Bosnienkrieg beginnt vor 30 Jahren vor einem Fussballstadion

Damir Sagolj / Reuters

Dreissig Jahre nach Ausbruch des Krieges in Sarajevo verdeutlicht der Fussball die ethnischen Konflikte in Bosnien-Herzegowina. Identität und Heimatgefühle sind hier immer noch kompliziert.

Der Zerfall Jugoslawiens hatte begonnen, doch in Sarajevo war die Fussball-Nationalmannschaft des Vielvölkerstaates noch willkommen. Im Oktober 1991 reiste die Auswahl für ein Freundschaftsspiel in die bosnische Hauptstadt. Anlass war der siebzigste Geburtstag des Traditionsvereins FK Zeljeznicar, der Eisenbahner. Im Stadion wehten jugoslawische Fahnen, Friedenstauben stiegen auf, mehr als 20 000 Menschen applaudierten vor allem für Ivica Osim. Der damalige Nationaltrainer Jugoslawiens stammt aus Sarajevo, sein Team zählte zu den Favoriten für die Europameisterschaft 1992 in Schweden. Fast zwanzig Jahre war Osim zuvor für Zeljeznicar aktiv gewesen, als Spieler und als Trainer.

Über Jahrzehnte war Bosnien-Herzegowina die einzige jugoslawische Teilrepublik gewesen, in der es keine klare Bevölkerungsmehrheit gab. In der Hauptstadt lebten 1991 rund 530 000 Menschen. Die Hälfte von ihnen waren Muslime, die sich bis heute Bosniaken nennen, ferner 30 Prozent orthodoxe Serben und 7 Prozent katholische Kroaten. Keine Gemeinde im Umkreis war ethnisch homogen, gemischte Ehen waren selbstverständlich. Sarajevo war ein Sinnbild für Vielfalt – und für eine Illusion.

Ein Mahnmal – das Fussballstadion des FK Sarajevo in einer Aufnahme von 1997.

Ein Mahnmal – das Fussballstadion des FK Sarajevo in einer Aufnahme von 1997.

Giorgio Lotti / Mondadori / Getty

Im Juni 1991 hatten bereits die wirtschaftlich stärkeren Teilrepubliken Kroatien und Slowenien ihre Unabhängigkeit erklärt. Nach einem Referendum im März 1992 vollzog auch Bosnien-Herzegowina diesen Schritt. Die Minderheit der bosnischen Serben wollte das nicht akzeptieren. Anfang April 1992, also vor genau dreissig Jahren, umzingelten ihre Truppen Sarajevo. Die Belagerung dauerte fast vier Jahre und forderte mehr als 11 000 Menschenleben. Der Bosnienkrieg prägt die Identitätssuche auf dem Balkan bis in die Gegenwart. Ein Ventil dafür: der Fussball.

Der jugoslawische Nationaltrainer Osim kapituliert vor dem Krieg

Anschaulich wird das in Grbavica, einem Stadtviertel von Sarajevo, in dem der FK Zeljeznicar seit Jahrzehnten zu Hause ist. Am 5. April 1992 besetzten dort serbische Milizen eine Polizeiakademie in der Nähe des Stadions. Zur gleichen Zeit sollte Zeljeznicar in der jugoslawischen Liga ein Heimspiel gegen den FK Rad aus Belgrad bestreiten. Serbische Scharfschützen zielten willkürlich auf Zivilisten, auch auf das Stadion, Spieler und Fans konnten sich in Sicherheit bringen.

Fans des FC Sarajevo 2006 im Stadion des Stadtrivalen Zeljeznicar, des Vereins der Eisenbahner.

Fans des FC Sarajevo 2006 im Stadion des Stadtrivalen Zeljeznicar, des Vereins der Eisenbahner.

Danilo Krstanovic / Reuters

Über Monate lag das Stadion direkt an der Front. Serbische Kämpfer verschanzten sich hinter dem Vereinsheim. Es kam zu Gefechten mit bosniakischen Einheiten, eine Tribüne ging in Flammen auf, der Rasen glich einem Krater. Derweil sass in der jugoslawischen Hauptstadt Belgrad der Nationaltrainer Ivica Osim und versuchte verzweifelt, seine Familie in Sarajevo zu erreichen. Noch bevor seine Mannschaft von der EM 1992 ausgeschlossen wurde, hatte er seinen Rücktritt verkündet. «Mein Land hat es nicht verdient, an der Europameisterschaft teilzunehmen», sagte er. «Der Rücktritt ist das Einzige, was ich für meine Stadt tun kann. Damit die Menschen sich erinnern, dass ich in Sarajevo geboren bin.»

