Wie sich ein neuer Glaube ans Universum ausbreitet

Manifestiere, denn das Universum hört zu: Wie eine neue Welle von Spiritualität in einer aufgeklärten Gesellschaft Einzug hält.

Spiritualität liegt im Trend – auch in gut gebildeten Kreisen.

Sandro Bisaro / Moment RF / Getty

Jeden Morgen im Mai schreibt sich Amanda Nold, 24, einen Satz in die Notizen auf ihrem Handy.

Wir bekommen die Stadtwohnung in Zürich im Kreis 3.

Sie tut das insgesamt drei Mal.

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«Und dann», sagt sie, «glaube ich einfach fest daran, dass wir dort wohnen werden.»

Nold hat soeben ihren Bachelor in Jura abgeschlossen. Nun will sie mit einer Freundin in die Stadt ziehen. Soeben haben sie sich für eine Wohnung beworben. Doch in Zürich, wo der Wohnraum knapp ist und die Mieten hoch sind, reicht das nicht. Deshalb manifestiert Amanda Nold jeden Tag, damit sie die Zusage erhält.

Unter «manifestieren» verstehen Manifestierende wie Nold: sich Glaubenssätze, sogenannte Affirmationen, immer wieder zusprechen, als wären sie bereits eingetroffen. Befolgt man dabei gewisse Regeln, so die Überzeugung, wird sich das Erwünschte schliesslich in der Realität zeigen, oder eben manifestieren.

Nold bezeichnet sich als «leicht abergläubig, aber keineswegs esoterisch». Sie trägt vor wichtigen Terminen schwarze Jeans und ein schwarzes Shirt, weil ihr dies schon zuvor Glück gebracht habe. Dann stösst sie auf ein Tiktok-Video, das ihr erklärt, wie man manifestiert. Als sie im Frühling dieses Jahres vor den Bachelor-Prüfungen ihres Jurastudiums steht, erinnert sie sich an das Video. Sie beschliesst, es auszuprobieren.

«Ich bestehe alle Prüfungen dieses Semesters.» Wieder und wieder tippt sie diese Worte in ihr Handy. Wochen später weiss sie: Sie hat alles bestanden. «Da war mir klar: Ich habe zwar viel gelernt. Aber das kann nicht nur an mir gelegen haben.»

Man könnte nun darüber streiten, wie abergläubig solche Handlungen anmuten. Unbestritten aber ist: Nold ist nicht allein. Das Manifestieren ist längst Teil der Pop-Kultur. Die Sängerin Ariana Grande sagt, sie habe sich ihre Karriere manifestiert, das Model Cara Delevingne gibt an, sich gerade ihr künftiges Baby zu manifestieren, und auch die Talkmasterin Oprah Winfrey will ihre Rolle in «The Color Purple» manifestiert haben. «Du kannst deine eigene Realität tatsächlich durch die Art und Weise, wie du denkst, verändern», sagte Winfrey 2007 in einem Interview mit Larry King. Influencer teilen diese Testimonials mit ihrem Millionenpublikum auf Social Media. Videos mit dem Hashtag #manifestation sind auf Tiktok bereits über 8 Milliarden Mal angeschaut worden. Auch Instagram und Youtube sind gesättigt. Über Accounts wie «Mel Robbins» (430 000 Follower auf Tiktok, 1,3 Millionen auf Youtube) oder «Manifestation Babe» (340 000 Follower auf Instagram und 3 Millionen Podcast-Downloads) ist der Trend bei Menschen fernab der klassischen Esoterikszene angekommen.

Wie also kommt es, dass sich Menschen in einer durchwegs säkularen Welt wieder zunehmend zum Transzendenten hinwenden?

Das Geheimnis des Lebens und wer davon gewusst haben soll

Es war 2006, als Manifestationen erstmals eine grössere Bühne erhalten haben. Die australische Autorin Rhonda Byrne landet mit dem Selbsthilfebuch «The Secret» einen Bestseller. Bis heute wurden weltweit über 35 Millionen Exemplare verkauft. Byrne schlägt im Buch den Bogen von der Gottesgestalt Hermes Trismegistos und seiner Smaragdtafel, die als Grundlage für die Alchemie dient, über Platon bis hin zu Albert Einstein. Sie alle sollen um ein bestimmtes Geheimnis gewusst haben: Wir sind Schöpfer unserer eigenen Realität, alles ist Energie – und alles, was uns widerfährt, ziehen wir durch die Energie unserer Gedanken an: das Gute wie das Schlechte.

