Boris Johnson weiter unter Druck


Die neusten Entwicklungen

Alkohol in rauen Mengen, Musik bis tief in die Nacht – und das alles während Corona-Lockdowns: Premierminister Boris Johnson kämpft wegen Partys im Londoner Regierungsviertel Whitehall um sein politisches Überleben. Ein Überblick.

Premierminister Boris Johnson musste sich im Parlament für diverse Lockdown-Partys an seinem Amtssitz 10 Downing Street entschuldigen.

Jessica Taylo / UK Parliament

Die neusten Entwicklungen:

  • Laut einem Bericht des Fernsehsenders ITV soll der britische Premierminister Boris Johnson mitten im Lockdown in grösserer Runde Geburtstag gefeiert haben. Johnsons Frau Carrie habe im Sitzungsraum des Kabinetts an der Downing Street eine Überraschungsparty für den Premier organisiert, hiess es in dem Bericht vom Montag (24. 1.). Bis zu 30 Gäste seien bei der angeblichen Feier am Nachmittag des 19. Juni 2020 dabei gewesen, darunter vor allem Mitarbeiter, aber auch die Designerin Lulu Lytle, die damals gerade für viel Geld die Dienstwohnung der Johnsons renovierte. Carrie Johnson soll laut Bericht dann das Lied «Happy Birthday» angestimmt haben. Später seien mehrere Familienmitglieder in der Wohnung der Johnsons zu einer privaten Feier zugegen gewesen. Eine Regierungssprecherin bestritt den Bericht nicht, bezeichnete die Veranstaltung aber als kurzes Treffen von Mitarbeitern im Anschluss an eine Besprechung, um dem Premier zu gratulieren. Johnson sei weniger als zehn Minuten dabei gewesen. Den Bericht über Gäste in der Dienstwohnung wies die Sprecherin als «komplett unwahr» zurück. Johnson habe lediglich eine kleine Gruppe von Familienmitgliedern im Freien empfangen.
  • Im Rahmen der Untersuchung über die Partys an der Downing Street machen Polizeibeamte «extrem vernichtende» Aussagen. Die Beamten des parlamentarischen und diplomatischen Schutzkommandos der Metropolitan Police, welche für die Bewachung der Downing Street zuständig sind, hätten detaillierte Aussagen über die Versammlungen und die ein- und ausgehenden Besucher machen können, berichten britische Medien am Montag (24. 1.). Die Aussagen der Polizisten würden die Darstellung widerlegen, wonach es sich bei vielen der Veranstaltungen um geschäftliche Treffen gehandelt habe, da auch Personen für die Feiern an die Downing Street gekommen seien, die gar nicht dort gearbeitet hätten.
  • Nach Vorwürfen der Diskriminierung gegen seine Regierung hat der massiv unter Druck stehende Premierminister Boris Johnson eine weitere Kehrtwende vollzogen. Am Montagmorgen (24. 1.) ordnete er eine offizielle Untersuchung der Vorwürfe von Ex-Staatssekretärin Nusrat Ghani an, die angibt, ihren Posten vor zwei Jahren aufgrund ihres muslimischen Glaubens verloren zu haben. Zuvor hatte Downing Street auf die offiziellen Beschwerdeprozesse der Partei verwiesen und es abgelehnt, weiter in den Fall verwickelt zu werden. Allerdings hatten sich die Bildungsminister Nadhim Zahawi und Gesundheitsminister Sajid Javid beide für eine offizielle Untersuchung ausgesprochen. Die Kehrtwende gilt als weiterer Beleg dafür, wie stark Johnson unter Druck steht und wie gespalten seine Partei derzeit ist.
  • Der Untersuchungsbericht der Beamtin Sue Gray werde auch Partys umfassen, die mutmasslich in der Wohnung des Premierministers an der Downing Street Nummer 11 neben dessen Amtssitz abgehalten wurden. Das berichteten englische Medien unter Berufung auf Insiderquellen am Sonntag (23. 1). So sollen enge Freunde von Johnsons Frau Carrie häufiger in Lockdown-Zeiten zu Gast gewesen sein – offiziell aus Arbeitsgründen. An dieser Darstellung gibt es laut dem Bericht jedoch Zweifel, weil die genannten Freunde gar nicht direkt für die Downing Street arbeiteten, sondern für das angegliederte Cabinet Office. Johnsons Ex-Berater Dominic Cummings, der heute zu dessen schärfsten Kritikern zählt, hatte schon früher den Vorwurf erhoben, auch in Johnsons eigener Wohnung – nicht nur in den Büroräumen – hätten unerlaubte Partys stattgefunden. Bisher hatte sich der Premierminister damit herauszureden versucht, dass er bei einigen der Partys persönlich nicht dabei gewesen sei und andere nicht als Partys erkannt habe.

