Zement im “Klima-Labor”: Die schmutzigste Industrie der Welt – ohne saubere Alternative

Auf welche Baustelle man auch schaut, ohne Zement geht nichts. Das wussten schon die alten Römer. Bereits vor vielen Hundert Jahren haben sie aus Kalkstein Zementklinker hergestellt, diesen mit Wasser und Kies zu Beton vermischt und aus dem formbaren “Fertigstein” Brücken, Häuser, das Pantheon oder auch das Kolosseum gebaut. Allerdings ist das vielseitigste Material der Welt auch das schmutzigste: Die Zementindustrie pustet ähnlich viel Kohenlendioxid wie Indien in die Atmosphäre. Und anders als viele andere Branchen lässt sich daran wenig ändern. Denn für den Herstellungsprozess ist bisher keine Alternative in Sicht, wie Peter Schniering im Interview erklärt. Gleichzeitig wird die Nachfrage auch in den kommenden Jahrzehnten vor allem in Entwicklungsländern enorm hoch bleiben. Und Recycling? Ist so gut wie unmöglich. “Ich halte die Zementindustrie für das komplexeste Problemfeld der Klimakrise”, fasst der Gründer der Future Cleantech Architects (FCA) die frustrierende Lage im “Klima-Labor” von ntv zusammen.

ntv.de: Wenn die Zementindustrie ein Land wäre, hätte sie nach China und den USA den dritthöchsten CO2-Ausstoß. Was macht Zement so schmutzig?

Peter Schniering: Das hat mit einer Reihe von Faktoren zu tun. Die Nachfrage nach Zement für die moderne Infrastruktur von Städten ist enorm hoch. Außerdem hat der Zementprozess, die Kalzinierung, sehr starke Prozessemissionen. Die stammen aber – anders als in vielen anderen Bereichen – nicht vom Befeuern durch den Treibstoff. Deswegen lässt sich daran wenig ändern.

Kalzinierung?

Peter Schniering (r.) ist Gründer und CEO der Future Cleantech Architects. Er arbeitet vor allem an der Beschleunigung von Cleantech-Innovationen wie Wasserstoff und Kohlenstoffabscheidung und -speicherung (CCS).

(Foto: FCA)

Ja. Die Grundlage für Zement ist Kalkstein. Der ist weltweit im Überfluss verfügbar und wird seit Jahrtausenden für viele Bauten genutzt. Schon die Römer haben daraus bei vergleichsweise niedrigen Temperaturen Zementklinker hergestellt. Das heutige Hauptprodukt, der Portlandzement, wird dagegen bei sehr hohen Temperaturen von 1200 bis 1500 Grad, teilweise sogar 1800 Grad gefertigt. Dieser Zementklinker ist die Grundlage von Beton, um den es als Endprodukt geht. Bei der Kalzinierung wird aber das im Kalkstein gebundene CO2 gelöst und in die Atmosphäre entlassen.

Man hat also eine doppelte Belastung? Der Kalkstein verursacht CO2-Emissionen, wenn er aufgelöst wird. Dazu kommen Emissionen, die beim Feuerprozess und den hohen Temperaturen entstehen?

Richtig. Der Anteil des CO2, das aus dem Kalkstein gelöst wird, liegt bei gut 60 Prozent. Aus dem Treibstoff, der für die Befeuerung verwendet wird, kommen 30 Prozent hinzu. Die übrigen 10 Prozent ergeben sich aus dem Mahlprozess und dem Transport. Für die Emissionen der Kalzinierung gibt es leider keine wirkliche Alternative. Auch die hohen Temperaturen sind ein Problem, weil man den Prozess mit niedrigen Temperaturen oder erneuerbaren Energien nicht so leicht antreiben kann.

Aber Sie haben doch gesagt, dass die Römer niedrigere Temperaturen verwendet haben.

Wie genau man bei diesen hohen Temperaturen gelandet ist, kann ein Zementhistoriker besser erklären. Aber im Endeffekt sind es ökonomische Gründe, in der Branche herrscht enormer Kostendruck. Der dominante Portlandzement ist aus diesem Grund über viele Jahrzehnte verfeinert und optimiert worden. Für die optimale Reinheit des Materials ist der Hochtemperaturprozess der beste und effizienteste Prozess. In der Antike wurde der Zementklinker bei Temperaturen um 200 Grad erstellt. Damit war der römische Beton nicht so rein. In einer neuen Studie hat man aber festgestellt, dass das für das Altern des Materials und die langfristige Beständigkeit sogar Vorteile hatte.

Zement, der bei niedrigeren Temperaturen hergestellt wird, hält also länger?

Das ist vereinfacht dargestellt, aber ja.