In esoterischen Kreisen zählt das Buch zur Basislektüre, aber eben nicht nur dort. Als «The Secret» erscheint, herrscht Rezession. Weltweit bangen Menschen um ihre Existenz. Was zuvor als sicher galt, ist zutiefst erschüttert. Byrnes «Geheimnis» fällt auf fruchtbaren Boden: Wenn man die Kontrolle über das eigene Leben zu verlieren droht, tönt es umso verlockender, sein Schicksal selbst beeinflussen zu können – und zwar nicht mit dubiosen Finanzprodukten, sondern einzig mit positiven Gedanken.

Byrnes «Geheimnis» ist keineswegs neu. Besser bekannt ist es als «das Gesetz der Anziehung»: Gute Gedanken ziehen gute Erlebnisse an – ebenso wie negatives Denken Leid anziehen soll. Das Gesetz der Anziehung geht auf die sogenannte New-Thought-Bewegung, oder auch Neugeist-Bewegung, zurück. Im 19. Jahrhundert hatte sich diese in den USA über verschiedene Strömungen ausgebreitet. Als Gründer gilt der Heilpraktiker und Philosoph Phineas Parkhurst Quimby. Er sah Gott als eine Art heilenden Allgeist, und Krankheiten waren Folgen negativer Gedanken.

Den verschiedenen Neugeist-Strömungen gemein war, dass sie sich zwar am christlichen Gott orientierten, diesen aber vielmehr als schöpferische Energie betrachteten, als universelle Gegenwart, die alle und alles verbindet. Auch dem Menschen selbst wurde eine schöpferische Kraft zugewiesen, mit der er alles Leid überwinden könne – und zwar, indem er Gutes visualisiere und Affirmationen über sich ausspreche. Der Mensch ist in dieser Vorstellung also nicht nur blosses Geschöpf, das dem allmächtigen Gott ausgeliefert ist, sondern steigt selbst zu etwas Gottähnlichem auf, das selbst erschafft. Das Gesetz der Anziehung, von dem die Neugeist-Bewegung sprach, ist in der Esoterik schon lange bekannt. Doch erst mit Byrnes «The Secret» wird es einer breiten Öffentlichkeit zugänglich.

Rhonda Byrne hat selber zahlreiche Bücher von Neugeist-Denkern gelesen und will deren Ideen bei sämtlichen grossen Denkern der Geschichte wiedergefunden haben – eine Art positive Verschwörung also. «Wo auch immer ich hinsah: Die Hinweise waren da», beschreibt sie ihre persönliche Offenbarung. Sie ist überzeugt, das Geheimnis des Lebens entdeckt zu haben: dass wir uns alles manifestieren können, was wir wollen. Bei Byrne selbst scheint es funktioniert zu haben: Als sie ihr erstes Neugeist-Buch liest, ist sie hoch verschuldet. Heute wird ihr Vermögen auf 100 Millionen Dollar geschätzt. Sie wird damit zur Kronzeugin ihrer eigenen These.

Manifestieren wird zu einem lukrativen Hype

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Ende Mai erhält Amanda Nold einen Besichtigungstermin für die Wohnung. Sie sieht das als eine erste Bestätigung für ihre jüngste Manifestation: «Es scheint wirklich geklappt zu haben», sagt sie. Sie wird die Affirmationen weiterhin täglich niederschreiben und darauf vertrauen, die Wohnung zu erhalten. Eine Freundin von ihr sei so inspiriert gewesen, dass sie eben zu manifestieren begonnen habe. Soeben habe sie die Zusage für einen Job als Journalistin erhalten.

Nold und ihre Freundin sind akademisch gebildet. In ihrem Jurastudium hat Nold gelernt, kritisch zu denken und sich auf harte Fakten abzustützen. Doch, so sagt sie, es gebe nun einmal Dinge, die wir nicht erklären könnten.

