Chronische Schmerzen • Wer hilft?

Chronische Schmerzen sind als eigenständige Krankheit anerkannt und weit verbreitet. Unsere Lifeline-Expertin beantwortet die wichtigsten Fragen.

Das Entstehen einer chronischen Schmerzerkrankung ist ein schleichender Prozess und wird vom Patienten meist nicht rechtzeitig als solcher wahrgenommen.
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Wie entsteht eine chronische Schmerzerkrankung? Warum bleiben Betroffene oft lange ohne richtige Therapie und worauf kommt es bei der Behandlung an? Darüber hat Lifeline mit der niedergelassenen Schmerztherapeutin und Lifeline-Expertin Dr. Alexandra Katinka Mayer gesprochen.

Lifeline: Frau Dr. Mayer, wann wird Schmerz eine Krankheit?

Dr. Alexandra Katinka Mayer: Schmerz ist ein Alarmsignal für den Körper. Er soll warnen und aufzeigen, dass etwas nicht stimmt. Ebenso melden sich Krankheiten mit Schmerzen. Dieser akute Schmerz sollte aber nach einer gewissen Zeit aufhören und je nach Anlass innerhalb von sechs Wochen abklingen. Verselbstständigt sich der Schmerz jedoch und dauert mehr als sechs Monate an, dann verliert er auch seine Warnfunktion und wir sprechen medizinisch von chronischen Schmerzen. Wobei sich die Chronifizierung auf verschiedenen Ebenen abspielt: Unter anderem entsteht eine Veränderung des Nervensystems. Hinzu kommen weitere Begleitfaktoren, die die Lebensqualität erheblich einschränken.

Zwischen dem Entstehen von chronischen Schmerzen und deren Diagnose mit Therapie vergehen oft Jahre. Woran liegt das?

A. K. M.: Das Entstehen einer chronischen Schmerzerkrankung ist ein schleichender Prozess und wird vom Patienten meist nicht rechtzeitig als solcher wahrgenommen. Treten plötzlich starke, stechende oder schneidende Schmerzen auf begleitet von einer Bewegungseinschränkung oder verstärkt sich der Schmerz bei einer Belastung, dann würden Betroffene direkt einen Arzt aufsuchen. Aber die Schmerzen beginnen beispielsweise beim unspezifischen Rückenschmerz moderat, der Patient will in der Arbeit nicht ausfallen und behandelt sich selbst mit frei verkäuflichen Schmerzmitteln in der Apotheke, macht aber ansonsten nichts anders. Geht der Patient dann zum Arzt, findet die Behandlung zumeist passiv statt – oft von beiden Seiten. Patienten hoffen, dass durch eine Spritze sofort die Schmerzen verschwinden oder die Verordnung von Massagen Wunder bewirken.

Das reicht nicht?

A. K. M.:  Nein, der Patient sollte selbst aktiv bleiben – gerade bei unspezifischen Rückenschmerzen. Dazu gehört, dass der Patient versteht, unter welcher Form des chronischen Schmerzes er leidet und welche Mechanismen daran beteiligt sind. Wer seine Schmerzen besiegen will, muss selbst aktiv werden sowie Strategien zur Schmerzbewältigung lernen und konsequent anwenden. Er sollte akzeptieren, wie wichtig nicht-medizinische Maßnahmen für seinen Therapieerfolg sind.

Der späte Therapiebeginn bei chronischen Schmerzen liegt daran, dass Patienten nicht früh genug zum Schmerztherapeuten gehen?

A. K. M.:  Bleiben wir beim Beispiel Rückenschmerz: Wenn Tabletten und Spritzen die Beschwerden nicht beseitigen, wird der Arzt versuchen, die Ursachen mit bildgebenden Verfahren zu finden. Wenn dabei ein leichter Bandscheibenvorfall festgestellt wird, ist der nächste Therapie-Schritt oft eine Operation. Die OP wird vom Patienten im Allgemeinen auch gewünscht, um die körperliche Ursache zu beheben. Doch eine solche OP kann mitunter bedeuten, dass der Patient weiterhin keine Eigenverantwortung für seine Therapie übernimmt.

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Welche Rolle spielt die Psyche bei chronischen Schmerzen?

