lang autark leben zu müssen. Also zwei Sixpacks für mich allein. Eines mit und eines ohne Kohlensäure. Eines zum Trinken, und eines zum Kochen, Abwaschen, Zähneputzen. Und zum Wiederauffüllen der WC-Spülung.

Ob das reichen würde? Wohl kaum. Aber das macht nichts. Leitungswasser würde in der Stadt Zürich auch bei einem Blackout weiter fliessen.

Das Grundwasserwerk Hardhof in Altstetten verfügt über ein dieselbetriebenes Notstromaggregat; der dazu eingelagerte Vorrat an Treibstoff reicht für zwei Wochen. «Damit können wir problemlos 100 000 Kubikmeter Wasser pro Tag fördern und in die Reservoirs der Stadt hinaufpumpen», sagt Hans Gonella von der städtischen Wasserversorgung. In anderen Schweizer Städten funktioniert die Wasserverteilung in Notlagen nach einem ähnlichen Prinzip.

Der Hardhof gehört zur kritischen Infrastruktur von Zürich. Sollte der Strom tatsächlich länger als zwei Wochen ausfallen, würde das Grundwasserwerk zusätzlichen Treibstoff zukaufen, sagt Gonella. Weiter könnte Zürich auf 400 Quellbrunnen zurückgreifen, um den mittleren Tagesbedarf der Stadtbevölkerung von insgesamt 120 000 Kubikmetern Trinkwasser zu decken. Einzig vom Warmwasser müssten wir uns verabschieden. Ohne Strom kein Boilerbetrieb im Keller. Einzig mit der Restwärme im Tank ginge vielleicht noch was, für kurze Zeit.

Für mich bedeutet das: ein letztes Mal heiss duschen am Tag 1 meines Selbstversuchs. Danach dusche ich kalt. Oder ich wasche mich nur mit dem Lappen.

«Bitte bleiben Sie zu Hause, bis sich die Situation geklärt hat!»

Ein batteriebetriebenes Radio besitze ich nicht. Also würde ich bei einem Blackout wahrscheinlich auch nicht mitbekommen, was die Behörden oder allenfalls die Stadtpräsidentin Corine Mauch der Bevölkerung mitzuteilen hätten. Radio SRF ist in der Lage, den Sendebetrieb auch bei einem Blackout aufrechtzuerhalten, via eigene Notstromanlagen, auf UKW. Die Einsatzkräfte erreichen das Radiostudio über eine spezielle Funkverbindung, die auch in Krisenzeiten funktionieren muss.

Ich würde aber hoffen, dass das Mobilfunknetz nicht sofort zusammenbricht. Nicht um selber zu telefonieren (Anrufe zu Tausenden würden den Kollaps noch beschleunigen), sondern weil ich dann vielleicht doch noch eine wichtige Nachricht bekommen würde auf dem Smartphone: Es ist tatsächlich ein Blackout, in der ganzen Stadt, im ganzen Land – verschickt von Alertswiss, dem Notfall-Messenger des Bundes. Ich habe mir die App irgendwann heruntergeladen, wahrscheinlich in der Corona-Krise. Benutzt habe ich sie noch nie.

Und vielleicht würde ich die metallene Stimme eines Polizisten hören, draussen bei mir im Quartier. «. . . Stromausfall . . .», «Bitte bleiben Sie zu Hause, bis sich die Situation geklärt hat.» Und dann vielleicht noch irgendwas von «Notfalltreffpunkten». Die Stadtpolizei würde auch versuchen, die Menschen via Megafon zu informieren. Und zu beruhigen.

Einer, bei dem bei einem Blackout die Fäden zusammenlaufen, ist Markus Meile. Meile, 54 Jahre alt, drahtig-sportlicher Typ mit tiefem Ostschweizer Dialekt, ist Stabschef der städtischen Führungsorganisation. Wenn in Zürich die Lichter ausgehen, eilt er so rasch wie möglich ins Krisenzentrum im Amtshaus 1.