Bereits Ende des vergangenen Jahres tauchten Hinweise darauf auf, dass es im Regierungsviertel Whitehall in London und allem voran an der Downing Street, dem Amtssitz des Premierministers, mehrfach zu Zusammenkünften von Angestellten und Regierungsmitgliedern gekommen sei. Ausgehend von den Berichten war anzunehmen, dass es sich hierbei nicht um geschäftliche Sitzungen gehandelt haben konnte und diese Veranstaltungen gegen die damals geltenden Corona-Regeln verstossen hatten.

Entsprechend wurde eine Untersuchung eingeleitet. Als diese lanciert wurde, standen drei Partys zur Überprüfung. Mittlerweile ist klar, dass es jedoch weit mehr als drei Feste gegeben hat. Nach derzeitigem Stand sollen an mindestens 13 verschiedenen Daten in den Jahren 2020 und 2021 Partys veranstaltet worden sein. Zwar war Boris Johnson bei vielen Partys nicht dabei, an mehreren Veranstaltungen jedoch soll er zugegen gewesen sein, oder er soll mindestens davon gewusst haben.

Die britische Regierung erliess in der ersten Welle im Frühjahr 2020 zwar vergleichsweise spät Corona-Massnahmen, dafür waren sie einschneidend. So war es den Briten untersagt, sich mit anderen Personen zu treffen, das Haus durfte nur für notwendige Besorgungen verlassen werden. Ein erneuter, relativ strikter Lockdown galt auch an Weihnachten 2020 während der zweiten Welle.

Zwar wurde der zweite Lockdown im Frühjahr 2021 aufgehoben, es blieben jedoch strikte Massnahmen in Kraft – etwa die Begrenzung der Teilnehmerzahl bei Beerdigungen. So war damals auch die Trauerfeier von Prinz Philip, dem Ehemann der Queen, auf 30 Teilnehmer limitiert. Das Bild der einsam in der Kirche sitzenden Queen wurde zu einem der prägendsten Bilder der Pandemie.

Die einsame Queen: eines der einprägsamsten Bilder der Pandemie.

Die einsame Queen: eines der einprägsamsten Bilder der Pandemie.

Yui Mok / AP

Die Briten befolgten die strikten Massnahmen relativ brav. Dass die Regeln aber von jenen Menschen nicht befolgt wurden, die sie selber erlassen hatten, sorgt im Land für grossen Unmut. Und dass die Downing Street und allen voran der Premierminister selber die Partys zuerst auch noch leugneten, die Erklärungen dann wöchentlich den neu vorgelegten Beweisen anpassen mussten und immer wieder eine neue Version der Geschehnisse verbreiteten, machte die Situation nur noch schlimmer.

Die Untersuchung wurde bereits im Dezember des vergangenen Jahres lanciert. Es wird erwartet, dass der Untersuchungsbericht in der Woche ab dem 24. Januar 2022 veröffentlicht wird.

