Wie Moskau weiterhin Abnehmer findet

Westliche Staaten möchten Russland eine seiner wichtigsten Lebensadern abklemmen: den Export von Erdöl. Erfolglos. Moskau verschifft mehr Rohöl als zuvor. Eine Spurensuche.

Zwischen dem russischen Ostseehafen Ust-Luga und Mailiao auf Taiwan liegen rund 24 000 Kilometer auf dem Seeweg. Das ist mehr als die Hälfte des Erdumfanges. Genau diese Route hat der Tanker «NS Point» auf sich genommen – mit russischem Erdöl an Bord. Die Strecke ist ein ordentlicher Umweg, denn üblicherweise liegen die Zielhäfen für die Fracht aus der Ostsee in Europa.

Seit dem Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine haben sich jedoch die Handelsströme für Rohöl und Erdölprodukte aus russischer Produktion verändert, auch wenn nicht immer auf so extreme Weise. Die lange Fahrt der «NS Point» zeigt mehreres auf:

  • Russisches Erdöl findet weiterhin seine Käufer.
  • Der Preisabschlag für Rohöl aus Russland ist gegenüber anderen Erdölsorten hoch. Dadurch lohnen sich auch längere Strecken.
  • Asiatische Länder nehmen insgesamt mehr russisches Erdöl als vor der Invasion der Ukraine über den Seeweg ab.

Mithilfe von Daten der finnischen Nichtregierungsorganisation Centre for Research on Energy and Clean Air (Crea) lassen sich die Spuren von Tankern wie der «NS Point» nachvollziehen. Crea verfolgt dabei die Spur der Frachter mithilfe von Schiffsnavigationssystemen.

Am 20. April verliess der Tanker, der Erdöl und chemische Produkte laden kann, den russischen Ostseehafen Ust-Luga. Die «NS Point» gehört einer Tochtergesellschaft der staatlichen russischen Reederei Sovcomflot und fährt unter liberianischer Flagge. Die Vermutung liegt nahe, dass der Tanker russisches Erdöl geladen hat. Nach einem kurzen Aufenthalt vor der estnischen Insel Nargen ging es weiter in die Ostsee und den Ärmelkanal und an Frankreich vorbei bis nach Malpica an der spanischen Nordküste. Hier hielt das Schiff.

Die Pause währte nur wenige Stunden. Es ging weiter durch die Strasse von Gibraltar zum Suezkanal, dem Tor für Schiffe nach Asien. Danach fuhr der Tanker durch den Indischen Ozean, durchquerte die Strasse von Malakka, ein weiteres Nadelöhr der internationalen Schifffahrt, und erreichte nach 42 Tagen den Bestimmungshafen Mailiao auf Taiwan. Einige Zeit später befand sich das Schiff auf Fahrt in Richtung Suezkanal. Es war eine der längsten Schiffsrouten, die von Crea dokumentiert wurden.

Der Tanker «NS Point» und seine lange Reise sind aber nur ein Mosaikstein in einem Bild, das alarmiert: Die USA und Kanada haben Importverbote für russisches Erdöl erlassen. Grossbritannien will bis Ende des Jahres auf Öl aus Russland verzichten. Das sechste Sanktionspaket der EU sieht ebenso ein Auslaufen der Erdöleinfuhren aus Russland bis Ende des Jahres vor. Dennoch exportiert Moskau so viel Rohöl wie schon lange nicht mehr. Bei den Erdölprodukten wie Benzin oder Diesel hingegen ist ein Rückgang sichtbar.

Verschiebung der Handelsströme

In den ersten 100 Tagen seit der Invasion verdiente Russland laut Crea rund 46 Milliarden Euro mit dem Export von Rohöl und gut 93 Milliarden Euro mit der Ausfuhr aller fossilen Brennstoffe.

Im April und im Mai betrugen die über den Seeweg transportierten Rohölmengen aus Russland 3,3 Millionen Fass pro Tag. «Das ist so hoch wie letztmals im Juni 2019», sagt Viktor Katona von der Datenanalysefirma Kpler. Dabei sind die Importe im nordwestlichen Europa stark gesunken.

Weil in der EU noch keine umfassenden Sanktionen in Kraft sind, ist dies auf Eigensanktionen innerhalb der Branche zurückzuführen. Manche Unternehmen fürchten Reputationsrisiken. Dies wurde jedoch durch vermehrte russische Exporte nach Süd- und Südosteuropa, Indien, China und in die Türkei mehr als ausgeglichen. Daten des Analysehauses Vortexa zeigen dies auf.

