Hertha und Union Berlin begegnen sich als zwei Vereine auf scheinbar gegensätzlichen Wegen | Bundesliga

TNatürlich gab es eine Zeit, in der das überhaupt keine Rivalität war. Die meiste Zeit des letzten Jahrhunderts existierten Hertha Berlin und Union Berlin in getrennten Welten: Getrennt durch Geographie und Geschichte, durch die 23 Kilometer vom Olympiastadion in Charlottenburg bis zur Alten Försterei in Köpenick, durch mehrere Ligen und – berühmt – eine große Mauer. Bis heute gibt es Union-Fans, die sagen, ihre größten Gegner seien nicht Hertha, sondern der Ost-Berliner Nachbar Dynamo, und singen auf dem Weg zu den Spielen weiterhin herzlich Anti-Dynamo-Lieder.

Tatsächlich bestand während des Kalten Krieges eine seltsame Solidarität zwischen den beiden Klubs. Hertha-Fans aus dem Westen kamen nach Ost-Berlin, um Union-Spiele zu sehen. Union-Fans würden Reisen nach Prag und Plovdiv unternehmen, um Hertha im europäischen Wettbewerb zu sehen. Im Januar 1990, ein paar Monate nach dem Mauerfall, spielten die Vereine vor 50.000 Fans im Olympiastadion ein emotionales Freundschaftsspiel. Es gab Tränen auf der Tribüne und Umarmungen auf dem Platz. Kurzzeitig schienen Hertha und Union den unbezähmbaren Geist der wiedervereinigten Stadt einzufangen.

Der Weg von dort nach hier war lang, holprig und oft erstaunlich. Am Samstag findet im Olympiastadion erst das 13. Pflichtspiel der beiden Mannschaften statt. Dies ist jetzt eine echte Rivalität, und doch wird sie im Gegensatz zu vielen Stadtderbys nicht durch einfache Bruchlinien definiert. Hertha, so lange Berlins herausragender Verein, ist 17. in der Bundesliga und kämpft immer noch damit, eine Reihe von Fehlentscheidungen der letzten Jahre abzuschütteln. Union, der ewige Underdog-Klub, für den das Gewinnen nie Teil seiner zentralen Mission war, ist hinter Bayern München Zweiter und hat die letzten vier Derbys gewonnen.

In gewisser Weise kämpfen diese Clubs also immer noch mit ihrem Selbstwertgefühl, immer noch ein wenig erschüttert über das Tempo des Wandels, der ihr Schicksal in entgegengesetzte Richtungen geführt hat. „Die Zukunft gehört Berlin!“ war während der schändlichen 0:5-Niederlage gegen Wolfsburg Mitte der Woche auf einem Banner am Spielfeldrand im Olympiastadion zu lesen. [The future belongs to Berlin!] Und doch fühlt sich die Zukunft für Hertha längst sowohl als Bedrohung als auch als Chance an.

Sandro Schwarz ist der achte Hertha-Trainer in den drei Jahren seit der Übernahme durch den Unternehmer Lars Windhorst. Seine Vision war, dass Hertha ein, wie er es nannte, „Big City Klub“ werden sollte: ein Weltgigant, das Berliner Äquivalent zu Paris Saint-Germain, quasi eine Art sportlicher Markenbotschafter der Stadt. Stattdessen wurden in Windhorsts Amtszeit Hunderte von Millionen für ineffektive Spieler, Chaos außerhalb des Spielfelds und einen langsamen Rückgang der Ergebnisse verschwendet. Während der zutiefst unbeliebte Windhorst davon träumte, Hertha zu einem der größten Vereine Europas zu machen, standen sie kurz davor, als größter Verein in ihrer eigenen Stadt an sich gerissen zu werden.

