Wie schlimm ist die Lebensmittelkrise?


Die neusten Entwicklungen

Weltweit sind rund 400 Millionen Menschen auf Lebensmittel aus der Ukraine angewiesen. Wegen des russischen Angriffskriegs gerät die Versorgung ins Wanken, Experten warnen vor neuen Hungersnöten. Wie schlimm ist die Nahrungsmittelkrise?

Ein russischer Soldat durchstreift ein Weizenfeld in der Ukraine.

Imago/Alexey Maishev / www.imago-images.de /

Die neusten Entwicklungen:

  • Das Problem der blockierten Getreideexporte wird nach Einschätzung des EU-Aussenbeauftragten Josep Borrell gelöst werden. «Wir kommen voran und (…) ich bin mir sicher, dass die Vereinten Nationen am Ende eine Einigung erzielen werden», sagte der Spanier am Montag (20. 6.) bei einem EU-Treffen zu den Verhandlungen insbesondere mit Russland und der Ukraine. Es sei unvorstellbar, dass Millionen Tonnen Weizen in der Ukraine noch immer blockiert seien, während im Rest der Welt Menschen Hunger litten. Zum Zeitpunkt einer möglichen Einigung sagte Borrell, er könne sich nicht vorstellen, dass es noch viel länger dauern werde. Wenn doch, werde Russland dafür verantwortlich sein. Die Blockade von Getreideexporten sei ein «echtes Kriegsverbrechen». 
  • Rumänien ist mit dem ukrainischen Getreideexport überfordert. Das Land, das als Ausweichroute für die Lieferungen dienen soll, weist dafür nicht die ausreichende Infrastruktur aus. Wie die Nachrichtenagentur DPA am Montag (20. 6.) berichtete, bezeichnete Staatspräsident Klaus Iohannis dieses Problem als «logistische Herausforderung von epischem Ausmass». Seit Beginn des Ukraine-Krieges bis Anfang Juni hätten 15 Schiffe mit insgesamt 242 000 Tonnen ukrainischen Getreides die rumänische Hafenstadt Constanta verlassen. Das wären gerade einmal 1,21 Prozent der 20 Millionen Tonnen Getreide der Ernte aus dem Vorjahr, welche die Ukraine derzeit exportieren will.

Warum gefährdet der Krieg die globale Lebensmittelversorgung?

Russland und die Ukraine spielen im internationalen Handel mit Lebensmitteln eine wichtige Rolle. Fast 30 Prozent der weltweiten Weizenexporte stammen üblicherweise aus der Schwarzmeerregion.

Der Anteil der Ukraine am weltweiten Handel mit Weizen betrug laut der Uno-Organisation für Handel und Entwicklung im Jahr 2020 8 Prozent. Bei Mais waren es 13 Prozent, bei Sonnenblumenöl und Saatgut sogar 32 Prozent. Insgesamt ernähren diese Produkte laut dem Direktor des Welternährungsprogramms 400 Millionen Menschen.

Ukrainische Produkte ernähren Millionen von Menschen

Gesamte Exportmenge für das Jahr 2021

Ukrainische Produkte ernähren Millionen von Menschen - Gesamte Exportmenge für das Jahr 2021

Die Kriegshandlungen in der Ukraine verunmöglichen die Ausfuhr des Getreides. Offenbar ist der Kreml gewillt, Lebensmittellieferungen als Pfand für eine Lockerung der westlichen Sanktionen zu verwenden.

Mehr als 250 Millionen Menschen stehen bereits jetzt am Rande einer Hungersnot. Die hohen Kosten für Grundnahrungsmittel haben die Zahl derer, die fürchten müssen, nicht genug zu essen zu haben, bereits um 440 Millionen auf 1,6 Milliarden steigen lassen.

Wie ist die Situation in der Ukraine?

Ende Juni beginnt in der Ukraine die Weizenernte. Laut Schätzungen des ukrainischen Staates und von Agrarfirmen werden rund 20 Millionen Tonnen Weizen anfallen. Im vergangenen Jahr waren es 32 Millionen Tonnen gewesen. Die Menge ist gesunken, weil Felder vermint sind oder der Krieg die Bestellung verhinderte.

