Wenn Olaf Scholz es mit Fortschritten ernst meint, muss er einen Patentverzicht für Covid-Impfstoffe unterstützen | Joseph Stiglitz

EINAls er im vergangenen Monat eine „neue Ära“ für Deutschland ankündigte, machte der neue Bundeskanzler Olaf Scholz seine kühnen Absichten deutlich. „Uns eint der Glaube an den Fortschritt und daran, dass die Politik Gutes bewirken kann“, sagte er zum Startschuss für das Programm seiner rot-grünen FDP-Koalition unter dem Motto „Mehr Fortschritt wagen“.

Diese selbsternannte „Fortschrittskoalition“ verspricht eine Reihe sozialliberaler Innenpolitiken – sie könnte jedoch ihre größte Wirkung entfalten, wenn sie es wagt, sich der globalen Bewegung anzuschließen, Covid-19-Impfstoffe für alle als globale öffentliche Güter verfügbar zu machen. Die Aussage „Niemand ist sicher, bis alle sicher sind“ muss mehr sein als ein schön klingender Slogan: Deutschland hat die Chance und die Verpflichtung, dazu beizutragen, dass es Wirklichkeit wird.

Scholz ist zu Recht stolz auf seine Führungsrolle, die er in den letzten Jahren für globale Fairness gespielt hat. Als Bundesfinanzminister war er im Juli maßgeblich daran beteiligt, einen Konsens über einen weltweiten Mindeststeuersatz für Unternehmen herbeizuführen.

Als neuer Kanzler des Landes muss er im Interesse der globalen Fairness einen zweiten Schritt tun. Deutschland hat sich bisher nicht dazu durchringen können, seinen Teil dazu beizutragen, die Verfügbarkeit von Covid-19-Impfstoffen für alle Menschen auf der Welt sicherzustellen. Dies ist für die globale öffentliche Gesundheit unabdingbar – aber auch im Eigeninteresse Deutschlands.

Es ist notwendig, dass Deutschland einer vorübergehenden Ausnahme von den Regeln des geistigen Eigentums der Welthandelsorganisation zustimmt. Diese ersticken derzeit die weltweite Produktion von Covid-19-Impfstoffen und antiviralen Behandlungen. Würde diese Barriere beseitigt, könnten in und für Entwicklungsländer mehr Impfstoffdosen hergestellt werden. Genau das braucht die Welt, wie das Aufkommen der Omicron-Variante immer wieder beweist.

Bislang war die deutsche Regierung die Hauptbremse für die Zustimmung zum Patentverzicht innerhalb der WTO. Während große EU-Staaten wie Frankreich, Italien und Spanien die Ausnahme befürworten, setzt sich die Bundesregierung aktiv dafür ein, dass andere EU-Mitgliedstaaten die Befreiung ablehnen. Erfreulich ist, dass mit Karl Lauterbach ein SPD-Politiker und Epidemiologe, der sich eindeutig für den WTO-Ausstieg ausgesprochen hat, zum deutschen Gesundheitsminister ernannt wurde. Doch jetzt muss Scholz handeln.

Die Fakten sprechen für sich: Während etwa 56 % der 7,9 Milliarden Menschen weltweit mindestens eine Dosis Covid-19-Impfstoff erhalten haben, sind es in Ländern mit niedrigem Einkommen 7,2 %. In Afrika sind die Impfraten besonders niedrig.

Noch bevor der Bedarf an Auffrischimpfstoffen offensichtlich wurde und die Impfung von Kindern zugelassen wurde, benötigte die Welt bis Ende 2021 zwischen 11 und 15 Milliarden Dosen, weit über den derzeitigen Produktionskapazitäten. Die Kluft zwischen Angebot und Nachfrage könnte sich in den kommenden Monaten sogar noch vergrößern.

Stellen Sie sich vor, der WTO-Waiver wäre vor einem Jahr bei seiner ersten Verabschiedung gewährt worden: Heute gäbe es weniger Infizierte, weniger Krankenhauspatienten und weniger Todesfälle, insbesondere in Entwicklungs- und Schwellenländern. Deshalb müssen Produktionsstätten im globalen Süden so schnell wie möglich in Betrieb genommen werden. Sonst haben wir keine realistische Chance, den Kampf gegen die Pandemie in absehbarer Zeit zu gewinnen.

Beim WTO-Waiver geht es um mehr als nur um humanitäre Anliegen und globale Fairness. Für Deutschland als großen Exporteur sowie als Land weltreisender Touristen ist dies auch eine Frage des Eigeninteresses. Jeden Tag lesen wir Schlagzeilen darüber, wie Covid Lieferketten gestört hat. Dies hat direkte Auswirkungen auf die Weltwirtschaft. Die zugrundeliegende Logik ist klar: Je weniger Menschen weltweit geimpft werden, desto mehr Raum hat das Virus, um zu gefährlichen Varianten zu mutieren.

Auch ein Positionswechsel der Bundesregierung würde ein wichtiges Signal über den Atlantik setzen. Die Biden-Regierung hat vor sechs Monaten ihre Unterstützung für den vorübergehenden Verzicht auf geistige Eigentumsrechte angekündigt und andere reiche Länder aufgefordert, dasselbe zu tun. Wie Scholz aus dem weltweiten Kampf für Steuergerechtigkeit weiß, kann die Zusammenarbeit mit der Biden-Administration ein wichtiger Baustein für den Fortschritt sein.

Die Omicron-Variante unterstreicht mit neuer Dringlichkeit, wie gefährdet die öffentliche Gesundheit und die Weltwirtschaft sind, solange die Krankheit wütet. Die Frage an alle Menschen lautet: „Tue ich alles, um dieses Virus in den Griff zu bekommen?“ Dies gilt insbesondere für Politiker, denen das Wohl der Menschen anvertraut ist, denen sie dienen.

Leider ist die Antwort auf diese Frage bisher sowohl für Joe Biden als auch für Olaf Scholz nein. Das gilt auch für Frankreichs Präsidenten Emmanuel Macron, der sich ebenso wie Biden Mitte 2021 für einen WTO-Waiver ausgesprochen, aber noch nicht gehandelt hat. Er soll Frankreichs EU-Ratspräsidentschaft im ersten Halbjahr 2022 nutzen, um eine EU-weite Unterstützung für den Verzicht sicherzustellen.

Erst wenn alle dem WTO-Waiver zustimmen, haben sie das Notwendige getan. Aber es wird noch mehr zu tun geben, einschließlich der Anreize für den Technologietransfer. Nur dann kann die Impfstoffproduktion weltweit adäquat hochgefahren werden. Und nur dann können wir der Verbreitung des Virus wirklich effektiv entgegenwirken.

source site-31