Russisches Erdöl findet neue Abnehmer

Russische Rohölexporte*, in Fässern pro Tag (4-Wochen-Durchschnitt)

(in Millionen)

Nordwesteuropa/Grossbritannien

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Beginn der russischen Invasion (24. Februar 2022)

Warum ist das so? Der Handel mit russischem Erdöl hat sich doch verteuert und wurde risikoreicher, sollte man meinen. Die derzeitigen Abnehmer sehen derzeit vor allem einen grossen Vorteil: Russisches Erdöl ist günstig zu haben. Die russische Rohölsorte Urals ist um mehr als 34 Dollar je Fass billiger als Öl der Sorte Brent aus der Ostsee. Auf dieser beruht der Referenzpreis für den globalen Erdölmarkt. Damit kostet Urals gut 30 Prozent weniger als Brent. Üblicherweise ist der Preisabstand viel geringer. Es kommt hinzu, dass das Angebot an Öl derzeit angespannt ist und die Raffineriemargen hoch sind. Es ist einfach: Der Kauf russischen Erdöls lohnt sich in vielen Fällen.

Auf nach Asien

Russland profitiert dabei übermässig. Auch wenn zeitweise die Exportmenge für Rohöl und Erdölprodukte zurückgegangen und der Preisabschlag gross ist: Wegen des stark gestiegenen Weltmarktpreises für Erdöl verdiente Russland im Mai mehr als ein Jahr zuvor, wie eine Analyse von Crea zeigt. Ob das immer noch gilt, ist allerdings unwahrscheinlich. Im Juni sind die Mengen weiter zurückgegangen.

Höhere Einnahmen trotz Preisnachlass und etwas geringerer Nachfrage

Veränderung von Russlands Einnahmen durch Exporte fossiler Energieträger zwischen Mai 2021 und Mai 2022, in Mio. € pro Tag

Besonders Indien schlägt neuerdings kräftig zu. Indische Raffinerien hatten vor der Invasion im Februar knapp 1 Prozent der russischen Rohölausfuhren abgenommen. Im Mai waren es laut Crea 18 Prozent. Der grösste Käufer ist offenbar die Raffinerie Jamnagar an der Westküste Indiens, die zum Konglomerat Reliance Industries gehört. Im Mai kamen rund 27 Prozent der Lieferungen aus Russland, im April betrug der Anteil nur 5 Prozent. Jamnagar gilt dabei als die weltweit grösste Raffinerie. Sie ist über den nahe gelegenen Hafen von Sikka mit dem globalen Markt verbunden.

Die russischen Erdöllieferungen nach Indien haben sich seit der Invasion mehr als versiebenfacht

Schiffslieferungen von Rohöl von Russland nach Indien, in Tonnen

(in Millionen)

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Beginn der russischen Invasion (24. Februar 2022)

Die Fahrt der «Eurovision» zeigt dies auf. Nachdem der Erdöltanker im bereits erwähnten Ostseehafen Ust-Luga beladen worden war, fuhr das Schiff am 26. April von dort los und nahm Kurs auf den Suezkanal und dann auf Sikka an der Westküste Indiens. Der Tanker, der unter der Flagge der Bahamas fährt, gehört zur griechischen Reederei Tsakos Group, die laut Website über eine Flotte von 98 Frachtschiffen verfügt. Der Verdacht liegt nahe, dass russisches Rohöl zur Verarbeitung nach Indien geliefert wurde.

«Die indischen Raffinerien möchten die Erdölprodukte so nah wie möglich verkaufen. Wenn der Preisunterschied gross genug ist, wird Benzin oder Diesel aber auch in entfernteren Regionen angeboten», sagt Andrei Ilas, ein Berater von Crea. Eine solche Lieferung von Diesel oder Benzin dürfte das Beispiel des Tankschiffes «Konstantin Jacob» sein.

Am 17. Mai verliess der Erdöltanker den Hafen Sikka. Das Schiff fuhr durch den Suezkanal, die Strasse von Gibraltar, über den Atlantik und erreichte New York und New Jersey gut einen Monat später. Die «Konstantin Jacob» ist registriert in Liberia und gehört zur norddeutschen Jacob-Gruppe, die eine Flotte von zehn Schiffen hat. Der Tanker hat derzeit die Richtung Gibraltar eingeschlagen.