Rund 10 Millionen Tonnen Weizen benötigt die Ukraine, um die eigene Bevölkerung zu versorgen. Für den Export stehen somit 10 Millionen Tonnen zur Verfügung. Die ukrainischen Agrarunternehmen und Bauern bangen um ihre Existenz. Während gewisse Kosten weiterlaufen, sind die Einnahmen stark geschrumpft. Die Ernte muss dringend verkauft werden.

Doch momentan steckt weiterhin ein grosser Teil der vergangenen Ernte in den Silos fest. Weil es kaum Platz gibt für die nächste Ladung, müssen die Lagerbestände schnellstmöglich aus dem Land gebracht werden. Doch das ist derzeit nicht möglich.

Welche Möglichkeiten gibt es, Getreide zu exportieren?

Traditionell hat die Ukraine 90 Prozent der Getreideausfuhren über die Häfen am Schwarzen Meer exportiert. Aber nun sind die Häfen teils zerstört, teils von der russischen Marine blockiert. Zudem gefährden Seeminen, die von Russland und der Ukraine verlegt worden sind, die Schifffahrt.

Eine Lösung wäre, das Getreide mit der Eisenbahn oder mit Lastwagen in den Nachbarstaat Polen zu transportieren und von dort weiter zu verteilen, etwa über den Hafen von Danzig (Gdansk). Damit sind aber viele Hürden verbunden. Erstens ist Benzin in der Ukraine knapp und entsprechend teuer.

Zweitens hat die Eisenbahnlogistik vergleichsweise geringe Kapazitäten. Das ukrainische Schienennetz weist zum grossen Teil Breitspur auf. Die Ware muss also an der Grenze umgeladen werden, was den Transport ebenfalls verteuert.

Als Alternative zu Polen bietet sich der Export über Rumänien an. Doch auch dort ist die Kapazität der Verkehrsinfrastruktur viel zu gering. Zudem beklagen Logistiker die schleppende Abwicklung an den Grenzübergängen. Im Mai hat die Ukraine auf dem Landweg rund 1,5 Millionen Tonnen Getreide in die EU ausgeführt. Laut Angaben der Regierung ist eine Steigerung auf 2 bis 3 Millionen Tonnen möglich. In normalen Zeiten exportiert das Land allerdings 10 Millionen Tonnen Getreide über die Häfen.

Die internationale Staatengemeinschaft ruft Russland dringend dazu auf, die Häfen freizugeben. Eine rasche Lösung ist jedoch nicht absehbar. Das Problem der Gefährdung durch Seeminen würde ohnehin bestehen bleiben. In der Ukraine ist die Rede davon, dass es sechs Monate dauern würde, die Minen zu räumen.

Was passiert mit den russischen Weizenlieferungen?

Die Situation dürfte sich zusätzlich verschärfen, weil vielleicht auch russische Exporte teilweise ausfallen. Russland ist vor der gesamten EU der grösste Exporteur von Weizen. Für die laufende Periode 2021/2022 erwartet das amerikanische Landwirtschaftsministerium Weizenexporte im Umfang von 33 Millionen Tonnen.

Direkte westliche Sanktionen gegen Getreidelieferungen aus Russland gibt es derzeit nicht. Vielmehr hatte Moskau bereits vor einiger Zeit eine Exportsteuer für Weizen und Quoten eingeführt, um den Preis im Inland besser zu kontrollieren. Zusätzlich verhängte Russland bis zum 30. Juni einen Exportstopp für Weizen, Roggen, Gerste, Mais und Mischgetreide für die anderen Länder der Eurasischen Wirtschaftsunion (Kasachstan, Armenien, Kirgistan und Weissrussland).

