Blutiger Kampf um die Vorherrschaft

Eskaliert der Bandenkrieg in der Schweiz? Ein Fall aus Zürich zeigt, in welche kriminellen Geschäfte einige Akteure verstrickt sind.

Mitglieder der Hells Angels versammeln sich vor dem Regionalgericht in Bern. Dort treffen sie auf die verfeindeten Bandidos.

Keystone

Die Patienten sind wortkarg, als sie in Zürich auf der Notaufnahme des Spitals erscheinen. Obwohl die Männer allerlei Blessuren aufweisen, einer sogar eine Stichverletzung. Schnell stellt sich heraus: Sie sind Mitglieder des Motorradklubs Hells Angels. Doch Strafanzeige erstattet keiner der Männer. Die Verletzungen? Bloss Unfälle. Die Stichwunde? Unerklärlich. Nur über Umwege erfährt die Polizei von dem Vorfall. Als die Ermittler die Rocker schliesslich befragen wollen, stossen sie auf eine Mauer des Schweigens.

Das Schauspiel, das sich laut Polizeikreisen unlängst in Zürich abgespielt hat, illustriert, wie verfeindete Rockerklubs und Strassengangs ihre Probleme in der Schweiz am liebsten lösen: unter sich. Niemand redet, schon gar nicht mit der Staatsmacht.

Doch jüngst sind die Auseinandersetzungen in der Szene vermehrt in der Öffentlichkeit ausgetragen worden. Letzte Woche etwa lieferten sich Hunderte Mitglieder der Hells Angels und der Bandidos Strassenschlachten vor dem Regionalgericht in Bern. Und im Genfer Ausgehquartier Plainpalais schossen einige Tage zuvor verfeindete Rocker um sich – mitten in einem gut besuchten Lokal.

Blutige Konflikte zwischen Rockerbanden, das kannte man bisher vor allem aus Deutschland, den Niederlanden und den nordischen Ländern.

Schwappt der offene Rockerkrieg mit den Vorfällen in Bern und Genf nun in die Schweiz über? Und inwiefern hat dies mit den kriminellen Geschäften zu tun, die den Klubs und rockerähnlichen Strassengangs nachgesagt werden?

Sicherheitsexperten warnen schon lange

Wie brutal die Konflikte zwischen Rockerbanden geführt werden, konnte man letzten Monat in Duisburg sehen. An einem Mittwochabend fielen in der Stadt im Ruhrgebiet 19 Schüsse. Mitten in der Stadt, auf einem gut besuchten Platz. Menschen rannten weg, suchten Schutz hinter Autos. Grund für die Schiesserei war eine Auseinandersetzung zwischen den Hells Angels und einem türkisch-arabischen Clan.

Konflikte mit arabischen Clans sind in der Schweiz bis anhin kaum ein Thema. Doch vor schwelenden Konflikten zwischen verfeindeten Rockerklubs und Strassengangs warnen Sicherheitsexperten und Polizeikreise schon länger. Die Vorfälle in Bern und Genf machten nur sichtbar, was unter der Oberfläche schon länger brodle, heisst es dort.

Das Bundesamt für Polizei (Fedpol) hält denn auch fest, dass es in der Schweiz ein ernstzunehmendes Konfliktpotenzial gebe. Mehrere Gruppierungen, die auch hier präsent sind, seien im Ausland regelmässig in Verfahren wegen organisierter Kriminalität, Drogenhandels und Gewaltvorfällen involviert. Die Behörden befürchten, dass diese kriminellen Netzwerke sich auch hierzulande mehr und mehr etablieren.

Klar ist: Nicht alle Mitglieder von Motorradklubs sind kriminell. Viele gehen in der Schweiz normalen Jobs nach. Klar ist aber auch: Es geht in diesem Konflikt nicht einfach um ein paar harmlose Männer, die am Wochenende ihre Kutte überstreifen, um auf dem Motorrad über Passstrassen zu fahren.