Problemfall: Zement

Die Zementindustrie pustet jedes Jahr etwa 2,8 Milliarden Tonnen CO2 in die Luft. Damit ist sie für 7 bis 8 Prozent der weltweiten Kohlendioxid-Emissionen verantwortlich. Nur China (10,1 Mrd. Tonnen) und die USA (5,4 Mrd. Tonnen) sind schmutziger. Indien (2,7 Mrd. Tonnen) liegt ungefähr gleichauf. Anders als in anderen Branchen ist aber keine Verbrauchsreduzierung in Sicht: Organisationen wie die Internationale Energieagentur (IEA) oder Verbände wie der weltweite Zement- und Betonverband GCCA erwarten, dass die Nachfrage bis 2050 weiter kräftig um bis zu 40 Prozent steigt, denn Beton, das Endprodukt der Zementherstellung, kann nicht recycelt werden. Offiziell werden zwar 80 Prozent der 60 Millionen Tonnen Bauschutt, die in Deutschland jährlich anfallen, erneut verwertet. Der Großteil wird allerdings als Straßenschotter verbaut oder in Baulöcher gekippt.

Warum wird der dann heute nicht mehr genutzt?

Wenn man die Klimabelastung außen vor lässt, haben Zement und Beton eine Reihe von großen Vorteilen. Nur Wasser wird weltweit häufiger als Material verwendet, weil Beton günstig und komplett flexibel formbar ist. Im Englischen spricht man auch von “Instant Stone”, also Fertigstein: Man rührt den Beton an, bringt ihn in Position und er wird fest. Außerdem hält er enormen Druck aus. Ich bin kein Experte für antiken Beton, aber der ist deutlich weniger belastbar, verlässlich und passt vermutlich nicht zu modernen Bauvorschriften. Den möchte man nicht für Kanalisationen oder Fundamente verwenden.

Wie entwickelt sich denn die Nachfrage? Verbrauchen wir mehr Zement oder weniger?

Das ist kontinuierlich mehr geworden. Wenn man den künftigen Verbrauch projiziert, gibt es unterschiedliche Prognosen: Die Internationale Energieagentur (IEA) geht davon aus, dass die weltweite Nachfrage bis 2050 um 12 bis 20 Prozent steigen wird. Der weltweite Zement- und Betonverband GCCA ist pessimistischer und erwartet eine Steigerung von bis zu 40 Prozent. Eine Studie von Nature Materials erwartet sogar eine Steigerung von bis zu 50 Prozent.

Aber dabei geht es um die Bauleistung. Staaten, Städte oder Investoren projizieren nicht den Zementverbrauch, sondern Gebäude, Kanalisationen und Brücken. Vielleicht kann man das auch anders liefern.

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Woher kommt diese große Nachfrage?

Ein großer Teil stammt aus der sich entwickelnden Welt. Aus Regionen und Schwellenländern, die sich urbanisieren wollen – sei es in Afrika, in Lateinamerika oder Südostasien. Beton spielt für den Wunsch, mit Infrastruktur die Lebensqualität zu erhöhen, eine wahnsinnig große Rolle.

Gibt es Alternativen, um eine ähnliche Bauleistung zu ermöglichen?

Wenn man diesen Ländern nicht sagen will, dass sie Beton nicht mehr verwenden dürfen, gibt es vier Möglichkeiten, die aber alle nur zum Teil helfen: Man kann die Nachfrage reduzieren, indem man alternative Baumaterialien nutzt. Ein zweiter Punkt ist CCS, also Carbon Capture und Storage: Das CO2 wird in der Zementproduktion abgeschnitten und irgendwo abgespeichert. Dann haben wir die hohe Prozesstemperatur, wir nennen das “Die Flamme”: Ist eine elektrische Feuerung mit erneuerbaren Energien möglich? Geht es doch mit niedrigeren Temperaturen? Aber diese Forschung steckt noch in den Kinderschuhen.

Die vierte, aber keineswegs unwichtigste Möglichkeit, sind alternative Werkstoffe: Können wir Zement und Beton auch ohne Kalkstein herstellen? Zu diesem Feld gehört auch die Idee, Beton zu recyceln.

Wäre das denn keine Möglichkeit? Wenn man durch eine Großstadt läuft, sieht man relativ viel Bauschutt, der wiederverwendet werden könnte.

Am besten wäre es, wenn man Gebäude gar nicht abreißt, sondern den alten Bestand erhält, renoviert oder modernisiert. Denn es ist quasi unmöglich, Bestandsbeton in seine Grundelemente zu zerlegen und den Zement wiederzuverwenden. Die finale Betonmasse enthält ja auch Wasser, Kies und viele andere Dinge. Das macht es so schwierig: Sie bekommen anders als bei Glas keinen reinen Rohstoff zurück. Und selbst, wenn Sie es schaffen, würde auch der Recyclingprozess sehr viel Energie verbrauchen. Das Dekabornisierungspotenzial ist gering.

Und wo landen diese Materialien dann? Einfach auf der Müllhalde? In China mussten gerade erst mehrere Rohbauten abgerissen werden.