Spieler von Hertha Berlin und Union Berlin im Einsatz bei einem Freundschaftsspiel im Januar 1990 kurz nach dem Fall der Berliner Mauer. Foto: Ullstein Bild/Getty Images

Der bemerkenswerte Aufstieg von Union aus den Hinterwäldlern des deutschen Fußballs in die obersten Ränge ist gut dokumentiert; ebenso seine einzigartige Fankultur, die Gemeinschaft und soziales Gewissen in den Vordergrund stellt und sich den vorherrschenden kapitalistischen Winden des modernen Fußballs entgegenstellt. Lange vor dem Gewinn des Aufstiegs in die Bundesliga im Jahr 2019 hatte Union eine beträchtliche Kult-Anhängerschaft von Tagesausflüglern und Expats angezogen, die begannen, die Alte Försterei zu betreten, den Namen Union auf die Landkarte zu setzen, aber auch die ohnehin schon fieberhafte Nachfrage nach Tickets einzuschränken.

Der Erfolg war für Union-Fans also so etwas wie ein Kulturschock. Es hat ihnen unbezahlbare Erinnerungen, Europareisen und einige der besten Fußballspiele beschert, die sie je gesehen haben. Die Kapazität der Alten Försterei soll von 22.000 auf 37.500 erhöht werden. Aber wenn Sie Ihr gesamtes Ethos darauf aufgebaut haben, ein kleiner Arbeiterclub zu sein, der stark an seinen Ort gebunden ist und sich mit Köpenick genauso identifiziert wie mit Berlin, hält die Zukunft vielleicht ebenso viel Angst und Aufregung bereit. „Warum sollten wir ein Club für ganz Berlin sein?“ fragt Unionspräsident Dirk Zingler in Schisse! We’re Going Up!, Kit Holdens Buch über den Aufstieg des Clubs. „Es gibt Klubs, die das tun und am Ende überhaupt keine klare Identität haben.“

Das war vielleicht ein kaum verschleierter Hinweis auf Hertha, die sich über die Jahre hinweg bemühte, sich als Berlins einziger Verein zu vermarkten. „Berlin gegen Köpenick“, so charakterisierte Vereinspräsident und Ex-Ultra Kay Bernstein das Derby in dieser Woche. Doch unter Stammfans bleibt ein gewisses Unbehagen angesichts der weitläufigen Ambitionen des Clubs, was durch die Proteste gegen die geplante Übernahme des Clubs durch die amerikanische Investmentfirma 777 Partners bestätigt wird. „Hertha ist unser Verein – Identität, nicht Marketing für jeden Dollarschein“, stand beim Wolfsburg-Spiel auf einem Spruchband.

Wie viel Wachstum ist zu viel Wachstum? Wie sehr kann sich etwas ändern, bevor es anfängt, etwas anderes zu sein? Inwiefern existiert eine Stadt überhaupt jenseits eines Nahverkehrssystems und eines Postkartenständers? In gewisser Weise sind dies Fragen, die die Identität Berlins selbst berühren, einer Stadt, die immer eine gewisse kreative Spannung zwischen Globalem und Lokalem, Insidern und Outsidern, Vergangenheit und Zukunft, dem Ganzen und seinen Bestandteilen bewahrt hat. Auf den 23 km von Westend nach Köpenick durchqueren Sie nicht nur eine Stadt, sondern gleich mehrere: die gut betuchten Bürgerhäuser von Charlottenburg und Wilmersdorf, die sich schnell gentrifizierenden Bezirke Neukölln und Kreuzberg, die alten Industrieruinen Ost-Berlins, die jetzt mit neuen Wohnblöcken sprießen.

Vielleicht ist es das, was Hertha gegen Union zu einem so einzigartigen Stadtderby macht: eines, das von Anfeindungen, aber auch einer gewissen Ambivalenz geprägt ist. Der Rivalität nachzugehen bedeutet schließlich, den anderen teilweise als Rivalen anzuerkennen, die Stadt als ihre eigene eigenständige Einheit anzuerkennen, ein Revier, für das es sich zu kämpfen lohnt. Vielleicht gehört die Zukunft wirklich Berlin. Das Problem ist, dass niemand wirklich zu wissen scheint, wie es aussehen wird oder wer es gestalten darf.

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