Der Autor ist mehr als Joseph Roths Schatten

Soma Morgenstern war in der Literaturgeschichte lange nicht mehr als ein Freund von Joseph Roth. Dabei hat Soma Morgenstern glänzende Bücher geschrieben. Nur zur falschen Zeit. «Zu jüdisch», hiess es in den 1930er Jahren.

«Freundschaft war der Segen meines Lebens.» Soma Morgenstern, fotografiert von Trude Fleischmann, New York, um 1947.

Trude Fleischmann / Deutsches Exilarchiv 1933–1945 der Deutschen Nationalbibliothek

Als Soma Morgenstern 1976 in New York gestorben ist, war dies kaum eine Nachricht wert. Die Welt hatte den Schriftsteller und Journalisten vergessen. Sie hatte ihn ausserhalb der engen Zirkel von Künstlern gar nie zur Kenntnis genommen. Die Schauspielerin Hertha Pauli beschrieb ihn als Schatten von Joseph Roth. Dies schien, wenn überhaupt, sein Plätzchen in der Geschichte zu sein. Dabei hätte alles anders kommen können, vielleicht.

Als Joseph Roth das erste Romanmanuskript seines Freundes gelesen hatte, kam er frühmorgens in Schlafrock und Hausschuhen an dessen Bett und küsste ihn auf die Stirn. «Du wirst wie ein Stern aufgehen. Dafür werde ich sorgen.» Es klang wie eine Segnung und ein grosses Versprechen.

Salomo Morgenstern wird 1890 in Budzanow, einer kleinen Gemeinde in Ostgalizien, geboren. Die Eltern sind fromme, chassidische Juden, der Vater arbeitet als Gutsverwalter. Man spricht Jiddisch, wobei Morgenstern immer betont hat, als Erstes Ukrainisch gelernt zu haben, die Sprache seiner Amme. Der Vater lässt den Jungen ins Gymnasium in Tarnopol unter der Auflage, dass er jeden Morgen ins Bethaus gehe und später Jus studiere, um Richter zu werden. Morgenstern folgt der väterlichen Weisung und studiert Recht in Wien und Lemberg. Den Ersten Weltkrieg erlebt er als Infanterist an der Ostfront in Ungarn und Serbien, er wird zum Offizier befördert, bleibt unverletzt.

Das Ende einer Welt

Seine Herkunft aber ist schon am Ende des Krieges nur noch eine Erinnerung. Das Kronland Galizien gibt es nicht mehr, der Vater ist 1908 an den Folgen eines Reitunfalls gestorben. Sein Lieblingsbruder Schmelkele stirbt 1915 in russischer Kriegsgefangenschaft. Morgenstern lebt in Wien, im achten Bezirk, wie auch Joseph Roth. Beiden bleibt die österreichische Staatsbürgerschaft erst verwehrt. Vorläufig sind sie Polen.

Morgenstern lebt das Leben «eines gemässigten Bohémien», wie er es selbst bezeichnet. Er treibt sich in Kaffeehäusern herum, im Café Herrenhof, im Café Museum und im Salon von Alma Mahler, mit der er viele Jahre später jeden Sonntag in New York frühstücken wird. Er spaziert und flaniert. Verkehrt mit Karol Rathaus, Hanns Eisler, Robert Musil und Alban Berg – mit der Kunst- und Geisteselite, die in Wien versammelt ist. Im Grunde sind die Themen schon da ausgelegt, über die Morgenstern später schreiben wird: die untergegangene Welt seiner jüdischen Kindheit und die intellektuellen Zirkel der Zwischenkriegszeit.

«Ein neuer Epiker des Judentums»

Morgenstern lebt eine Zeitlang in Berlin und Frankfurt, aber meistens in Wien, wo er Kulturkorrespondent der «Frankfurter Zeitung» ist. 1933 verliert er seinen Posten, weil die Nazis die Juden per Gesetz von Presseberufen ausschliessen. Morgenstern zieht nach Frankreich und beendet den ersten Teil seiner Romantrilogie «Funken im Abgrund».