Eine gut informierte Person beschreibt das Problem mit dem Rockermilieu in der Schweiz so: «Da sind kriminelle Vollprofis dabei, die im Drogenhandel und im Rotlichtmilieu mitmischen. Es geht um knallharte Machtkämpfe.» Doch die Politik habe die Gefahr bisher nicht richtig ernst genommen: «Solange die Rocker und Street-Gangs nicht auffallen, gibt es auch das Problem nicht. Das war damals bei den Islamisten nicht anders.»

Im Grossraum Zürich zeigt sich, weshalb die Rivalität mehrheitlich unter dem Radar der Behörden bleibt. Der Kanton mit seinen über 1,5 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern ist Hells-Angels-Gebiet. Das 1970 gegründete Zürcher Chapter war der erste Ableger des Klubs auf europäischem Festland.

Ruhig ist es nur an der Oberfläche. Denn die meisten Probleme löst man unter sich. Kommt es zu Auseinandersetzungen, wird kaum je Strafanzeige gestellt. Viele der Konflikte tauchen nie in einer offiziellen Statistik auf.

Hauptgrund für die vergleichsweise ruhige Lage sind allerdings die Hells Angels selbst. Sie sind die dominante Macht in der hiesigen Szene. Will sich ein Motorradklub hier ansiedeln, braucht er den Segen der Höllenengel. Wer sich ihnen nicht unterordnet, wird eingeschüchtert und vertrieben. Die Hells Angels agieren quasi als Aufsicht der hiesigen Rockerszene. In der Schweiz werden sie von praktisch allen Klubs unterstützt.

Das Umfeld der Hells Angels verbreitet denn auch die immer gleiche Erzählung: Schuld an der Eskalation seien Neuankömmlinge aus dem Ausland. Gegenüber den Tamedia-Zeitungen meinte der Anwalt und SVP-Politiker Valentin Landmann kürzlich: «In der Szene in der Schweiz herrschte fünfzig Jahre lang Frieden. Jetzt wollen gewisse Kreise den Krieg aus dem Ausland zu uns importieren.»

Lange Liste der Gescheiterten

Aber stimmt das auch? Eine gut informierte Person beschreibt die Dominanz der Hells Angels so: Wenn einer versucht, mit der Kutte eines verfeindeten Motorradklubs durch die Stadt zu fahren, wird er von Angehörigen der Höllenengel kontrolliert und weggeschickt.

Die Liste der Gruppierungen, die den Hells Angels in der Vergangenheit die Vorherrschaft streitig machen wollten, ist lang: Sie nennen sich United Tribuns, Black Jackets, Sondame oder Bahoz. Alle versuchten in Zürich Fuss zu fassen, alle scheiterten.

Einzig der Outlaws MC konnte seinen 2010 gegründeten Schweizer Zweig halten. Laut Fedpol tritt er allerdings kaum öffentlich in Erscheinung. Auch die Bandidos sind seit 2021 mit zwei Ablegern präsent. Die Behörden gehen zwar nur von einer Mitgliederzahl im tiefen zweistelligen Bereich aus, doch die Feindschaft zwischen den Klubs halten sie für gefährlich.

Wie vehement die Hells Angels ihr Einflussgebiet verteidigen, zeigt sich am Beispiel der Black Jackets – einer verfeindeten Strassengang aus Deutschland. Auch sie wollten sich in der Schweiz niederlassen. Im Sommer 2013 drohte der Konflikt zu eskalieren. Ein Kampfsportevent in Dietikon wurde von den Behörden verboten, nachdem die Polizei vor einem Aufeinandertreffen der beiden Gruppen gewarnt hatte.

Kurz darauf kam es zu einer brenzligen Situation während des Züri-Fäschts – inmitten von Hunderttausenden von Besuchern. Fast 200 Hells Angels marschierten am grössten Volksfest der Schweiz auf, weil Anhänger der Black Jackets vor Ort waren. Nur mit einem massiven Polizeiaufgebot konnte eine Konfrontation verhindert werden. Im aargauischen Oftringen kam es schliesslich vor einer Tankstelle zu einer Massenschlägerei mit mehreren Verletzten.

Ähnliche Revierkämpfe gibt es gegenwärtig wieder – dieses Mal mit den Bandidos. Allen voran die Schiesserei in Belp, die derzeit vor dem Berner Regionalgericht verhandelt wird.