Der jugoslawische Nationaltrainer Ivica Osim (Mitte) 1987 bei einem Länderspiel gegen England. Osim verkündete im Mai 1992 in den Kriegswirren seinen Rücktritt.

Der jugoslawische Nationaltrainer Ivica Osim (Mitte) 1987 bei einem Länderspiel gegen England. Osim verkündete im Mai 1992 in den Kriegswirren seinen Rücktritt.

Bob Thomas / Getty

Auch drei Jahrzehnte später sind die Kriegsspuren im Stadtteil Grbavica allgegenwärtig. Häuser mit Einschusslöchern, zersplitterte Scheiben, bröckelnder Putz. Das Stadion des FK Zeljeznicar ist modernisiert, an der Westtribüne erinnert eine Tafel an die Opfer. «Für probosnische Fangruppen ist das Gedenken identitätsstiftend», sagt der Leipziger Politikwissenschafter Alexander Mennicke, der das Thema seit langem erforscht. Ultras besingen ihr geschundenes Viertel und präsentieren auf Bannern kämpfende Soldaten. Sie organisieren Gedenkturniere für Dzevad Dzilda. Der Fananführer wollte 1992 eine angeschossene Frau retten und wurde von einem Scharfschützen getötet. Auf Graffiti in Sarajevo sticht eine Botschaft hervor: «Kein Vergeben, kein Vergessen!»

Von einer durchmischten Gesellschaft kann in Bosnien-Herzegowina heute keine Rede mehr sein. Mehr als zwei Millionen Menschen mussten während des Krieges ihre Heimat verlassen. Nach dem Dayton-Friedensabkommen 1995 wurde der neue Staat in zwei Teilgebiete getrennt. Bosniaken und Kroaten erhielten 51 Prozent des Territoriums, eine symbolische Mehrheit. Der serbisch geprägten Republika Srpska wurden 49 Prozent zugesprochen. Bosnier mit muslimischen, serbischen und kroatischen Wurzeln leben nun nicht mehr miteinander, sondern nebeneinander. Auch im Fussball: In den ersten Jahren nach dem Krieg wollten die Bevölkerungsgruppen ihre eigenen Meisterschaften austragen. Erst Anfang des Jahrtausends kamen sie in einer Liga zusammen.

Die Vereine hängen am Tropf der Regionalregierungen

Semir Mujkic

Semir Mujkic

Ronny Blaschke

Der Krieg ist lange vorbei, der Nationalismus aber lebt weiter. In Bosnien-Herzegowina streiten Dutzende regionale Regierungen, Ministerien und Parlamente um Ideologien, Gebiete, historische Deutungen. Dem obersten Staatspräsidium gehören ein bosniakischer, ein kroatischer und ein serbischer Vertreter an, alle acht Monate wechselt der Vorsitz. Die Kosten für diesen Apparat werden auf jährlich 6 Milliarden Euro geschätzt, dabei liegt das Bruttoinlandprodukt gerade einmal bei 18 Milliarden. «Im Konkurrenzkampf der Parteien spielt Fussball eine wichtige Rolle», sagt der bosnische Journalist Semir Mujkic. «Vereine sind finanziell von den Regionalregierungen abhängig, Politiker sitzen in den Klubvorständen. Häufig übernehmen Fans politische Arbeit auf der Strasse.»

In den Stadien senden Ultras harte Botschaften aus, die Politiker öffentlich eher meiden. In Banja Luka, in der Hauptstadt der serbisch dominierten Republika Srpska, stimmten Fans des FK Borac Gesänge für Ratko Mladic an. Der bosnisch-serbische General war 1995 für das Massaker von Srebrenica verantwortlich, für die Ermordung von 8000 Bosniaken. Ein Spruch der Borac-Ultras: «Messer, Stacheldraht, Srebrenica.» Für eine andere Kontroverse sorgte Ognjen Vranjes, geboren in Banja Luka. Der Profifussballer liess sich den Grenzverlauf der Republika Srpska und das Konterfei von Momcilo Dujic auf den Körper tätowieren. Der serbische Priester Dujic hatte im Zweiten Weltkrieg mit den Nazis kollaboriert.