Sie handelt von der Rückkehr des Wiener Architekturstudenten Alfred Mohylewski in die galizische Heimat und zum jüdischen Glauben seines Vaters – dieser war den umgekehrten Weg gegangen, er zog nach Wien und konvertierte zum Christentum. Der erste Band heisst «Der Sohn des verlorenen Sohnes». Morgensterns Romantrilogie besticht vor allem durch die Schilderung des jüdischen Landlebens in Podolien. Die Zeit für ein solches Buch hätte in Deutschland aber nicht schlechter sein können. Das wusste auch Joseph Roth. «In meinen Büchern übersetze ich die Juden für den Leser, Du gibst sie im Original», soll er Morgenstern gesagt haben. «Das ist gut für dich, aber nicht für das Buch auf dem Büchermarkt. Ausserdem hast du dich mit dem Buch verspätet, weil du faul bist.»

Morgenstern hat an dem Werk vier Jahre gearbeitet. Vor allem durch Vermittlung von Stefan Zweig kann es 1935 überhaupt publiziert werden im Berliner Erich-Reiss-Verlag. Bücher von jüdischen Autoren durften damals nur an jüdische Kunden verkauft werden. Hermann Hesse rezensiert das Buch in der «Neuen Zürcher Zeitung» im März 1936 und feiert Morgenstern als «neuen Epiker des Judentums». Roth hingegen tut gar nichts für seinen Freund, im Gegenteil. Zwei Verlegern versucht er das Werk mit der Bezeichnung «zu jüdisch» madig zu machen, wie er Jahre später gegenüber Morgenstern gesteht.

Der Nebenstrom von Joseph Roth

Die beiden hatten sich zuvor zerstritten, weil Roth eine Figur aus Morgensterns Roman einfach kopierte, sogar namentlich, und es auch noch bestritt. In einem Brief erklärte Roth schliesslich, dass er «wie ein Fluss sei, der, wie es in der Natur eingerichtet ist, von Nebenströmen bereichert wird. Und man solle ihn in Ruh lassen!» Morgenstern war für Roth ein Nebenstrom. Darauf folgte eine dreijährige Funkstille. Die Freunde, die zeitweise fast wie in einer Ehe zusammenzuleben schienen, wollten nichts mehr voneinander wissen.

Angesichts solcher Episoden mag es erstaunen, dass Morgenstern später schrieb: «Was Freundschaft betrifft, habe ich in meinem Leben besonderes Glück gehabt. Ich kann ohne Übertreibung sagen, dass es der Segen meines Lebens war.» Morgenstern verfolgt lange die Idee einer grossangelegten Autobiografie unter dem Titel «Ein Leben mit Freunden». Schliesslich befand er aber, dass er den Titel nicht verwenden könne, «weil ich zu der unglücklichen Generation gehöre, die in einer Flut von Weltgeschichte verunglückte, aus der nur einige ihr Leben gerettet haben, aber keinesfalls ohne Schaden davongekommen sind». Die Schrecken des Jahrhunderts waren zu gross, um das Glück der Freundschaft ins Zentrum einer Lebensbetrachtung zu stellen. So sind die Teile der Biografie Fragmente geblieben.

«Mit einem Menschen ein Leben lang befreundet zu sein heisst, mit ihm einen Sack voll Salz aufessen», schreibt Morgenstern. Im Falle von Joseph Roth waren es mehrere Säcke. So schildert Morgenstern etwa, wie an Roths Beerdigung mehrere Herren auf ihn zukommen, ihr Beileid aussprechen und betonen: «Natürlich hat sich zwischen uns nichts geändert, Herr Dr. Morgenstern.» Morgenstern versteht nicht. Später erfährt er, dass Roth bei Freunden Geld sammelte, angeblich um den bedürftigen Freund in Paris zu erhalten. Von den Zustupfen hat er nichts gesehen.

Dichter aus Galizien und der Bukowina

rbl. · Wir setzen mit diesem Text über Soma Morgenstern unsere Porträtreihe zu deutschsprachigen Autoren aus Galizien und der Bukowina fort. Es handelt sich dabei um die beiden östlichsten Kronländer der Habsburgermonarchie – heute gehören weite Teile dieses Gebiets zur Ukraine, so auch die einstigen Landeshauptstädte Czernowitz (Tscherniwzi) und Lemberg (Lwiw). An der Peripherie des österreichisch-ungarischen Grossreiches entstand um die Jahrhundertwende Weltliteratur. Die Träger der deutschsprachigen Kultur waren hauptsächlich Juden. Und obwohl viele Autoren auch des Ukrainischen, des Polnischen oder des Jiddischen mächtig waren, entschieden sich einige, auf Deutsch zu schreiben. Ihre Biografien sind fast immer auch Geschichten von Flucht und Vertreibung. Die Nazis haben dieses einmalige Kulturleben ausgelöscht. Hier stellen wir bekannte wie auch etwas in Vergessenheit geratene Autoren vor.