Die Analytiker von Crea sagen, dass sie nicht unmittelbar nachweisen könnten, dass die in die USA gelieferten Erdölprodukte aus russischem Rohöl hergestellt worden seien. Sie können aber mit ihren Daten ungewöhnliche Geschäftstätigkeiten und unübliche Schiffsrouten entdecken. Dies legt nahe, dass indische Raffinerien auch vermehrt Erdölprodukte nach Europa verkaufen.

Die Internationale Energieagentur (IEA) schätzt, dass in den vergangenen Monaten Indien gar Deutschland als den bisher zweitgrössten Importeur überholt hat. Das Land, das am meisten russisches Erdöl abkauft, bleibt China. Rund 800 000 Fass pro Tag werden per Pipeline transportiert. Chinesische Unternehmen steigerten nun auch die Lieferungen per Schiff.

China bezieht am meisten Erdöl von Russland

Die grössten Importeure von russischem Öl in den ersten 100 Tagen seit Kriegsbeginn, in Euro

(in Milliarden)

«Derzeit scheint es so, dass die Transporte nach Asien den Höhepunkt bereits überschritten haben», sagt David Wech von Vortexa. Offenbar ist der Preisabschlag für manche indische Raffinerien nicht mehr attraktiv genug. Es könnte auch sein, dass sich mehr europäische Abnehmer finden lassen, weil jetzt klar ist, dass Importe noch bis Dezember möglich sind. Denn in der Regel versuchen Verkäufer, Käufer in der Nähe zu finden, auch um die Transportkosten zu minimieren.

Tanker sind wenig versteckt

Häufig wird die Situation mit den amerikanischen Sanktionen gegen die Petro-Staaten Iran oder Venezuela verglichen. Diese Länder versuchen, ihre Ölverkäufe im Geheimen durchzuführen: Dabei schalten die Erdöltanker ihr Routen-Kontrollgerät aus, um unerkannt zu bleiben, oder es wird Erdöl von einem Schiff auf ein anderes umgeladen, um Spuren zu verwischen. Viele der Experten sagen aber, dass die Tanker mit russischem Erdöl sich derzeit nicht verstecken, zumal vor allem die EU-Sanktionen noch nicht voll in Kraft sind. So dürften die hier beschriebenen Tankerrouten auch nicht gegen bestehende Sanktionsvorschriften verstossen.

Die Datenanalysefirma Kpler schätzt, dass es zu keinen substanziellen Veränderungen gekommen ist, wie russisches Erdöl transportiert wird. Wie schon vor der russischen Invasion ist bei rund 12 Prozent aller Schiffe, die russisches Rohöl geladen haben, am Ende eines Monats der Zielort zunächst unbekannt. Manchmal geben die Tanker auch vorübergehende Destinationen wie Rotterdam oder Augusta in Italien an, bevor sie durch den Suezkanal fahren. «Am Ende können wir aber die Routen aller Tanker nachvollziehen», sagt Katona von Kpler überzeugt.

Die Sanktionen und Eigensanktionen mancher Händler hinterlassen jedoch ihre Spuren, was die verwendeten Schiffsgrössen betrifft. Üblicherweise werden Supertanker, VLCC genannt, genutzt, wenn Erdöl von Europa nach Asien gebracht wird. VLCC können rund 2 Millionen Fass transportieren. Sie sind aber zu gross, um durch den Suezkanal fahren zu können. Sie umschiffen Afrika, um nach Indien, China oder Japan zu gelangen.

«Derzeit werden kleinere Schiffsklassen wie Aframax oder Suezmax für den Transport nach Asien verwendet», sagt Wech von Vortexa. Dies könnte auch damit zusammenhängen, dass nicht mehr die grossen Rohstoffhändler die Verschiffungen durchführen, sondern kleinere Unternehmen, die eine weniger umfangreiche Fracht leichter finanzieren können.

Versicherungsverbot der EU

Offenbar wird auch vermehrt ein direkter Handel zwischen russischen Exporteuren und asiatischen Importeuren beobachtet. Zudem etablieren sich neue Erdölhändler. Durch die neuen Handelsströme verlängert sich die Zeit, die russisches Erdöl «auf dem Wasser» ist, was den Transport auch teurer macht. Laut Vortexa hat dadurch das Volumen an russischem Öl, das derzeit mit Schiffen unterwegs ist, gegenüber dem Jahresbeginn stark zugenommen.