Amanda Nold und ihre Freundin haben «The Secret» nie gelesen. Sie sind Teil einer neuen Spiritualitätswelle. Einer Welle, die von Menschen wie Karin Yee (70 000 Youtube-Abonnenten) angestossen wurde. Die amerikanische Astrologin predigt seit über 20 Jahren das Gesetz der Anziehung. Vor ein paar Jahren entwickelte sie die sogenannte 369-Methode und hat sich zu einem Manifestations-Guru gemausert: Unter ihrer Marke «Choosing Gratitude» verkauft sie Manifestationspläne, sie veröffentlicht Podcasts und Youtube-Videos mit Titeln wie «How to use divine code 369 to manifest anything you want – I manifested $ 10 165.46» (814 000 Aufrufe) oder: «Can you change your appearance with law of attraction? (Yes you can!)» (210 000 Aufrufe). Ihre Methode verbreitet sie auch auf Instagram. Auf sämtlichen Plattformen verdient sie Geld mit Werbung. Ihre kostenpflichtigen Pläne haben nach eigenen Angaben «Zehntausenden von Menschen geholfen». Yee hat das Manifestieren auf jede erdenkliche Weise kapitalisiert.

Ihre 369-Methode ist simpel: Man formuliert eine Affirmation für das eigene Ziel, wiederum, als wäre es bereits eingetroffen. Zum Beispiel: «Ich bin erfolgreiche Anwältin.» Oder: «Ich besitze ein Haus am See.» Dann schreibt man jene Affirmation morgens dreimal, mittags sechsmal und abends neunmal auf. «Ihrer Lehre zu folgen, hat mein Leben verändert», schreibt ein Jünger Yees auf deren Webseite. «Sie sind ein Engel, der mich endlich zu meinen Zielen geführt hat», schreibt eine andere Kundin.

Die 369-Methode ist es auch, die im Frühling 2020 in zahlreichen Tiktok-Videos viral geht: Videos zu diesem Thema sind fast eine halbe Milliarde Mal aufgerufen worden. Es ist die Zeit, als die Pandemie ausbricht. Die Menschen sehnen sich nach Halt und Hoffnung, fühlen sich fremdbestimmt. Wie verlockend also, sich seine Zukunft mit blossen Gedanken zu formen.

Spirituell, aber mit einer gewissen Pseudowissenschaftlichkeit

Die Zahlen von Yees Methode sind nicht zufällig gewählt, denn in der Welt der Spiritualität gibt es keinen Zufall. Und nichts ist wirklich neu. Ebenso wie Manifestationen reicht auch Numerologie, die Magie bestimmter Zahlen, weit zurück. Bereits frühchristliche Mystiker haben sie angewandt. Der Erfinder und Physiker Nikolas Tesla bezeichnete 3, 6 und 9 als «göttliche Zahlen». Er sagte: «Wenn man nur die Pracht der Ziffern 3, 6 und 9 kennen würde, hätte man den Schlüssel zum Universum.» Das meiste der neuen Spiritualität ist alter Wein in neuen Schläuchen.

Nikola Tesla sagte beispielsweise auch: Wer das Universum verstehen wolle, solle an «Energie, Frequenz und Vibration» denken. Energie wiederum ist das zentrale Element der neuen Spiritualität. Auf einschlägigen Seiten wird gar die Bezahlung für Manifestationspläne als «Energieaustausch» bezeichnet. Selbst Geld ist also nichts als eine weitere Form der Energie. Übertragen auf das Gesetz der Anziehung bedeutet das: Es ist bei jenen Menschen, die es mit der richtigen Einstellung angezogen haben.

In der Welt der Spiritualität ist alles Energie – und Zufälle gibt es keine.

In der Welt der Spiritualität ist alles Energie – und Zufälle gibt es keine.

Capchure / Moment RF / Getty

Das Universum stellt in dieser Vorstellung so etwas wie die Sammlung aller Energien dar: ein kosmisches Bewusstsein, eine Art Gott. Michael Schneider, Soziologe an der Ludwig-Maximilians-Universität in München, formuliert es so: «Wir wollen weg von diesem personalen Gott, weg von diesem alten Mann, und wenden uns stattdessen hin zu einer subjektiven Sinnbastelei, wie sie in eine individualisierte Gesellschaft gehört.»

Doch gerade in einer aufgeklärten Welt scheint Übernatürliches umso mehr zu interessieren. Michael Schneider bestätigt das: «In unserer säkularen Gesellschaft gibt es eine grosse Sehnsucht nach der Wiederverzauberung der Welt.» Dieses Bedürfnis nach Transzendenz aber komme in Konjunkturwellen, abhängig von Zeitgeist und Weltgeschehen.

Spiritualität erfülle denselben Zweck wie zuvor die Religion: Sie stillt unser metaphysisches Bedürfnis. Heute aber, in einer aufgeklärten Welt, tue sie das mit einer gewissen Pseudowissenschaftlichkeit: Esoterische Inhalte werden mit Studien, Erkenntnissen aus Biologie und Physik oder Umfragen unterlegt. «Sonst wäre es ja Humbug», sagt Schneider und schmunzelt.