Soma Morgenstern, am 3. Mai 1890 in Budzanów geboren, hiess eigentlich Salomo Morgenstern. Er schrieb als Journalist für das Feuilleton der «Frankfurter Zeitung» und war Schriftsteller. Sein Werk ist zum einen dem Ostjudentum gewidmet, einer in der Shoah untergegangenen Welt («Funken im Abgrund»). Zum anderen besteht es aus seinen fragmenthaften Memoiren (u. a. «In einer anderen Zeit», «Joseph Roths Flucht und Ende», «Alban Berg und seine Idole»). Morgenstern wuchs am östlichsten Rand von Österreich-Ungarn auf; nach dem Ersten Weltkrieg war er Pole, später Österreicher und ab 1946 Amerikaner. In den neunziger Jahren wurde das Gesamtwerk Soma Morgensterns im Zu-Klampen-Verlag erstmals auf Deutsch herausgegeben. Am 17. April 1976 starb Soma Morgenstern in New York. – Nächste Woche erscheint an dieser Stelle ein Porträt des Dichters Paul Celan (1920–1970).

Enttäuschung über Teddie Wiesengrund

Morgenstern muss ein guter Freund gewesen sein, zumindest hat er viel ertragen. Und die Menschen, an denen er sich täglich messen musste, dürften es ihm nicht leichtgemacht haben, selbstbewusst zu sein. Seinem besten Freund, dem Komponisten Alban Berg, schreibt er einmal, dass er sich im Grunde schon immer als «einen recht überflüssigen Menschen empfunden habe». Morgenstern ist zwar ein begnadeter Erzähler, aber er bleibt in seinen Memoiren seltsam blass, manchmal fast unsichtbar. Er kannte Gott und die Welt, aber kannten die auch ihn?

Die Grosszügigkeit des Freundes Morgenstern schien fast grenzenlos zu sein. Eine gewisse Strenge zeigte er höchstens, wenn es um das Jüdische ging. Mit Teddie Wiesengrund war er lange befreundet, er konnte es ihm aber nie verzeihen, dass sich dieser in Theodor W. Adorno umbenannte – dass er den «jüdischen Wiesengrund» abgemäht hatte, wie sich Morgenstern ausdrückte. «Ihn hat der Ehrgeiz fett gemacht. So ist er der Professor Adorno geworden.»

Mit Roth wiederum kommt es zu einem heftigen Streit, als dieser in Paris verbreitet, er sei eigentlich Halbjude, sein Vater ein k. u. k. Offizier, mit dem seine Mutter eine Affäre gehabt habe. Als ihn Morgenstern mit der Lügengeschichte konfrontiert, sucht dieser ausnahmsweise keine Ausflüchte: «Bitte, schlag zu. Zwei Ohrfeigen. Ich habe sie redlich verdient.»

«Böse, besoffen, aber gescheit»

Roth und Morgenstern kommen 1937 durch die Vermittlung von Stefan Zweig wieder zusammen. Paris, Hotel Bristol, wortlose Umarmung. Soma Morgenstern hält später fest, der 43-jährige Roth habe wie ein sechzigjähriger Säufer ausgesehen. Gedunsen, schlaff, die Nase gerötet, die blauen Augen voll Blutwasser in den Winkeln, das Haar am Kopf stellenweise wie ausgerupft.

Die beiden leben vor Roths Tod wieder Tür an Tür im Hotel de la Poste. Die Tage verbringt man im Café Tournon, wo Roth, einer Legende gleich, die österreichischen Migranten an seinem Tisch versammelt. In einer Tabakwolke und in Alkoholdunst. Roth schreibt, trinkt Pernod, und lässt sich von der Welt berichten. Gutes kommentierte er mit: «Unerhört!». Schlechtes mit: «Das ist ja ekelhaft!» Am Abend sei er sternhagelvoll gewesen.

