Warum der verzögerte Atomausstieg deutsches Dorf spaltet | Deutschland

ÖAn einem Hang über dem Neckar im Südwesten Deutschlands, etwa 40 km von Stuttgart entfernt, liegt das Dorf Neckarwestheim mit seinen roten Terrakottadächern, umgeben von Weinbergen und Bauernfeldern, mit Straßen, die zu einem zentralen Marktplatz führen.

So weit, so typisch für eine baden-württembergische Landgemeinde. Eine Besonderheit hat die 4.200-Einwohner-Siedlung jedoch: Sie liegt direkt neben einem der drei verbliebenen Atomkraftwerke Deutschlands.

Die Herausforderungen, denen sich dieses malerische Dorf gegenübersieht, veranschaulichen, wie die Energiekrise Europas größte Volkswirtschaft beeinträchtigt, da Russlands Bewaffnung der Gasversorgung Deutschlands geplanten Übergang weg von der Kernenergie erschwert hat.

An einem klaren, klaren Herbsttag steigen Dampfwolken aus dem Druckwasserreaktor des Kernkraftwerks Neckarwestheim auf, bleich vor dem Hügel, zu dessen Füßen es steht. Für diejenigen, die bereit waren, mit einem Reaktor als Nachbarn zu leben, läutete seine Ankunft Mitte der 70er Jahre ein goldenes Zeitalter ein. Der erste Reaktor des Standorts stellte 2011 die Stromproduktion ein, während der zweite seit 1989 in Betrieb ist.

„Alle Träume wurden wahr“, sagt Jochen Winkler, Bürgermeister von Neckarwestheim, von seinem Büro mit Blick auf den Hauptplatz des Dorfes, das 2023 seinen 900. Geburtstag feiert.

In jüngerer Zeit blühte das Dorf auf; Die Bevölkerung hat sich in den vier Jahrzehnten, in denen das Kraftwerk dort steht, verdoppelt.

„Wir hatten ein Einkommen von drei- bis viermal so großen Gemeinden“, sagt Jochen Winkler, Oberbürgermeister von Neckarwestheim. Foto: Frank Bauer/The Guardian

Winkler rollt eine Liste der Annehmlichkeiten auf, die die Bewohner genießen, von einer Sporthalle und einem Kulturzentrum über subventionierte Kinderbetreuung bis hin zu einst sogar „Willkommensgeld“, das Eltern von Neugeborenen gezahlt werden, alles dank der erhobenen örtlichen Gewerbesteuern das Kraftwerk. Eigentümer ist die EnBW – ein mehrheitlich staatliches und börsennotiertes Energieunternehmen, dessen Name für Energie Baden-Württemberg steht.

„Wir hatten ein Einkommen, das dem von Gemeinden entspricht, die drei- oder viermal so groß sind wie wir“, sagt Winkler.

Doch das neigt sich dem Ende zu, Neckarwestheim II lebt auf geliehener Zeit, was den Handlungsspielraum der Kommune einschränkt. Zusammen mit den beiden anderen verbleibenden Kernkraftwerken in Deutschland sollte es bis Ende des Jahres abgeschaltet werden und die letzte Phase eines 11-jährigen Ausstiegsprozesses durchlaufen, der von der Regierung von Angela Merkel nach der Katastrophe von Fukushima 2011 in Japan eingeleitet wurde.

Frank Wagner
Frank Wagner vom Bundesverband der Bürgerinitiativen Mitte Neckar befürchtet, dass der nukleare Ausbau das schmale Ende des Keils ist. Foto: Frank Bauer/The Guardian

Die dringende Notwendigkeit, die Energieversorgung im Winter sicherzustellen, da Russland die Gaslieferungen nach Europa drosselte, veranlasste die Bundesregierung in Berlin jedoch, einen Hinrichtungsaufschub zu gewähren. Alle drei in Betrieb befindlichen Kernreaktoren – Neckarwestheim, Isar II im benachbarten Bayern und Emsland im Nordwesten nahe der niederländischen Grenze – dürfen nun bis Mitte April nächsten Jahres laufen.

Der Beitrag von Neckarwestheim zur deutschen Stromversorgung ist nicht unerheblich: 2021 erzeugte es 11 Mrd. kWh Strom. Der Reaktor liefert ein Sechstel des gesamten Stromverbrauchs in dem industrielastigen Land, in dem bedeutende Produktionsbetriebe, darunter mehrere Autowerke, angesiedelt sind, oder zwei Drittel davon der gesamte Strombedarf der 5 Millionen Haushalte des Staates.

„Menschen, die Angst vor oder ein Problem mit Atomkraft haben, leben hier nicht. Neubürger, die damit ein Problem haben, ziehen nicht hierher“, sagt Winkler.

Diese Aussage gilt sicherlich für Melita Marinkovic, die mit ihrem 12-jährigen Sohn, der gerade aus Ludwigsburg, 15 Meilen südlich, hierher gezogen ist, mit ihrem Welpen spazieren geht. „Wenn es ein Problem mit dem Reaktor gäbe, wären sie auch in Ludwigsburg betroffen“, sagt sie. Wie viele ihrer Nachbarn findet sie es schade, dass das Kraftwerk abgeschaltet wird: „Das ist eine gute Quelle sauberer Energie.“

Die Ansichten der Einwohner stehen im Gegensatz zur vorherrschenden öffentlichen Meinung in Deutschland, wo die bestehende Anti-AKW-Bewegung nach der Katastrophe von Tschernobyl 1986 an Bedeutung gewann, als die Befürchtungen über die Risiken der Atomkraft zunahmen.