Die Geschichte ist schnell erzählt: Die Bandidos wollten 2019 in Belp ein Chapter eröffnen, die erste Niederlassung in der Schweiz – ohne den Segen der Hells Angels. Bei der Gründungsfeier kreuzten die Höllenengel in Belp auf, um ihre Kontrahenten einzuschüchtern. Der Streit eskalierte, es fielen Schüsse. Am Ende trugen zwei Rocker schwere Verletzungen davon.

Ähnlich einzuordnen ist die Schiesserei in Genf. In einem gutbesuchten Lokal sitzen Ende Mai Menschen zusammen, trinken etwas, unterhalten sich. Dann, plötzlich, fallen Schüsse. Ein Mann in einer Kutte zielt mit einer Pistole, drückt zweimal ab. Ein anderer zieht aus seiner Kutte ebenfalls eine Waffe hervor und schiesst zurück. Im Bistro entsteht ein Chaos, Besucherinnen und Besucher ergreifen die Flucht ins Freie. Einer der mutmasslichen Täter ist laut «Tribune de Genève» ein Mitglied der Bandidos, gegen den in Frankreich wegen Mordes ermittelt wird.

Was steckt hinter der legalen Fassade?

Ob Hells Angels, Bandidos oder rockerähnliche Gruppierungen: Nachgesagt werden ihnen allen Verstrickungen in illegale Machenschaften. Konkret werden ihnen meist Drogenhandel, Gewalttaten und Delikte rund ums Rotlichtmilieu vorgeworfen, wie das Bundesamt für Polizei schreibt. In der Schweiz sind dem Fedpol mehrere solche Fälle bekannt.

Gescheitert sind in der Schweiz hingegen die Bemühungen der Behörden, Mitglieder der Hells Angels wegen Beteiligung an einer kriminellen Organisation zu verurteilen. Der letzte Versuch liegt beinahe zwanzig Jahre zurück. Damals holte die Bundesanwaltschaft zu einem grossen Schlag gegen die Hells Angels aus. Im April 2004 stürmten rund 300 Polizisten zum damaligen Zürcher Klublokal der Höllenengel an der Langstrasse.

Doch die Aktion wurde zum grossen Flop. Sechs Jahre später mussten die umfangreichen Ermittlungen wegen Beteiligung an einer kriminellen Organisation eingestellt werden. Übrig blieben nur einige Straftaten von einzelnen Mitgliedern.

Und heute? Offiziell heisst es bei der Kantonspolizei Zürich zur gegenwärtigen Lage nur: Man beobachte die Szene laufend. In der jüngeren Vergangenheit habe man jedoch keine Kenntnisse über Auseinandersetzungen von rivalisierenden Gruppierungen erhalten.

Eine andere Entwicklung bereitet den Ermittlern Sorge: Die Gruppierungen versuchen verstärkt, in legalen Geschäftszweigen Fuss zu fassen. Genannt werden Nachtklubs, Sicherheitsfirmen, aber auch Barbershops und Inkassofirmen. Die Fassade ist legal, doch was dahinter ist, bleibt nebulös.

Die Behörden stehen allerdings vor dem gleichen Problem wie damals die Bundesanwaltschaft: Einzelnen Exponenten können zwar Straftaten nachgewiesen werden. Dass die Mitgliedschaft in der Rockergruppe oder der Strassengang für das kriminelle Gebaren eine Rolle spielt, ist kaum nachweisbar. Das zeigt sich auch im Fall eines mutmasslich führenden Strassengang-Mitglieds aus Zürich.

«Sind Sie in einer Gang?» – «Das ist ein bisschen übertrieben»

Es ist Ende Mai, am Bezirksgericht in Zürich. Vor dem Richter steht der 32-jährige Alan (Name geändert). Er trägt einen grauen Kapuzenpulli, kurz geschorenes Haar und Dreitagebart. Der Richter fragt: «Sind Sie in einer kurdischen Gang?» Der Mann antwortet: «Das ist ein bisschen übertrieben. Aber ja, wir hiessen Bahoz, wurden dann aber aufgelöst.»