Die grimmige Zeichnung eines holländischen Malers im November 1938 unterschreibt Roth gleich selbst: «Das bin ich wirklich; böse, besoffen, aber gescheit.»

Wo ist Soma Morgenstern bei alledem? Er sitzt an Joseph Roths Seite. Vielleicht wusste er es damals noch nicht, aber seine Rolle war die des Zeitzeugen und Chronisten. Als solcher hat er in gewisser Weise auch die Macht über die Erinnerung erlangt. Im Falle Roths sind die Aufzeichnungen ein traurig-wahnwitziges Porträt eines Alkoholikers geworden.

Auf die Nachricht, dass der deutsche Schriftsteller Ernst Toller in New York Selbstmord begangen hat, bricht Roth zusammen. Wenig später stirbt er im Spital.

Das jüdische Gewissen

Worauf basierte die Freundschaft zwischen ihm und Morgenstern? Es verband sie sicher das Interesse an der Literatur, am Schreiben. Aber viel mehr noch die gemeinsame Herkunft. Morgenstern schien Roths jüdisches Gewissen gewesen zu sein. Er erinnerte ihn daran, wer er war, woher er kam. Roth erhielt ein christliches Begräbnis (obwohl er nicht katholisch war), Morgenstern kümmerte sich um das Kaddisch, das Totengebet.

Morgensterns bester Freund, der Komponist Alban Berg, ist bereits 1935 gestorben. In «Alban Berg und seine Idole» schildert er die Umstände. Gemäss Morgenstern hatte Berg einen Furunkel, den dieser nicht von einem Arzt behandeln liess. Stattdessen schnitt dessen Frau Helene den Furunkel selbst mit einer Schere auf. Alban Berg stirbt an einer Blutvergiftung im Spital in Wien.

Tote, nichts als Tote

Alban Berg, Ernst Toller, Joseph Roth, Walter Benjamin, Stefan Zweig – der Tod wird zu Morgensterns Begleiter. Seine Mutter kommt im Konzentrationslager ums Leben, ebenso sein Bruder Moses und die Schwester Helena. Nur eine Schwester, Klara, überlebt den Zweiten Weltkrieg in Palästina – sie stirbt 1953 bei einem Unfall.

Morgenstern gerät als «feindlicher Ausländer» in Frankreich in Internierungshaft. Hier erfährt er auch, dass ihn die Nazis wohl gesucht hatten und dass er sein Leben womöglich einem Beamtenfehler verdankte. Die Gestapo in Wien verzeichnete ihn unter «Sonia Morgenstern». Schliesslich kann er über Marseille, Casablanca und Lissabon nach New York fliehen. Am 1. April 1941 legt er mit einem Überseedampfer nach New York ab.

Rückkehr ins Café Museum

Morgenstern ist fünfzig Jahre alt, ein unbekannter Exilschriftsteller. Er mietet sich im «Hotel Park Plaza», an der Upper West Side, in der Nähe des Central Park ein, wo viele österreichische Migranten hinkommen. Zum Essen geht er in ein griechisches Restaurant um die Ecke, das Café Museum. Es erinnert ihn an sein Stammcafé, «obwohl es mit dem Wiener Café soviel Ähnlichkeit hat wie ein Affe mit einem Menschen».

Bei der Lektüre seiner Memoiren ist man gelegentlich überrascht, wenn Morgenstern seine Frau erwähnt. Seine Männerfreundschaften nehmen so viel Platz ein, dass man ihn für einen Junggesellen hält. 1928 heiratet Morgenstern Ingeborg von Klenau, die Tochter des dänischen Komponisten Paul von Klenau. Ein Jahr später kommt sein Sohn Dan auf die Welt. Während Soma Morgenstern in New York ist, überleben die beiden den Krieg in Dänemark. 1946 erhält Morgenstern die amerikanische Staatsbürgerschaft. Ein Jahr später kommen Frau und Kind nach New York. Morgenstern mietet ihnen eine Wohnung. Er selbst bleibt im Hotel Park Plaza für weitere zwanzig Jahre. Erst nach einem Herzanfall zieht er mit seiner Frau zusammen.