Dort, im Kommandoraum der Stadtpolizei am Bahnhofquai, versammeln sich Spezialisten der Polizei, der Feuerwehr, der verschiedenen städtischen Ämter und des Elektrizitätswerks. Sie tragen Anweisungen für die Einsatzkräfte auf den Strassen zusammen. Diese wiederum informieren Zürcherinnen und Zürcher, die in ihren auskühlenden Wohnungen sitzen. Dieselgeneratoren im Untergeschoss des Amtshauses sorgen für Licht, Strom und Wärme. Die Ladestationen der Polycom-Funkgeräte der Polizisten funktionieren.

Meile baut sein Büro in einen provisorischen Schlafplatz um. Der Stabschef muss nun 24 Stunden vor Ort sein. Und er käme ohnehin nicht mehr nach Hause an den Bodensee, zumindest nicht mit der Bahn, da keine Züge fahren.

Seit Jahren bereitet Meile die Stadt auf ein Szenario wie dieses vor. Es geht um viel. Er und seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sollen Unruhen, Plünderungen und Chaos verhindern. Eine kolossale Aufgabe, wenn die üblichen Kommunikationskanäle nicht zu gebrauchen sind.

Meile war einst Primarlehrer, später Stabschef im Planungsstab der Armee und bei einem regionalen Führungsstab. Dennoch versteht er sich eher als Moderator, der nicht befehlen, sondern vor allem kommunizieren will. «Ich bin wohl nicht so der typische Militärkopf», sagt er.

Der Stabschef galt lange als Schwarzmaler mit lästigen und teuren Konzepten für Fälle, die gar nie eintreten. Doch dann kamen die Flüchtlinge aus Syrien, dann die Corona-Pandemie. Und schliesslich der russische Angriffskrieg in der Ukraine und die Energiekrise. Plötzlich waren Meiles Konzepte keine weit hergeholten Planspiele mehr. Mittlerweile orientiert er den Stadtrat alle zwei Wochen über die Lage, gibt Empfehlungen ab und informiert über die nächsten Schritte.

Zuerst werden die Regionalwachen der Stadtpolizei mit einbezogen (City, Wiedikon, Mythenquai, Aussersihl, Industrie und Oerlikon). Diese Gebäude sind für den Notfall ausgerüstet – mit Dieselaggregaten, wie das Amtshaus 1. Innert einer Stunde müssen die Wachen eingerichtet sein, lautet die Vorgabe des Führungsstabs.

41 Notfalltreffpunkte in der ganzen Stadt

Doch diese Anlaufstellen allein reichen nicht. Meile sagt: «Es gäbe einen riesigen Auflauf.» Menschen, die nicht mehr weiterwissen. Die mit ihren Angehörigen Kontakt aufnehmen oder einen Notruf absetzen wollen. Die erfahren wollen, was eigentlich los ist. Die kaum etwas zu essen haben zu Hause, weil sie sich keinen Vorrat angelegt haben.

Als Nächstes müssen sogenannte Notfalltreffpunkte aktiviert werden. 41 sind es in der ganzen Stadt, sie befinden sich in Turnhallen. Auf der Website Notfalltreffpunkt.ch gibt es eine Karte mit allen geplanten Kontaktpunkten in Zürich und anderen Deutschschweizer Kantonen. Von meiner Wohnung aus wäre der nächste Treffpunkt im Schulhaus am Wasser, unten an der Limmat, 700 Meter von der Haustür entfernt.

Ob die Notfalltreffpunkte wie vorgesehen betrieben werden können, hängt davon ab, wie viele Zivilschützer es überhaupt zu ihrem Einsatzort schaffen. Meile sagt: «Wenn es uns noch gelingt, bieten wir die Leute telefonisch auf. Aber das braucht wahrscheinlich zu viel Zeit.» Irgendwann kann man nicht mehr telefonieren. Dem Stabschef bleibt deshalb vor allem die Hoffnung, dass genügend Zivilschützer selbständig einrücken, um die ihnen zugewiesenen Treffpunkte in Betrieb zu nehmen. Bis es so weit ist, dauert es nach Berechnungen der Stadtzürcher Spezialisten sechs Stunden.