Der Untersuchungsbericht soll laut Informationen des Kabinettsbüros Klarheit über die Art der einzelnen Veranstaltungen schaffen und aufzeigen, welche Personen an welchen Feierlichkeiten teilgenommen haben. Auch solle geklärt werden, über welche Feiern der Premierminister, teilweise auch vor deren Durchführung, Bescheid wusste und ob er allenfalls sogar davor gewarnt worden war, solche Partys zuzulassen. Dieser Punkt ist kritisch, da es hierbei auch darum geht, ob der Premierminister bei seiner Aussage vor dem Parlament gelogen hat. Würde sich diese Aussage als Lüge herausstellen, wäre dies gemäss dem britischen Ethikkodex für Minister ein Rücktrittsgrund.

Darüber hinaus soll in der Untersuchung eruiert werden, ob die verschiedenen Partys gegen die zur jeweiligen Zeit geltenden Corona-Massnahmen verstossen haben. Im Fokus der Untersuchung stehen neben Boris Johnson auch viele seiner Angestellten, die teilweise Feste feierten, an denen der Premierminister selbst gar nicht teilnahm.

Durchgeführt wird die Untersuchung von der Beamtin Susan «Sue» Gray. Sie gilt als eine der höchstrangigen zivilen Regierungsbeamtinnen des Vereinigten Königreichs und leitete zuvor bereits verschiedene interne Untersuchungen. In den britischen Medien wird Gray als kompromisslos, effizient und «der Bevölkerung zwar unbekannt, aber in Regierungskreisen höchst einflussreich» beschrieben.

Die Ministerialbeamtin Susan «Sue» Gray leitet die Untersuchung.

Die Ministerialbeamtin Susan «Sue» Gray leitet die Untersuchung.

AP

Bereits bei anderen Untersuchungen und in anderen Ämtern, etwa als sie die Aufsichtsbehörde für Ethik in Ministerien und in der Regierung leitete, machte sich Gray einen Namen als harte Ermittlerin. Zeitungen betitelten sie damals als «die Frau, die das Land im Hintergrund regiert».

Sue Gray hat bei ihren Untersuchungen weder polizeiliche noch rechtliche Vollmachten. Sie kann Personen zwar zu den Partyvorwürfen befragen, jedoch keine Befragungen unter Eid vornehmen und auch keine Herausgabe von Dokumenten erzwingen. Auch kann sie nur Personen vorladen, die für die Downing Street arbeiten, also direkt dort angestellt sind. Andere Personen, etwa die Polizisten von Scotland Yard, welche die Downing Street bewachen, aber eben nicht direkt dort angestellt sind, kann Gray nur für eine Befragung einladen – die Teilnahme ist für jene Personen freiwillig.

Ebenfalls ist es ihr nicht möglich, in ihrem Abschlussbericht juristisch zu urteilen und etwa festzustellen, dass die Feierlichkeiten an der Downing Street gegen damals geltendes (Pandemie-)Recht verstossen hätten.

In ihrem Bericht kann sie schlicht die Resultate ihrer Befragungen zusammentragen und ein Fazit ziehen. Sollte sich im Laufe der Untersuchungen aber herauskristallisieren, dass viele der erhobenen Vorwürfe wahr sind, dürften allein diese Erkenntnisse schon dazu ausreichen, dem Bericht eine hohe Sprengkraft zu verleihen. Wichtig hervorzuheben, ist aber, dass es sich hierbei um eine interne Untersuchung handelt. Gray muss den fertigen Bericht zuerst ihrem Chef, Boris Johnson, vorlegen, der selber Gegenstand der Untersuchung ist. Es ist dann auch Johnson, der die Freigabe des Berichts erteilen muss.

Die Untersuchung und die damit zusammenhängende Verteidigungsstrategie der Johnson-Administration blockieren beinahe vollständig den Regierungsbetrieb. Man befindet sich in der Defensive, im Parlament gibt es kaum noch ein anderes Thema.

Für den Premierminister stehen die Zeichen entsprechend schlecht. Durch die Vorwürfe und seinen Umgang damit schwindet sein Rückhalt in der Partei, die Resultate von Umfragen in der Bevölkerung sind mehr als ernüchternd, und neben der Opposition forderten auch mehrere Parteikollegen Johnson zum Rücktritt auf. Dazu kommen die allgegenwärtige und gewaltige mediale Aufmerksamkeit und das ständige Durchsickern weiterer Informationen.