Ognjen Vranjes verbreitet eine deutliche Botschaft.

Ognjen Vranjes verbreitet eine deutliche Botschaft.

Laurie Dieffembacq / Imago

Auch Provokationen wie diese ebnen den Weg von Milorad Dodik. Als serbischer Vertreter im dreiköpfigen Staatspräsidium schürt er Zweifel am nationalen Fundament von Bosnien-Herzegowina. Dodik fordert für die Republika Srpska eine eigene Armee und einen eigenen Justizapparat. Er freute sich über Unterstützung aus dem Kreml, auch nach Beginn des Angriffskrieges gegen die Ukraine. Seit Jahren bestehen im Fussball Verbindungen nach Russland, wie das «Balkan Investigative Reporting Network» recherchierte. Prorussische Netzwerke haben paramilitärische Trainings in der Republika Srpska organisiert, bosnisch-serbische Hooligans nahmen daran teil. Später sollen sie für russische Interessen in den Krieg gezogen sein, in der Ostukraine und in Syrien. Vor kurzem zeigten Fans in Banja Luka ein Banner mit der Botschaft: «Serben und Russen – Gott ist mit uns.» Ihre kyrillische Schrift und die Farben ihres FK Borac lehnen sich an die Symbolik des Nachbarstaates Serbien an.

Seit Jahrzehnten verlaufen die Konfliktlinien quer durch Bosnien-Herzegowina – und manchmal direkt durch eine Stadt. Ein Beispiel ist Mostar in der Herzegowina, in einer Region im Südwesten des Landes, nicht weit von der Grenze zu Kroatien entfernt. Mostar mit seinen rund 100 000 Einwohnern veranschaulicht die Komplexität des Bosnienkrieges. Zunächst kämpften dort muslimische Bosniaken und Kroaten gemeinsam gegen Serben. Schon bald wünschten sich kroatische Nationalisten den Anschluss der Herzegowina an den «kroatischen Mutterstaat». Sie wandten sich gegen ihre Verbündeten.

In Mostar verlief die Konfliktlinie quer durch die Stadt.

In Mostar verlief die Konfliktlinie quer durch die Stadt.

Roger Hutchings / Corbis / Getty

Zu jener Zeit war Esmer Meskic noch ein Kleinkind. Mit seiner Familie wurde er für einige Wochen in einem kroatischen Lager interniert. Nach dem Krieg verfestigte sich die ethnische Trennung von Mostar. In der östlichen Hälfte leben überwiegend Bosniaken, in der westlichen Hälfte katholische Kroaten. Meskic besuchte in den nuller Jahren eine gemischte Schule, allerdings ging er dort in eine Klasse mit ausschliesslich muslimischen Schülern. «Wir sind den Kroaten nur in den Pausen begegnet», sagt er. «Häufig gab es Konflikte. Ein Sicherheitsdienst war rund um die Uhr anwesend.»

Esmer Meskic

Esmer Meskic

Ronny Blaschke

Die Spannungen übertrugen sich auf den Fussball. Mit 16 schloss sich Meskic den Ultras von Velez Mostar an. Der 1922 gegründete Verein war über Jahrzehnte ein Symbol für die multikulturelle Stadt gewesen, doch nach dem Krieg war es damit vorbei. Velez musste sein altes Stadion im Westen der Stadt an den Lokalrivalen abtreten, an HSK Zrinjski Mostar. Zrinjski ist ein Klub mit kroatischen Wurzeln, der im kommunistischen Jugoslawien verboten war. Rund um das Stadion von Zrinjski sind Wände mit Hakenkreuzen und nationalistischen Symbolen beschmiert.

Ultras von Velez feiern Generäle – und einen früheren Bundesligaspieler

«Fans von Zrinjski haben Kriegsverbrechen der kroatischen Truppen gefeiert», sagt Esmer Meskic. «Viele von ihnen würden lieber in der Liga von Kroatien spielen und nicht in Bosnien.» 2008, als die Türkei im EM-Viertelfinal Kroatien besiegte, kam es als Reaktion in Mostar zu Ausschreitungen mit Verletzten. Ein Jahr später wurde in einer Kleinstadt nahe Mostar ein Fan aus Sarajevo mutmasslich von einem bosnischen Kroaten erschossen. Der Tatverdächtige setzte sich in die kroatische Hauptstadt Zagreb ab, wo er keine Auslieferung fürchten muss.