Der Mann, der diktiert

Morgenstern soll ein Frauenheld gewesen sein, heisst es in der Literatur gelegentlich. Er selbst verliert darüber kein Wort. Seine Memoiren schreibt er im Wesentlichen nicht auf, er diktiert sie seinen Freundinnen Nora Koster und Lotte Andor. Seine Erinnerungen an seine Kindheit («In einer anderen Zeit») und die Aufzeichnungen zu Alban Berg und Joseph Roth haben eine eigentümliche Unmittelbarkeit, das anekdotische Erzählen entwickelt einen starken Sog. Man erkennt den jüdischen Geschichtenerzähler und den journalistischen Vollprofi. Man könnte fast sagen: Morgenstern diktierte besser, als er schrieb.

«Ich tue das, um nicht der gefährlichen Verlockung ausgesetzt zu sein, mit Kunst ans Werk zu gehen», erklärte Morgenstern der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» 1975 den Sinn des Diktierens. «Mir kommt es auf Wahrheit an. Sonst hat eine Autobiografie, meiner Meinung nach, gar keinen Sinn. Es gibt vielleicht Autoren, die auch dichten, wenn sie nur diktieren. Bei mir ist das nicht der Fall.»

«Ein Schriftsteller, der seine Sprache nicht liebt, hat keine Sprache.» Soma Morgenstern, undatierte Aufnahme.

«Ein Schriftsteller, der seine Sprache nicht liebt, hat keine Sprache.» Soma Morgenstern, undatierte Aufnahme.

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Verhasst in die Deutschen

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs verfällt Morgenstern in Depressionen und hat Selbstmordgedanken. «Seit 1945 verging kaum ein Tag ohne solchen Gedanken. Es ist kein Vorsatz dahinter, kein Entschluss, kein Vorhaben. Nur kann ich kein anderes Ende für mich sehen. (. . .) Im Grunde war es schon so in Paris. So lange ist es schon!» Am 18. Mai 1949 schreibt Morgenstern in sein Tagebuch, er fühle sich als «ein Schriftsteller ohne Sprache. Ich habe mich in die Deutschen so sehr verhasst, dass ich auch die deutsche Sprache nicht lieben kann. Und ein Schriftsteller, der seine Sprache nicht liebt, hat keine Sprache.»

Mit Schreiben und noch mehr mit dem Diktieren kämpft Morgenstern gegen das Vergessen. Immer wieder thematisiert er den Gedächtnisverlust durch die Lageraufenthalte in Frankreich. In seinem Roman «Flucht in Frankreich» schreibt er: «Das ist die grosse, die unentrinnbare Gefahr des Konzentrationslagers: sie zerreissen, sie zerstören, sie vernichten das zarteste Gewebe des Lebens: das Gedächtnis.» Auch deshalb kommt der mündlichen Sprache, seinem Diktieren eine eigentümliche Kraft zu. Erst das mündliche Erzählen schien seine Erinnerung freizulegen. Den flüchtigen Erinnerungen begegnet er umso entschlossener mit einem ungeheuren Konvolut an Geschichten, Anekdoten, direkter Rede. Obschon die Erlebnisse zum Teil Jahrzehnte zurückliegen, hat Morgenstern keine Angst vor Zitaten.

Die anderen lebten in seinem Leben

In New York lebt er von einer «Wiedergutmachungsrente» als Entschädigung dafür, dass er von der «Frankfurter Zeitung» entlassen wurde. Anfangs verfasst er auch Untertitel für fremdsprachige Filme. Zum Spazieren geht er in den Central Park, ein Gefängnis für Bäume, wie er es nennt. Er vermisst das Dorf und weiss doch, dass er im Dorf die Stadtmenschen vermissen würde. Ist er noch ein gläubiger Jude? So genau scheinen das auch seine Freunde nicht zu wissen. «In gewisser Weise war er sehr religiös. Ich glaube, er ging nicht in die Synagoge, weil er nicht an organisierte Religion glaubte», sagt der New Yorker Karikaturist Al Hirschfeld über ihn. Aber er sei ein bewusster Jude gewesen.

Wie sich Morgenstern in seinen Erinnerungen auch zeigt, bleibt er doch eine Persönlichkeit ohne genaue Konturen. In seinen Memoiren brillieren und faszinieren immer die anderen, nicht er. Es scheint fast so, als habe er mehr in den Leben der anderen gelebt als in seinem eigenen. Oder: Die anderen lebten in seinem Leben. Der Autor beklagt sich darüber nie. Und doch wird man den Eindruck nicht los, dass er darunter auch gelitten hat.

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