Zwar sicherte ihm das Gros seiner Minister die Treue zu, nicht bei allen klingt die Begeisterung für den Premierminister aber gleich überzeugend – gerade etwa der Schatzkanzler Rishi Sunak, der als möglicher Nachfolger Johnsons gehandelt wird, hält sich sehr bedeckt. All dies schwächt die Position des Premierministers. Jedoch ist es bis anhin noch nicht zu einem Putschversuch unter seinen Parlamentariern gekommen. Johnson darf durchaus noch hoffen, und vieles wird vom Resultat des Untersuchungsberichts abhängig gemacht.

Je vernichtender und deutlicher der Untersuchungsbericht ausfällt, desto wahrscheinlicher ist es, dass Boris Johnson entweder selber zurücktreten muss oder in seiner Fraktion ein Misstrauensvotum gegen ihn lanciert wird. Träte er selber zurück, würde direkt mit der Suche nach einem Nachfolger begonnen werden. Ein Misstrauensvotum ist ein etwas komplizierterer Schritt, der zuerst eine anonyme Abstimmung der Tory-Abgeordneten erfordert. Bis ein Nachfolger erkoren wäre, würde es in beiden Fällen mehrere Monate dauern. Und so oder so: Johnson erklärte bereits im Voraus, dass er um sein Amt kämpfen werde.

Versuche, die Position des Premierministers zu stärken, die Medien abzulenken und Parteimitglieder wieder auf Linie zu bringen, sind unlängst gestartet. So verkündete Boris Johnson etwa am Mittwoch (19. 1.), dass mit fast sofortiger Wirkung alle Corona-Massnahmen unter dem geltenden «Plan B restrictions»-Regime aufgehoben würden. Masken, Mindestabstand und Kapazitätsbegrenzungen fallen weg.

Daneben wurden zwei Operationen lanciert. Unter dem Codenamen «Operation Save Big Dog» versucht die Downing Street die Verantwortung für die Partys vom Premierminister weg auf die Schultern von diversen Regierungsangestellten abzuwälzen. So werden in britischen Medien diverse Namen von hochrangigen Beamten herumgereicht, die schon bald entlassen werden könnten. Unter ihnen befindet sich fast der gesamte engere Stab des Premierministers, bestehend aus dem Privatsekretär Martin Reynolds, dem Stabschef Dan Rosenfield und dem Pressesprecher Jack Doyle.

Neben der Möglichkeit von personellen Konsequenzen wurde auch eine zweite Operation mit dem Namen «Operation Red Meat» lanciert. Diese beinhaltet teilweise populistische Vorschläge, welche die Regierung umsetzen will. So solle etwa die britische Armee an den Ärmelkanal entsandt werden, um die illegale Einwanderung von Bootsflüchtlingen einzuschränken, es solle Geld in die Ausbildung von Arbeitslosen fliessen, und die Abgabe für den öffentlichrechtlichen Rundfunk Grossbritanniens, die BBC, solle für zwei Jahre auf 159 Pfund belassen und nicht inflationsbedingt erhöht und ab 2027 wohl komplett abgeschafft werden. Eine mögliche Abschaffung der Gebühren nährt die Befürchtung, dass dies das faktische Ende der ältesten, grössten und als am vertrauenswürdigsten geltenden Rundfunkanstalt der Welt bedeuten würde.

Vor allem das letzte Vorhaben – der BBC die finanziellen Mittel zu streichen – stiess weit verbreitet auf grosse Empörung. Kritiker der Tories werfen den Konservativen schon lange vor, traditionsreiche britische Institutionen wie etwa die königliche Seenotrettungsgesellschaft Royal Naval Lifeboat Institution (RNLI), den staatlichen Gesundheitsdienst (NHS), den National Trust (eine Organisation für Kultur- und Naturschutz) oder eben die Rundfunkanstalt BBC durch gezielte Kritik in ihrer Bedeutung zu untergraben und damit erheblich zu schwächen.

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