Im Manifestieren werden nun also Neugeist-Elemente mit anerkannten psychotherapeutischen Techniken und christlicher Symbolik vermischt. Gott ist nun Universum. Beten heisst nun Manifestieren. Und statt Pastoren lehren zahlreiche Coachs, wie Spiritualität richtig gelebt wird.

Das zeige einen Irrtum auf, sagt Schneider: «Wir glauben, uns endlich befreit zu haben aus dem Gehäuse der Hörigkeit von Kirche und Religion. Stattdessen begibt man sich in eine neue Hörigkeit.» Denn: Funktioniert das Manifestieren, schreibt man dies dem Universum zu. Verfehlt man aber sein Ziel, hat man es womöglich nicht richtig gemacht – und muss sich einen weiteren Kurs beim Coach buchen.

Manifestationen sollen «Mehrwert für alle schaffen»

Die Österreicherin Lisa Wallner bietet genau solche Kurse zum Manifestieren an. Sie sagt: «Es ist wichtig, mit einem Coach zu arbeiten, der die Sprache des Unterbewusstseins lesen kann.» Denn Formulierungen seien wichtig, wenn man mit dem Unterbewusstsein arbeite. So verstehe das Unterbewusstsein beispielsweise kein Nein. Affirmationen müssten also positiv formuliert werden. Was nach Esoterik klingt, ist tatsächlich eine psychoanalytische Erkenntnis: Um etwas zu visualisieren, braucht es ein konkretes Bild – eine Verneinung aber lässt sich nicht visualisieren.

Wallner arbeitet seit über zehn Jahren in der Coaching-Branche. Inzwischen berät sie vorwiegend Business-Kunden. Ihr eigener Slogan lautet: «Manifestieren aus der Seelenfrequenz», was so viel bedeuten soll wie: «aus der Energie der Seele» zu manifestieren. Wallner präzisiert: Man müsse sein persönliches Ziel definieren, das einem selbst, aber auch anderen Menschen dient. Denn: «Das Universum liebt es, wenn eine Vision Mehrwert für alle schafft.»

Es gehe beim Manifestieren nicht darum, etwas zu erschaffen, das vorher nicht da gewesen sei. Sondern darum, dass im «Feld», so bezeichnet sie ein unsichtbares Feld aus Energie, bereits das Potenzial vorhanden sei. Lenken wir durch Affirmationen unsere Aufmerksamkeit darauf, bringen wir es laut Wallner in die Realität. «Alles, was wir uns vorstellen können – ein Kind, ein Haus, ein Buch zu schreiben – ist in unserer Vorstellung bereits da. Zu manifestieren heisst bloss, es noch umzusetzen.» Eine Aussage, wie sie der Neugeist-Bewegung entstammen könnte.

Lisa Wallner hat eine staatlich anerkannte Ausbildung als psychologische Beraterin, absolvierte ein Soziologiestudium, sie arbeitet aber auch «energetisch» in ihren Coachings. Bei Wallner verschmilzt alles: die Wissenschaft mit der Spiritualität, das Übernatürliche mit dem Unterbewussten. «Mir ist wichtig, den wissenschaftlichen Kontext mit einzubringen. Denn unser Unterbewusstsein ist reine Psychologie.» Von der Esoterik hingegen distanziert sich Wallner klar. Sie sei anders positioniert.

Manifestationen lassen uns besser warten

Positionierung ist entscheidend. Denn die neue Welle der Spiritualität ist vor allem eines: ein Markt. Die zahlreichen Bücher, Kurse, Videos, Podcasts sind Angebote im Süssigkeitenladen für übernatürliche Erfahrungen, in dem sich jeder Sinnsuchende nimmt, was für seine spirituelle Reise dienlich ist.

Doch Süssigkeiten haben eine Kehrseite. Sie sorgen für ein kurzes Hoch, aber den eigentlichen Hunger stillen sie nicht. Was, wenn eine Frau mit Kinderwunsch trotz fleissigem Manifestieren nicht schwanger wird? Was, wenn das Geld am Ende des Monats auch mit Manifestieren nicht ausreicht, um die eigene Familie zu versorgen?