Den EU-Staaten ist diese Entwicklung auch nicht entgangen. Bis die Sanktionen gegen Ende des Jahres tatsächlich Auswirkungen zeigen werden, könnte der Handel mit russischem Erdöl sehr rege sein. Im Rahmen des G-7-Gipfels stimmten die grössten westlichen Industriestaaten deshalb auch zu, einen Weg für einen Preisdeckel für russisches Erdöl zu finden. Denn der Westen steht vor einem Dilemma: Wenn die Sanktionen spät und schwach kommen, sind sie wirkungslos. Wenn die Massnahmen aber greifen, steigt der Weltmarktpreis für Erdöl.

Im sechsten Sanktionspaket der EU ist auch die Regelung enthalten, dass Unternehmen innerhalb der Mitgliedsländer den Schiffstransport von russischem Erdöl nicht mehr versichern dürfen. Das Vereinigte Königreich will sich diesem Verbot anschliessen, genauso wie Norwegen und die Schweiz. Ein generelles Verbot für EU-Reedereien, russisches Erdöl zu verschiffen, scheiterte am Widerstand von Griechenland, Malta und Zypern.

Umgehungsversuche Russlands

Der überragende Anteil der weltweiten Schiffsversicherungen läuft aber über Versicherungsmärkte in London und in der EU. Deshalb könnte dies einschneidende Auswirkungen haben. In mancher westlichen Hauptstadt wird befürchtet, dass diese Sanktion zu wirksam ist. Deshalb gibt es Überlegungen, das Versicherungsverbot mit einem Preisdeckel zu verbinden: Solange das russische Erdöl zu einem bestimmten niedrigen Preis verkauft wird, kann der Schiffstransport noch versichert werden. Wie praktikabel dies ist, steht noch in den Sternen.

Moskau schläft jedoch nicht: Die russische Regierung erklärte bereits, sie werde über eine staatliche Gesellschaft Rückversicherungen garantieren. So soll bereits die gesamte Flotte der staatlichen Reederei Sovcomflot von russischen Unternehmen versichert worden sein. Fraglich ist jedoch, ob Russland tatsächlich die notwendigen Kapazitäten zur Verfügung stellen kann.

«Eine Möglichkeit ist auch, dass die Opec-Mitgliedsländer wie die Golfstaaten oder Iran einen Versicherungspool gründen», spekuliert Andreas Krebs vom österreichischen Versicherungsbroker Greco International. Besonders Iran hat schon einige Erfahrungen, wie Erdöltanker ausserhalb des westlichen Systems versichert werden können. Dennoch dürfte der Transport russischen Erdöls wegen des europäischen Versicherungsverbots teurer werden, zumal sich auch die Anzahl Tanker, die Öl aus Russland zu transportieren gewillt sind, verringern wird.

Neue Erdölhändler tauchen auf

Zu einem Wandel kommt es auch bei den Rohstoffhändlern, die den Transport und den Verkauf organisieren. Grosse Akteure wie Trafigura, Vitol, Gunvor oder Glencore, die auch aus der Schweiz heraus operieren, ziehen sich allmählich aus dem Geschäft mit Russland zurück. In die Lücke treten kleinere und neue Unternehmen, deren Aktivitäten schwieriger nachzuvollziehen sind.

In Medienberichten tauchen obskure Firmen wie Bellatrix oder Sunrise oder etabliertere Namen wie der Genfer Händler Paramount oder Coral Energy auf. Coral hat enge Verbindungen nach Russland, ein Büro in Genf und den Hauptsitz in Dubai. Der Golfstaat dürfte ohnehin noch mehr Rohstoffhändler anziehen, zumal die in der Schweiz angesiedelten Handelsunternehmen russischer Erdölfirmen wie Rosneft und Lukoil durch die Sanktionen bedrängt werden.

Text: Gerald Hosp. Osint: Forrest Rogers. Datenrecherche: Florian Seliger. Visualisierung der Schiffsrouten: Roland Shaw. Entwicklung: Nicolas Staub.

Quellen zum Bildmaterial: NS Point: DJI of Jurgen / Youtube; Eurovision: Aleksi Lindström; Konstantin Jacob: Jacob Shipping.

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