Graffiti in Mostar.

Graffiti in Mostar.

Ronny Blaschke

Die Fanszenen in Bosnien-Herzegowina pflegen die historischen Erzählungen ihrer Bevölkerungsgruppen. Auch die Ultras von Velez Mostar feiern Generäle aus dem Krieg. Aber nicht nur das. Einer ihrer Helden ist Sergej Barbarez, geboren in Mostar, für Velez aktiv zwischen 1984 und 1991. Um die Jahrtausendwende spielte der Stürmer in der Bundesliga, unter anderem für Borussia Dortmund und den Hamburger SV. Aufgebote für Länderspiele Bosnien-Herzegowinas akzeptierte Barbarez aber erst nach einigen Jahren. Er wollte sichergehen, dass seine kroatischstämmige Mutter in Mostar nicht mehr von Nationalisten bedroht wird.

Der frühere Bundesligaspieler Sergej Barbarez spielte für Dortmund und Hamburg – aber erst später für das bosnische Nationalteam.

Der frühere Bundesligaspieler Sergej Barbarez spielte für Dortmund und Hamburg – aber erst später für das bosnische Nationalteam.

Jacques Collet / Imago

Lebenswege wie jene von Sergej Barbarez wiederholten sich. Mitunter boykottierten Spieler das bosnische Nationalteam. Nach ihrer Einschätzung legte der Fussballverband von Bosnien-Herzegowina mehr Wert auf Herkunft und nationale Identität, weniger auf sportliches Talent. Nach Regeln der Fifa darf der Verband nur einen Präsidenten stellen, aber seinem Vorstand gehören Bosniaken, Serben und Kroaten mit jeweils fünf Mitgliedern an. «Es gibt bei uns im Land viele Menschen, die das Nationalteam von Serbien oder von Kroatien unterstützen», sagt Dzenan Dipa, Mitarbeiter des bosnischen Fussballverbandes. «Das ist in Ordnung, solange alles friedlich bleibt. Identität und Heimatgefühle sind bei uns eben etwas komplizierter.»

Und plötzlich freut sich ganz Bosnien-Herzegowina

Dzenan Dipa

Dzenan Dipa

Ronny Blaschke

Dipa hat fast sein ganzes Leben in Sarajevo verbracht. Während der Belagerung war er noch in der Pubertät, fast vier Jahre konnte er die Wohnung der Familie nicht verlassen. Inzwischen entwickelt er für den bosnischen Fussballverband soziale Projekte: eine Schulliga, Mädchenturniere, Prävention gegen Drogen. «Die junge Generation hat mit dem Krieg nichts zu tun», sagt Dipa. «Der Fussball kann dabei helfen, dass wir den Hass nicht weitertragen.» Es sind jedoch weniger die Kinder, auf die er behutsam einreden muss, als eher deren Eltern.

Dipa betont das Verbindende in der Gesellschaft, nicht das Trennende, daher erinnert er gern an den Sommer 2014. Die bosnische Nationalmannschaft bestritt in Brasilien ihre bisher einzige WM. Gleich im ersten Spiel verlangte sie Argentinien einiges ab, unterlag aber 1:2. Zu Hause absolviert die bosnische Auswahl ihre Heimspiele in Sarajevo oder Zenica, in Städten mit muslimischer Bevölkerungsmehrheit. In Banja Luka oder in Mostar war das Team nicht wirklich willkommen. Aber 2014 während der WM, sagt Dipa, habe man sich auch dort für Bosnien gefreut. Seither hat die Mannschaft kein grosses Turnier mehr erreicht.

An der WM 2014 unterliegen die Bosnier nach beherzter Gegenwehr den Argentiniern um Lionel Messi (Mitte) nur knapp.

An der WM 2014 unterliegen die Bosnier nach beherzter Gegenwehr den Argentiniern um Lionel Messi (Mitte) nur knapp.

Matthew Ashton / Corbis / Getty

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