Und dann?

Viele Menschen werden enttäuscht sein, wütend, verzweifelt. Denn an den Notfalltreffpunkten gibt es zwar Informationen, aber kein Essen.

Meile sagt: «Man kann nicht davon ausgehen, dass der Staat sofort in die Bresche springt.» Das Team des Stabschefs rechnet damit, dass es zwei bis vier Tage dauern würde, bis das Stromnetz nach einem grossflächigen Blackout wieder zuverlässig funktioniert. Bis dahin müsse jede und jeder allein zurechtkommen.

Will heissen: Der Notvorrat in Privathaushalten ist auch ein Puffer. Die Menschen sollen zu Hause bleiben und die ersten Tage von Konserven leben, damit sich Polizei, Zivilschutz, Detailhändler, die Strombranche, die wirtschaftliche Landesversorgung und weitere staatliche Stellen darauf konzentrieren können, das System wieder zum Laufen zu bringen.

Auch deshalb hofft der Stadtzürcher Stabschef auf Solidarität in der Bevölkerung. Meile glaubt fest daran, dass die Leute sich gegenseitig helfen werden. «Vielleicht wird es jemanden geben, der auf der Dachterrasse ein Barbecue veranstaltet für sich und seine Nachbarn. Mit dem Fleisch aus der Kühltruhe.»

Zuerst die Vorräte im Kühlschrank inspizieren

Bei mir im Gefrierfach hat es ebenfalls Fleisch: ein Kilogramm dieser schwedischen Hacktätschli, die früher Köttbullar hiessen und heute unter einem anderen Namen verkauft werden. Die wären am Abend von Tag 1 eines Stromausfalls sicher noch gut. Das wäre eine schöne Gelegenheit, meine Nachbarn aus dem oberen Stockwerk kennenzulernen. Sofern sie Fleisch essen. Ich wohne erst seit kurzem da. Ich würde sie zumindest fragen, ob ich ihnen einen Teller offerieren kann.

Ein ganzes Kilo Köttbullar! Wäre ja schade. Die Kühlelemente aus dem Eisfach könnte ich in die Kühltasche stecken und die Tasche aufs Fenstersims stellen über Nacht, fixiert zwischen Läden und Scheibe. Es ist ein kühler Herbsttag, knapp unter 10 Grad. So wären die Fleischbällchen vielleicht auch am nächsten Tag noch zu geniessen, als spätes Frühstück oder zum Mittagessen. Bei den Cherrytomaten im Kühlschrank habe ich keine Bedenken, zumal Tomaten im Laden auch nicht gekühlt werden. So lassen sich Notlagen angehen, ohne den Notvorrat anzurühren.

Die Aubergine hingegen würde ich bei einem echten Blackout gleich aufschneiden und anbraten. Den Zucchetto vielleicht auch, aber auch das ginge sicher noch am Tag 2 oder 3 meiner Notfall-Probe. Der Rucola-Salat drängt sich eher auf. Den gibt es sofort, geriebenen Parmesan dazu ebenfalls. Und als Beilage zu den Köttbullar: Nudeln und Tomatensauce aus dem Glas.

Das geht ganz gut mit dem Brennspritkocher, man muss nur etwas abwechseln zwischen Topf und Pfanne: zuerst Wasser aufsetzen für die Nudeln, dann die Pfanne über der Flamme platzieren und die Hacktätschli etwas anbraten. Dann die Nudeln ins kochende Wasser und schön al dente zubereiten. Und schliesslich wieder die Pfanne übers Feuer, um die Köttbullar fertig zu braten und die Tomatensauce kurz zu erhitzen. Kochhandschuhe verwenden! Der abnehmbare Griff der Pfanne wird ebenfalls heiss.