Die kurdische Strassengang sorgte in der Schweiz vor einigen Jahren mit martialischen Auftritten für Aufsehen. Mitten auf der Langstrasse posierten damals dunkel gekleidete junge Männer für die Kamera und blockierten die Strasse. In von Anwohnern aufgenommenen Videos sind laute Schlachtrufe zu hören. Mittendrin: Alan. Die Ermittler gehen davon aus, dass er einer der Anführer der Gruppe war. Kurz nach den spektakulären Auftritten war der Spuk jedoch wieder vorbei: Die kurdische Gang gab ihre Auflösung bekannt – zumindest offiziell.

Der Türke, der wegen einer Lungenerkrankung eine IV-Rente bezieht, versuchte seinen Machtbereich im kriminellen Milieu der Zürcher Innenstadt auszubauen. So sieht es jedenfalls die Staatsanwaltschaft in ihrer Anklage. Ob er dazu auch auf die Verbindungen zu anderen Bahoz-Mitgliedern zurückgriff, bleibt indes unklar.

Drogengeschäfte mit Marihuana, Anschläge mit Buttersäure auf Milieulokale und mehrere Attacken auf ein Optikergeschäft und ein Restaurant in Albisrieden sollen auf das Konto des Türken gehen. Manchmal beteiligte sich Alan selbst an den Taten, meist aber gab er den Auftrag an junge Komplizen, und diese führten aus.

Im Zentrum der Anklage steht ein geplanter Raubüberfall auf einen Ladenbesitzer und Fleischproduzenten, der mutmasslich selbst Beziehungen ins Umfeld einer konkurrierenden Strassengang unterhält. Das Opfer sollte laut Anklage überfallen und durch gezielte Schläge mit einem Hammer attackiert und ihm das Geld abgenommen werden. Den Hammer hätten die Täter danach in einem Gully entsorgt.

Bevor der Plan umgesetzt werden konnte, griff die Polizei ein. Alan stellt das Ganze viel harmloser dar. Das sei alles nur dummes Geplapper gewesen, es habe zwar Spannungen gegeben zwischen ihm und dem Unternehmer. Er beteuert aber: «Ich wollte ihm bloss eine Ansage machen, damit er nicht weiter provoziert.»

Rachefeldzug eines Gangchefs gegen einen unliebsamen Kontrahenten oder bloss Angeberei eines Kleinkriminellen? Über diese Frage muss nun das Bezirksgericht entscheiden.

Neue Tumulte befürchtet

Der Fall zeigt exemplarisch, womit die Strafverfolger zu kämpfen haben. Wenn ein Anhänger eines Rockerklubs oder einer Strassengang eine Straftat begeht: Hat er diese dann im Namen der Gruppierung begangen? Oder steht das Delikt in keinem Zusammenhang mit seiner Mitgliedschaft? Dieses Dilemma zeigt auf, warum in der Schweiz bisher kein Angehöriger einer rockerähnlichen Gruppierung wegen Beteiligung an einer kriminellen Organisation verurteilt wurde – im Gegensatz zu Deutschland. Dort wurden sogar ganze Chapter der Hells Angels oder der Bandidos wegen illegaler Geschäfte verboten.

Diesen Vorwurf müssen die 22 Rocker vor dem Berner Regionalgericht nicht fürchten. Die Staatsanwaltschaft wirft ihnen wegen des Vorfalls in Belp unter anderem versuchte vorsätzliche Tötung, schwere Körperverletzung und Raufhandel vor. Der schwere Vorwurf einer Beteiligung an einer kriminellen Organisation ist nicht dabei.

Das Urteil wird am 30. Juni verkündet. Bereits jetzt blickt man in Bern sorgenvoll auf jenen Tag. Befürchtet werden erneute Tumulte wie zu Beginn des Prozesses. Der zuständige Sicherheitsdirektor Reto Nause sagte gegenüber den «Tamedia-Zeitungen», es sei nochmals «mit einer sehr heiklen Situation und der Präsenz aus allen Rockergruppierungen zu rechnen». Um erneute Strassenschlachten zu verhindern, will sich die Polizei sorgfältig auf den Tag der Urteilsverkündung vorbereiten.

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