Trotz Deutschlands vorübergehender Verlängerung setzen Gegner und Umweltverbände ihre Demonstrationen fort. Mit einem Anti-Atom-Abzeichen auf seinem Pullover befürchtet Frank Wagner vom Bundesverband der Bürgerinitiativen Mitte Neckar, dass der aktuelle Atomausbau nur das dünne Ende des Keils ist.

Rathaus Neckarwestheim.
Rathaus Neckarwestheim. Foto: Frank Bauer/The Guardian

„Dieser Schritt zeigt uns, dass der Damm gebrochen ist, sodass wir in den nächsten Monaten ganz einfach sagen können: ‚Oh, wir haben immer noch Energieknappheit, wir brauchen die Atomkraftwerke länger’“, sagt Wagner. Sorge bereitet ihm auch, dass noch kein Standort für die Endlagerung des deutschen Atommülls gefunden wurde; Die Diskussionen werden voraussichtlich fast 30 Jahre dauern.

Der baden-württembergische Staatssekretär für Umwelt, Klima und Energie, Dr. Andre Baumann, betont, dass die Verlängerung im April die letzte sein werde. Der Grünen-Politiker, dessen Partei im vergangenen Jahr im Rahmen einer Dreierkoalition mit Sozialdemokraten (SPD) und Freien Demokraten (FDP) in die Bundesregierung zurückgekehrt war, beharrt darauf, dass für Neckarwestheim keine neuen Brennstäbe angeschafft würden notwendig sein, um es über den April hinaus laufen zu lassen.

Für einige ist der April zu spät. Nachdem im Vorjahr bei einer Sicherheitsüberprüfung des Reaktors Risse in Heizrohren des Druckerzeugers festgestellt worden waren, entschieden sich zwei Anwohner, ihre Klage vor Gericht zu bringen. Ihr Fall wird noch in diesem Monat verhandelt.

Melita Marinkovic
Melita Marinkovic sagt, Kernkraft sei „eine gute Quelle sauberer Energie“. Foto: Frank Bauer/The Guardian

Der Betreiber des Reaktors, EnBW, spricht von einem „sehr hohen Sicherheitsniveau, auch im internationalen Vergleich“. Es fügt hinzu, dass ein früheres Gerichtsurteil festgestellt habe, dass es keinen Grund gebe, in den Betrieb des Reaktors einzugreifen. Auch die für die atomrechtliche Aufsicht zuständige Landesregierung zeigt sich zufrieden, dass die Anlage sicher laufen kann.

Baumann entschuldigt sich für die kühle Temperatur in seinem Büro – das Umweltministerium hat seine Thermostate auf 19 Grad eingestellt – und sagt: „Wir dürfen das Wesentliche nicht vergessen. Wir müssen weiter Energie sparen.

„Wir müssen unser Energiesystem für die Zukunft anpassen. Das heißt Erneuerbare, Erneuerbare, Erneuerbare. Die Errichtungskosten sind deutlich geringer als bei neuen Atom-, Kohle- oder Gasanlagen.“

Aber die Energiewende, oder die Energiewende von fossilen Brennstoffen zu erneuerbaren Energien, von denen Deutschland ein früher Anwender war, scheint in den letzten Jahren ins Stocken geraten zu sein. Viele beklagen, dass Pläne, mehr Windstrom aus dem stürmischen Norden in den energiehungrigen industriellen Süden zu transportieren, bereits 2014 auf Hindernisse gestoßen sind.

Während der Ausstieg aus nuklearen und fossilen Brennstoffen seit Jahren geplant ist, zwingt der Krieg die nationale Energiepolitik zum Umsteuern. Deutschland bemüht sich um die Fertigstellung von fünf Terminals, um flüssiges Erdgas (LNG) zu erhalten, und unterzeichnete letzte Woche einen 15-Jahres-Vertrag mit Katar, um ab 2026 neue LNG-Flüsse zu erhalten.

Gottfried Kazenbadel
Winzer Gottfried Kazenbadel würde es vorziehen, wenn Deutschland den Ausbau erneuerbarer Energien beschleunigt. Foto: Frank Bauer/The Guardian

Auch Kohle spielt weiterhin eine Rolle. Ein neuer Windmangel hat Deutschland dazu veranlasst, mehr davon zu verbrennen, was 45 % der gesamten Energieerzeugung ausmacht. Laut offiziellen Statistiken war dies ein Anstieg von 31 % im ersten Halbjahr 2022, als fast die Hälfte (49 %) aus erneuerbaren Quellen stammte. Einige Analysten befürchten, dass die endgültige Abschaltung der Kernenergie, die in den ersten sechs Monaten des Jahres 6 % der gesamten Stromerzeugung ausmachte, ebenfalls eine Lücke hinterlassen wird.

In Neckarwestheim haben die Behörden zwei Solaranlagen entwickelt, aber Winkler sagt, dass die Genehmigungsverfahren für neue Entwicklungen langwierig und zeitaufwändig sind.

Dr. Gottfried Kazenwadel betreibt in seiner Familie in vierter Generation Ackerbau und Weinbau in der Nähe. Der Vorsitzende des örtlichen Landwirtschaftsverbandes befürwortet grundsätzlich den Atomausstieg und wünscht sich wie viele Deutsche, dass das Land den Ausbau erneuerbarer Energien beschleunigt. Er scherzt, dass der Name des Dorfes oft auf den Verpackungen für lokale landwirtschaftliche Produkte weggelassen wurde.

„Neckarwestheim war immer in den Schlagzeilen“, sagt er, „besonders beim Bau des zweiten Reaktors, der nicht unbedingt gut für die Vermarktung war.“

source site-26