Ein Liter Brennsprit für drei Tage – ist das genug?

Zwischendurch muss ich nachfüllen: Die Flamme versiegt, bei grösseren Menus reichen 50 Milliliter Sprit nicht mehr. Ich habe eine Flasche gekauft: einen Liter Brennsprit, um drei Tage ohne Strom kochen zu können. Das ist weniger lang als vom Bundesamt für wirtschaftliche Landesversorgung empfohlen (Notvorrat für eine Woche). Aber selbst dieser kleine Blackout-Test bringt mich zwischendurch ins Grübeln, ähnlich wie beim Wasser:

Komme ich durch mit einem Liter Sprit? Reichen die beiden Batterien, die bei der Taschenlampe dabei waren, die ich mir gekauft habe, da meine alte nicht mehr funktionierte? Wie lange brennt eine Kerze?

Wäre ich im Ernstfall gar froh um eine dieser Power-Stations mit Solarpanel? Die nicht nur online oder in Baumärkten in der Agglomeration, sondern mittlerweile auch in Schaufenstern von Handyzubehör-Geschäften feilgeboten werden, mitten im Stadtzentrum? 300 Watt oder 500 Watt, für 450 oder 700 Franken je nach Anbieter. Die Solarpanels kosten extra. Dafür verspricht das Gerät «Xtreme Power».

Das klingt nach viel, ist aber wenig. Mit dem kleineren Modell kann man das Smartphone mehrmals aufladen, mit dem grösseren wahrscheinlich auch den Laptop. Und einen kleineren Kühlschrank für ein paar Stunden laufen lassen. Sofern die Sonne scheint. «Allzu viel kann man mit einem solchen Gerät nicht betreiben», sagt ein Verkäufer eines anderen Fachgeschäfts.

Das Handy aufladen? Den Laptop aufladen? Sicher ein Verkaufsargument. Aber wozu, wenn Internet und Telefonverbindung ausser Betrieb bleiben bei einem tagelangen Blackout?

Solche Überlegungen scheinen viele Menschen nicht zu kümmern. Der Onlinehändler Digitec Galaxus vermeldet eindrückliche Zahlen, gerade bei den Power-Stations: Im August 2022 wurden knapp 20-mal so viele Geräte verkauft wie im gleichen Zeitraum des Vorjahrs. Das entspricht einem Plus von 1810 Prozent. Campingkocher (plus 490 Prozent), Brennholz (plus 510 Prozent), Kerzen (plus 560 Prozent) und Solarpanels (plus 1040 Prozent) waren ebenfalls stark gefragt.

Das Thema Stromausfall bewegt. Viele Leute wollen offenbar vorbereitet sein. Auch mit Generatoren, die Benzin brauchen, Abgase produzieren und knattern wie ein Rasenmäher. «Wappnen Sie sich auf den kommenden Blackout!», heisst es in einer Anzeige auf Ricardo.ch. Ab 2290 Franken ist man bei diesem fabrikneuen Gerät dabei. Laufzeit mit einer ganzen Tankfüllung: bis zu 15 Stunden.

Der Survivaltrainer warnt vor Mäusen

Man kann sich auch beraten lassen von einem Profi. Gion Saluz ist hauptberuflicher Survivaltrainer. Er bietet auch Online-Kurse (für 120 Franken) und -Beratungen zum Thema Blackout an (für 242 Franken). Mit vielen Erklärvideos und umfangreichen Listen mit Dingen, die seiner Meinung nach unerlässlich sind. Zum Beispiel Schlafsack, Isoliermatten, Petrolheizkörper, Petrol zum Nachfüllen, Feuerlöscher, Löschdecke, Funkgeräte, Wasserfilter.

Wasserfilter? «Damit man Wasser aus dem Zürichsee entnehmen und selber aufbereiten kann», sagt der 44-Jährige.