A. K. M.:  Lassen Sie mich es am Beispiel von unkomplizierten Rückenschmerzen erklären: Auslöser des Schmerzes war anfangs starke körperliche Anstrengung, manchmal über längere Zeit hinweg. Im Verlauf entwickeln die Betroffenen neben einer zunehmend schmerzbedingten Bewegungseinschränkung auch eine Angst vor Bewegung, weil sie eine Verstärkung der Schmerzen fürchten. Was sie aber nicht wissen ist, dass dieser Bewegungsmangel die Schmerzen langfristig noch verstärkt. Denn die entstandene körperliche Schwäche lässt die Muskulatur nicht kräftig genug bleiben für eine körperliche Belastung. Somit wird die emotionale Angst vor Bewegung zusätzlich verstärkt durch einen Leistungsabfall etwa im beruflichen Bereich. So entsteht langsam, vielleicht initial nur auslöst durch körperliche Beschwerden, eine Beeinflussung der emotionalen Befindlichkeit und die wirkt sich auf den sozialen Bereich aus. Wir Schmerztherapeuten nennen dies bio-psychosoziales Modell als ganzheitliches Verständnis im Rahmen einer Schmerzchronifizierung. Dies kann aber genauso gut seinen Ausgang auf der sozialen Ebene nehmen wie beispielsweise durch Mobbing am Arbeitsplatz oder die Trennung vom Partner. Über die emotionale Belastung mündet das dann in körperlichen Beschwerden – den Schmerzen.

Wann raten Sie Patienten mit Schmerzen, sich gezielt an einen Schmerztherapeuten zu wenden?

A. K. M.:  Frühestens wäre mir lieber: nach sechs Monaten. Und spätestens nach einem dreiviertel Jahr. Dauern die Schmerzen dann immer noch an, sollte ein Schmerztherapeut eingeschaltet werden. Denn je länger die Beschwerden bestehen, umso weiter schreitet die Chronifizierung voran – und desto schwieriger und langwieriger ist die Therapie.

Wie kann der Schmerztherapeut erkennen, ob ein chronisches Schmerzsyndrom vorliegt?

A. K. M.:  Im Rahmen der Erstvorstellung beim Schmerztherapeuten erfolgt neben einer ausführlichen Anamnese die Sichtung der bisherigen ärztlichen und diagnostischen Befunde. Meistens kommt der Patient schon mit jahrelang bestehenden Schmerzen, so dass allein aufgrund der zeitlichen Dauer ein chronisches Schmerzsyndrom vorliegt. Standardisierte Verfahren, wie zum Beispiel der Mainzer Pain Staging Score oder der deutsche Schmerzfragebogen hilft das Chronifizierungsstadium zu erfassen von wenig chronifiziert bis sehr chronifiziert.

Wie geht es dann weiter?

A. K. M.:  Bei Schmerzerkrankungen der Stadien II und III, die schon jahrelang bestehen, kann die Überweisung in eine Schmerzklinik sinnvoll sein. Dort arbeiten mehrere Fachrichtungen schmerztherapeutisch zusammen, unter anderem auch Psychotherapeuten und Physiotherapeuten. Auf dem Therapieplan steht unter anderem neben theoretischem Unterricht über Themen wie Schmerzentstehung, Schmerzverarbeitung, Wirkung von Medikamenten auch das Erlernen von Schmerzbewältigungsstrategien, Achtsamkeitstraining, Aufbau und Förderung von Eigenverantwortung sowie aktivierende körperliche Maßnahmen, damit der Patient wieder Vertrauen in seinen Körper gewinnt und seine Bewegungsangst abbaut. Nach zwei bis vier Wochen kann die Behandlung beim ambulanten Schmerztherapeuten weitergehen.

Wie finden Patienten einen kompetenten Schmerztherapeuten?

A. K. M.:  Wichtig ist, dass der Arzt eine Zusatzweiterbildung zum Schmerztherapeuten absolviert hat, die ihn berechtigt, die Zusatzbezeichnung Spezielle Schmerztherapie zu führen. Das ist in der Regel auf dem Praxisschild vermerkt. Verschiedene Fachärzte können sich zum Schmerztherapeuten weiterbilden, zum Beispiel Anästhesisten, Allgemeinmediziner, Neurologen, Orthopäden oder, wie in meinem Fall, Fachärzte für Physikalische und Rehabilitative Medizin. Finden lässt sich ein Facharzt mit der Zusatzbezeichnung Spezielle Schmerztherapie beispielsweise über die Arzt-Suchfunktion der Landesärztekammern oder der Kassenärztlichen Vereinigung – oder einfach über Internet-Suchmaschinen mit Eingabe dieser Begriffe.

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