Schwerer wiegen derzeit die Reputationsrisiken für westliche Agrargüterhändler und Banken. Offenbar besteht die Sorge, dass Lieferungen russischer Lebensmittel nach Afrika als Unterstützung für den Krieg in der Ukraine wahrgenommen würden. Westliche Finanzinstitute haben sich zudem weitgehend aus dem Geschäft zurückgezogen, und die meisten russischen Banken unterliegen Sanktionen der USA oder der EU. Inzwischen hat sich auch die Uno eingeschaltet, die mit Moskau über erleichterte Exporte von Getreide und Dünger Gespräche führte.

Russland und die Ukraine sind bei landwirtschaftlichen Produkten wichtige Exporteure

Anteil an den weltweiten Exporten in verschiedenen Produktkategorien, in Prozent, 2020

Welche Länder sind besonders betroffen?

In Südostasien zählen Vietnam, Indonesien und die Philippinen zu den grössten Importeuren von russischem und ukrainischem Weizen. Da Weizen dort aber nur einen geringen Teil des Kalorienbedarfs deckt, können die Ausfälle etwa mit Reis gut ersetzt werden. Anders sieht es in Afrika und im Nahen Osten aus. Dort wird ein Grossteil des täglichen Nahrungsbedarfs mit Brot gedeckt. Gleichzeitig beziehen die Länder der Region einen Grossteil ihrer Weizenimporte aus Russland und der Ukraine.

Die Ukraine exportiert Weizen in die ganze Welt

Die Ukraine exportiert Weizen in die ganze Welt

Je nach Nation kämen die Importe zu 50 oder sogar bis zu 90 Prozent aus der Schwarzmeerregion, erklärt John Baffes, Landwirtschaftsökonom bei der Weltbank. Das habe einen einfachen Grund: die geografische Lage. Ägypten, der weltweit grösste Weizenimporteur, bezieht mehr als 80 Prozent seines Bedarfs aus Russland und der Ukraine. In Libyen machen Lieferungen aus der Ukraine 43 Prozent der Weizenimporte aus, in Jemen 23 Prozent.

Die ärmsten Länder der Region trifft der Ausfall der Lieferungen besonders hart. Denn auch der Weizen, den das Welternährungsprogramm der Uno (WFP) in von Hunger bedrohten Ländern verteilt, stammte bisher zur Hälfte aus der Ukraine. Die grössten Operationen des WFP finden zurzeit in Jemen, Afghanistan, Syrien und Äthiopien statt. Laut WFP laufen weltweit 276 Millionen Menschen Gefahr zu verhungern. Die drohende Nahrungsmittelkrise könnte ihre Zahl um 47 Millionen erhöhen.

Russland und die Ukraine liefern einen grossen Teil der Nahrungsmittel für das Welternährungsprogramm

Die 10 wichtigsten Herkunftsländer für das Welternährungsprogramm im Jahr 2020, Nahrungsmittel in Tonnen

(in Tausend)

Welche Faktoren verschärfen die Lebensmittelkrise zusätzlich?

Nicht nur die fehlenden Getreideexporte drohen den Hunger auf der Welt zu verstärken. Weitere Faktoren tragen zu einer Verschärfung der Situation bei.

Hitze und Dürre

Schon vor der russischen Invasion in der Ukraine hatte das Welternährungsprogramm davor gewarnt, dass 2022 ein schwieriges Jahr werden würde. China, der weltweit grösste Weizenproduzent, erklärte, dass die diesjährige Ernte die schlechteste aller Zeiten sein könnte, nachdem Regenfälle die Aussaat im vergangenen Jahr verzögert hatten. Hinzu kommen die extremen Temperaturen in Indien, dem zweitgrössten Weizenproduzenten der Welt. Das Land hat bereits einen Exportstopp ausgesprochen.

Auch in anderen Anbauländern droht der Mangel an Regen die Erträge zu schmälern – von Amerikas Weizengürtel bis zur französischen Region Beauce. Das Horn von Afrika wird derzeit von der schlimmsten Dürre seit vier Jahrzehnten heimgesucht. Der Vorsitzende der Afrikanischen Union, der senegalesische Präsident Macky Sall, hat zu bedenken gegeben, der Getreideertrag auf dem Kontinent könnte in diesem Jahr um 20 bis 50 Prozent zurückgehen.