In ebensolchen Fällen hält der Soziologe Schneider Manifestationen für gefährlich. Wenn jeder jeden Aspekt seines Lebens durch Gedanken positiv beeinflussen kann, heisst das, zu Ende gedacht: Jeder ist selbst verantwortlich für sein Leid. In einer Notlage werde diese Haltung schnell zynisch, sagt Schneider: «Damit bin ich nicht Opfer von Verhältnissen, sondern eben selbst schuld.»

Bei aller Pseudowissenschaftlichkeit stellt sich die Frage: Gibt es überhaupt einen nachweislichen Nutzen beim Manifestieren? Brigitte Boothe, emeritierte Psychologieprofessorin der Universität Zürich, hat mehrfach über die Psychologie des Wünschens publiziert. Manifestationen nennt sie denn auch wunscherfüllende Vorstellungen, und sie sieht sie als Weg, unser Befinden zu verbessern. «Solche Imaginationen können euphorisierend wirken. Sie lassen uns besser warten», sagt sie. Sie helfen uns dabei, Dinge auszuhalten, auf die wir wenig oder sogar gar keinen Einfluss nehmen können. «Psychoanalytisch würden wir sagen: Überall, wo ich nicht handeln kann, helfen diese Imaginationen zumindest, nicht in Dysphorie zu versinken.» Wie ein Bonbon, das hilft, den ärgsten Hunger eine Weile zu unterdrücken.

Natürlich sei es möglich, dass diese Euphorie positive Handlungen nach sich ziehe, räumt Brigitte Boothe ein: «Wenn ich mir immer wieder vorstelle, eine erfolgreiche Anwältin zu sein, die gerade einen Prozess gewonnen hat, strahle ich diese Sicherheit und Positivität auch aus – und gelange womöglich tatsächlich zum Ziel.»

In einer aufgeklärten Welt nimmt unser metaphysisches Bedürfnis nicht ab – im Gegenteil.

In einer aufgeklärten Welt nimmt unser metaphysisches Bedürfnis nicht ab – im Gegenteil.

Michael Buholzer / Keystone

Bloss: Wenn nun dieser Erfolg nicht eintrifft, man als Anwältin dann doch keine Prozesse gewinnt, kann die Euphorie ziemlich schnell in Ernüchterung kippen. Und dann dürften die Affirmationen eher das Gegenteil bewirken: Sie frustrieren. Überzeugte Manifestations-Coachs würden dagegenhalten: Nicht zu manifestieren, ist auch keine Lösung. Dann überlassen wir unseren Unsicherheiten und Zweifeln in unserem Unterbewusstsein das Feld.

Das Unterbewusstsein heisst in der Psychoanalyse das Unbewusste. «Natürlich beeinflussen wir das Unbewusste unentwegt, positiv wie negativ», sagt Brigitte Boothe. «Und ja, man kann in seinem Leben ganz schreckliche Leitsätze verinnerlicht haben.» Psychologen sprechen von dysfunktionalen Überzeugungen. Coachs, die sich auf psychologische Erkenntnisse stützen, würden nun betonen, dass Manifestationen diese negativen Leitsätze lösen und sie durch positive ersetzen könnten. Boothe ist skeptisch: «Um dysfunktionale Überzeugungen aufzubrechen, braucht es ernsthafte Auseinandersetzung mit sich selbst, die oft erst in tiefgehender Selbstbefragung und im therapeutischen Dialog gelingt.»

Unter bestimmten Umständen könnten wunscherfüllende Vorstellungen unser Wohlbefinden vorübergehend verbessern, sagt Boothe. Doch sie betont: «Um den Herausforderungen der Realität gewachsen zu sein, brauchen wir Wissen, Kompetenz und die Fähigkeit, mit Rückschlägen umzugehen.» Nicht umsonst lernten wir lebenslang, Situationen und Risiken zu beurteilen und kritisch zu denken: «Das können wir nicht einfach ausschalten und so tun, als wäre alles schön und fein.»

Hat Amanda Nold nun die Wohnung im Zürcher Kreis 3 erhalten? Letztlich ist das gar nicht wichtig. Wer glaubt, dass Manifestationen funktionieren, wird auch bei einer Absage davon überzeugt sein, dass es so kommen musste. Nold würde nur jene Wohnung erhalten, die für sie bestimmt ist. Und wer weder an ein Universum noch an ein Schicksal glaubt, den wird auch eine Zusage nicht überzeugen.

Wir bekommen die Stadtwohnung in Zürich im Kreis 3.
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