Das hängt stark mit der Regulierung im jeweiligen Land zusammen und natürlich von der Bauweise ab. Eine Brücke, die mit Stahl verstärkt wurde, ist eine komplett andere Herausforderung als ein Einfamilienhaus.

Aber das ist doch völliger Wahnsinn: Wir stellen einfach immer weiter einen Stoff her, von dem wir nicht wissen, wie wir ihn wiederverwenden, entsorgen oder ersetzen können?

Ich möchte nicht desillusionierend wirken, aber das ist die Herausforderung. Für neuere Gebäude könnte man Fertigteile benutzen. Diese vorgegossenen Betonelemente können Sie hinterher wieder auseinanderbauen und wie Lego-Bausteine woanders verwenden. Aber das ist bei individualisierten Bauwerken wie Brücken schwierig, denn die müssen oft sogar an die Topografie angepasst werden. Wollen Sie Beton wiederverwenden, müssen sie ihn kaputt machen, zerschlagen, abreißen. Sie erhalten Gesteinsbrocken, aber keinen Zement.

Man könnte also nur einzelne Teile wiederverwenden, das ist alles?

Nein, wir haben weitere Hebel. Ein ganz wesentlicher ist CCS. In diesem Bereich müssen wir auch unabhängig von der Zementindustrie unbedingt unsere Hausaufgaben machen. Ein weiterer wichtiger Hebel sind Bauvorschriften. Natürlich soll eine Brücke felsenfest sein, aber meistens werden Zement und Beton im Überfluss verwendet, um auf der sicheren Seite zu sein. Werden auch die Brandschutzstandards gelockert, kann man in Zukunft mehr Holz als Baustoff verwenden. Gleichzeitig muss man Gebäude anders denken und möglichst viele modular bauen, sodass man sie wieder zurückbauen kann.

Welche dieser Stellschrauben hat denn das größte Potenzial?

Das ist schwer zu sagen, weil wir uns noch in der technologischen Grundlagenforschung befinden. Aber wenn wir bis 2050 blicken, können wir darauf hoffen, dass noch etwas in der Innovationspipeline steckt, was wir bisher nicht auf dem Schirm haben: ein alternativer Werkstoff anstelle von Zement.

Das klingt nicht sonderlich beruhigend.

Wir als Organisation konzentrieren uns auf Industriesegmente, die man am schwierigsten dekarbonisieren kann. Das sind Branchen mit hohen Emissionen und einem niedrigen Technologie-Reifegrad. Das ist meine persönliche Einschätzung, aber ich halte die Zementindustrie für das komplexeste Problemfeld der Klimakrise.

Aber selbst, wenn man einen alternativen Werkstoff finden würde, hätte man das Problem doch vor allem in Deutschland und Europa gelöst, aber weder Preis noch Nachfrage in Entwicklungsländern gesenkt.

Ja. Gerade dieser Portlandzement ist zu einem weltweiten Grundstoff geworden, weil er sehr, sehr günstig ist. Es passiert derzeit sehr viel, wir sind Teil von Forschungskonsortien der Zementhersteller. Aber selbst in Ländern wie Deutschland, wo es finanzielle Unterstützung gibt, erfordert die Dekarbonisierung einen riesigen Kulturwandel. Wenn Sie mit Zementherstellern in Ländern sprechen, die sich noch entwickeln und wo ein enormer Preisdruck herrscht, sagen die Ihnen: Wir können es uns gar nicht leisten, unsere Zementwerke umzustellen. Und den Konsumenten ist letztlich egal, ob der Beton klimaneutral oder klimaschonend hergestellt wurde.

Ich bin trotzdem optimistisch. Natürlich kann man sich nicht darauf verlassen, einen alternativen Baustoff zu finden. Aber vor zehn Jahren hätte auch niemand erwartet, dass Lithium-Ionen-Batterien so wenig kosten oder, dass wir je nach Region und Technologie Solarstrom für 1 Cent pro Kilowattstunde herstellen. Da hätten mich alle für verrückt erklärt.

Mit Peter Schniering sprachen Clara Pfeffer und Christian Herrmann. Das Gespräch ist zur besseren Verständlichkeit gekürzt und geglättet worden.

Klima-Labor von ntv

Was hilft gegen den Klimawandel? “Klima-Labor “ist der ntv Podcast, in dem Clara Pfeffer und Christian Herrmann Ideen und Behauptungen prüfen, die toll klingen, es aber selten sind. Klimaneutrale Unternehmen? Gelogen. Klimakiller Kuh? Irreführend. Kunstfleisch? Das Grauen 4.0. Aufforsten im Süden? Verschärft Probleme. CO2-Preise für Verbraucher? Unausweichlich. LNG? Teuer.

Das Klima-Labor – jeden Donnerstag eine halbe Stunde, die informiert und aufräumt. Bei ntv und überall, wo es Podcasts gibt: RTL+ Musik, Apple Podcasts, Amazon Music, Google Podcasts, Spotify, RSS-Feed

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