Düngemittel

Für die Ernährung der Weltbevölkerung sind Düngemittel unerlässlich. Nährstoffe wie Stickstoff, Phosphor und Kalium spielen eine wesentliche Rolle für die Steigerung landwirtschaftlicher Erträge. Bei allen drei Düngerarten ist Russland einer der führenden Exporteure.

Zusammen mit Weissrussland war das Land 2019 für rund 40 Prozent der weltweiten Kaliexporte verantwortlich. Die russischen Kalisalzhersteller unterliegen im Gegensatz zum weissrussischen Produzenten Belaruskali zwar keinen direkten Beschränkungen, die vom Westen verhängten Sanktionen gegen das russische Bankensystem erschweren jedoch den Handel.

Russland und Weissrussland zählen zu den grössten Kaliproduzenten

Weltmarktanteil der grössten Anbieter von Kali, 2020, in Prozent

Auch der Stickstoff, der für die Herstellung von Harnstoffdünger nötig ist, kommt zu grossen Teilen aus Russland, weil dort günstiges Erdgas verfügbar ist. Zugleich sind vor allem europäische Düngerhersteller auf Erdgas aus Russland angewiesen. Die steigenden Erdgaspreise verteuern die Produktion von Dünger ausserhalb Russlands in erheblichem Masse.

Exportbeschränkungen

Hinzu kommt, dass wegen der angespannten Lage und der Preissteigerungen einige Länder Exportbeschränkungen verhängt haben, um die eigene Versorgung sicherzustellen. Neben Russland haben auch Ägypten, Kasachstan, Kosovo und Serbien die Ausfuhr von Weizen verboten. Insgesamt unterliegen laut dem International Food Policy Research Institute derzeit rund 10 Prozent der gehandelten Kalorien Lieferbeschränkungen. Sollten weitere solche Massnahmen folgen, dürfte das die Lage in den Importländern zusätzlich verschärfen.

Warum ist der Weizenpreis so stark gestiegen?

Der Preis für Weizen ist seit Anfang des Jahres um fast 60 Prozent gestiegen. Die letzten Phasen, in denen Agrargüterpreise dermassen stark kletterten, betrafen die Zeit der Finanzkrise 2007/2008 und die Jahre 2011 und 2012.

Wie heute waren auch damals hohe Energiepreise, die die Produktionskosten in der Landwirtschaft in die Höhe trieben, und protektionistische Massnahmen mancher Länder wichtige Preistreiber. Ein grosser Unterschied liegt aber darin, dass derzeit der Schock eines verknappten Angebots vorliegt – und nicht ein Nachfrageschock wie vor der Finanzkrise.

Weizen so teuer wie nie

Preis in US-Dollar pro Scheffel

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Invasion der Ukraine (24. Februar 2022)

Wie geht es jetzt weiter?

Zu Beginn der Krise waren die globalen Nahrungsmittelvorräte glücklicherweise recht hoch. Nun geht es darum, das Angebot an Energie, Dünger und lokalen Lebensmitteln zu erhöhen, vor allem beim Saatgut und in Afrika. Am wichtigsten bleibt aber der Abbau von Einfuhr- und Ausfuhrschranken, vor allem die Aufgabe der russischen Seeblockade.

Derweil sind Alternativen in Sicht: Die USA und Australien könnten den Verlust des ukrainischen Weizens über die Zeit ausgleichen. Agrarexperten rechnen damit bis zum Jahresende, für die von Hunger bedrohten Länder sogar schon in dieser Saison. Infolge der längeren Lieferwege dürften damit aber deutlich höhere Preise einhergehen. Allgemein werden die Preise für Weizen hoch bleiben, auch wegen der gestiegenen Energie- und Düngerkosten. Das WFP hat deswegen zu mehr finanziellen Mitteln für die von Armut betroffenen Regionen aufgerufen.

Daten: Florian Seliger. Gestaltung, Infografik: Anja Lemcke.

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