Der Survivaltrainer vermittelt ein düsteres Bild. Er warnt zum Beispiel vor Mäusen im Haus. «Das wird eines der Hauptprobleme sein, wenn es länger dauert, bis der Strom wieder da ist», sagt Saluz. Zwei Wochen, drei Wochen, einen Monat – das könne durchaus sein. Daher lautet sein Rat: die Vorräte in Metallkisten lagern. Und Maus- und Rattenfallen anschaffen. Und für die Psyche: Instrumente, Musikdosen, Schnaps.

Soll ich mir einen Holzofen kaufen, wenn man ein Rohr verlegen könnte in meiner Wohnung? Saluz hält nichts davon. «Weil man Ihnen das Brennholz vor der Haustür klauen würde.» Man solle auch kein Feuer machen, wenn man ein Cheminée habe: Der Rauch aus dem Kamin könnte Plünderer anlocken.

Und meine Vorräte, soll ich die im Keller lagern? «Nur, wenn Sie einen Schrank haben, den Sie abschliessen können», sagt Saluz. Man wolle die Nachbarn schliesslich nicht wissen lassen, dass man vorgesorgt und womöglich etwas abzugeben habe.

«Der Mensch ist ein soziales Wesen» – auch in Notlagen

Das überzeugt mich nicht. Natürlich würde ich teilen. Schliesslich habe ich mehr als genug eingekauft für mich allein. Am zweiten Tag meines Selbstversuchs merke ich zudem, wie Körper und Geist herunterfahren: wenig Bewegung, wenig Appetit. Auch so lassen sich Vorräte sparen, sicher ist sicher. Aber meine Nachbarn würde ich trotzdem fragen, ob sie etwas brauchen könnten. Ich will nicht glauben, dass die soziale Ordnung bei einem Blackout kollabieren würde. Auch wenn Krisenmanager wie Markus Meile damit rechnen müssen: Stromausfall, Chaos, Panik, Plünderungen. Im Dunkeln ist jeder sich selbst der Nächste.

Aber ist das wirklich so?

Studien zeigen das Gegenteil. In kollektiven Notlagen helfen Menschen einander, statt auf den eigenen Vorteil aus zu sein. Notlagen führen zu einem neuen Gemeinschaftsgefühl – auch unter Menschen, die sich vorher nicht kannten. Das kann sogar beruhigend wirken. Zu diesem Schluss kommt ein britisches Forscherteam nach Gesprächen mit Überlebenden von Katastrophen.

«Der Mensch ist ein soziales Wesen», sagt Jan Häusser, Professor für Sozialpsychologie an der Universität Giessen. Diese Qualität versetze uns überhaupt in die Lage, potenziell bedrohliche Situationen zu überstehen. Das macht Hoffnung.

Keine Lust mehr auf Blackout-Modus

Andererseits muss ich sagen: Drei Tage Blackout sind mehr als genug. Es fühlt sich an wie ein Mini-Lockdown, nur ohne Internet, ohne Kommunikation. Das macht einsam. Ich habe zwar viel gelesen. Aber noch mehr bin ich herumgesessen und habe darüber nachgedacht, was ich als Nächstes kochen könnte. Auch wenn ich noch gar keinen Hunger hatte.

Am zweiten Abend gab es Rösti mit haltbarem Schmelzkäse überbacken, begleitet von Rüebli und Erbsli aus der Dose, und Fruchtsalat zum Dessert. Am dritten veganes Chili sin Carne und Reis, danach Apfelmus. Alles kein Problem. Selbst Brot kann man backen mit einem Campingkocher. Ich hätte einfach auf Backpapier verzichten sollen, das wird kohlrabenschwarz. Aber irgendwann hatte ich ohnehin keine Lust mehr auf Essen und Kochen im Notfall-Modus.

Und die Augen werden schnell müde im Kerzenschein und wenn man die ganze Zeit mit der Taschenlampe hantieren muss in der dunklen Wohnung. Ich bin froh, dass ich am Montagmorgen endlich wieder den Lichtschalter betätigen kann – und es schön hell wird.

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