Die Schwarzen haben keine Kandidaten

Die Präsidentschaftswahlen in Brasilien wirken so, als sei mehr als die Hälfte der Bevölkerung unsichtbar. Es gibt keine schwarze Kandidaten. Rassismus und die Folgen sind kein Thema. Ein Rückschritt, sagen führende afrobrasilianische Intellektuelle.

Anhänger des ehemaligen brasilianischen Präsidenten und Präsidentschaftskandidaten Luiz Inácio Lula da Silva demonstrieren für die Demokratie und gegen den gegenwärtigen Präsidenten Jair Bolsonaro.

Amanda Perobelli / Reuters

Es ist das Jahr 2027. Afrobrasilianer fordern von der Regierung eine Kompensation für Jahrhunderte von Sklavenarbeit. Dem Staat drohen gigantische Entschädigungsprozesse. Da zieht sich die Regierung per Dekret aus der Verantwortung. Alle Brasilianer mit dunkler Haut («akzentuierten Melaninen») werden ab sofort auf der Strasse aufgegriffen und in ihre Heimat, also nach Afrika, ausgeflogen.

In den Medien wird das als eine vorbildhafte Wiedergutmachungsaktion gefeiert. Weisse Soziologen, Journalisten, Beamte und Juristen begründen die Aktion wissenschaftlich, erklären sie als alternativlos und zudem grosszügig. Schliesslich würde man den Afrobrasilianern den Rückflug bezahlen und ihnen damit ermöglichen, «unter sich zu sein». Die schwarzen Cousins Andre und Antonio debattieren eine Nacht lang über die Frage, ob und warum sie nach Afrika «auswandern» müssen.

Das Theaterstück über Rassismus ist erschreckend aktuell

Das Theaterstück «Namíbia, não!» ist eine Mischung aus Kafkas «Prozess», Ralph Ellisons «Invisible Man» und dem Film «Brazil» von 1985 über einen totalitären Staat – und das alles in Form einer Komödie. Es ist eines der erfolgreichsten Theaterstücke Brasiliens. Über eine Million Zuschauer haben es gesehen. Es wurde verfilmt, hat als Roman wichtige Literaturpreise gewonnen – und ist erschreckend aktuell für Brasilien im Jahr 2022.

Manchmal bleibt einem das Lachen im Hals stecken, so treffend wird darin der tief verwurzelte Rassismus Brasiliens geschildert. In einer Gesellschaft, in der die Mehrheit der Bevölkerung afrikanischen Ursprungs ist, aber die Macht von Weissen ausgeübt wird, die Gesetze, die Politik, die Wirtschaft von Weissen dominiert werden.

Das wird jetzt im Wahlkampf deutlich. Die Debatten der Präsidentschaftskandidaten zeigten ein Bild eines Brasilien, das vor nicht allzu langer Zeit auch noch in der Werbung vorherrschte: eine Gesellschaft, die ausschliesslich aus Weissen zu bestehen scheint. Unter den führenden Kandidaten und Kandidatinnen für das Präsidentenamt, aber genauso in den Medien wie in den Kampagnen der Kandidaten gibt es keine afrobrasilianischen Vertreter.

Dabei sind heute in den Werbespots viele Afrobrasilianer zu sehen. Sie machen 56 Prozent der Bevölkerung aus. Brasilien hat nach Nigeria die grösste schwarze Bevölkerung weltweit. Die Hälfte der rund elf Millionen Sklaven, die aus Afrika in Nord- und Südamerika lebend ankamen, landete in Brasilien.

«Warum bist du nur so pessimistisch?»

Als er «Namibia, nein!» vor zehn Jahren Verlagen und Theatern anbot, hätten die abgewinkt, erzählt der Autor und Schauspieler Aldri Anunciação im Gespräch im Goethe-Institut in Salvador im Gliedstaat Bahia. Dort wird gerade sein Stück aufgeführt. Es ist ein historischer Ort für ein Stück über Rassismus. Die politisierte Schwarzenbewegung gründete Ende der 1960er Jahre im Schutz des deutschen Kulturinstituts ihre erste Partei in Bahia. Die Behörden der Diktatur hatten das Treffen damals verboten. «Meine Dystopie über den brasilianischen Rassismus war aus der Zeit gefallen», sagt er. Alle fragten mich: «Warum bist du so pessimistisch?»

Aldri Anunciação

Tatsächlich wurden vor rund einem Jahrzehnt erstmals wichtige Verbesserungen für die Afrobrasilianer gesetzlich eingeführt: Seitdem gibt es Zugangsquoten für Schwarze wie Indigene an den Universitäten. In den Schulen wurden Themen der afrikanischen Kultur und Geschichte im Lehrplan Pflicht. Quilombolas, Bewohner von Siedlungen, die in der Sklavenzeit als Fluchtdörfer gegründet wurden, bekamen Besitztitel für ihr Land. In der Verwaltung, im Aussenministerium, in den Legislativen wurden Afrobrasilianer gefördert.

«Wir sahen ein Licht am Ende des Tunnels», sagt der 42-jährige Anunciação, heute ein bekannter Moderator mit einer eigenen Produktionsfirma. Er hat als Erster in seiner Familie studiert. Zu Beginn waren die meisten Mitstudenten noch weiss. Inzwischen sind die Universitäten wegen der Quoten gemischter geworden.

Schülerinnen laufen neben Fahnen, die für den amtierenden brasilianischen Präsidenten Jair Bolsonaro und den ehemaligen Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva werben.

Schülerinnen laufen neben Fahnen, die für den amtierenden brasilianischen Präsidenten Jair Bolsonaro und den ehemaligen Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva werben.

Rodrigo Abd / AP

Spike Lee, der schwarze amerikanische Regisseur, plante 2015 einen Film, wie Brasilien im Kampf gegen Rassismus neue Wege geht. Er kam dafür als Erstes nach Salvador, wo 83 Prozent der drei Millionen Einwohner schwarz sind.

Strassen und Plätze sind nach Sklavenhändlern benannt

Es gibt wenig Städte in Lateinamerika, die bis heute noch so stark vom afrikanischen Erbe und von der Sklaverei geprägt sind. Es war die erste Hauptstadt der portugiesischen Kolonie. Im Hafen in der Allerheiligenbucht kamen alleine 1,5 Millionen versklavte Afrikaner an, um auf den Zuckerrohrplantagen zu arbeiten. Noch heute stehen dort die Sklavenkerker. Die koloniale Altstadt heisst Pelourinho (Pranger), weil dort der Schandpfahl stand, an dem die Sklaven ausgepeitscht wurden. Brasilien beendete 1888 als letztes Land weltweit die Sklaverei. Strassen und Plätze sind heute noch nach bekannten Sklavenhändlern benannt. Ein Museum über die Sklaverei gibt es nicht.

Etwa ab 2016 kam es zur konservativen Kehrtwende in der Gesellschaft, beobachtet Anunciação. Es war eine Welle, die den Hinterbänkler Jair Bolsonaro bei den Wahlen zwei Jahre später bis ins Präsidentenamt tragen sollte.

Die koloniale Altstadt von Salvador heisst Pelourinho (Pranger), weil dort der Schandpfahl stand, an dem die Sklaven ausgepeitscht wurden.

Die koloniale Altstadt von Salvador heisst Pelourinho (Pranger), weil dort der Schandpfahl stand, an dem die Sklaven ausgepeitscht wurden.

Rodrigo Abd / AP

Plötzlich verzögerte die Filmbehörde über eineinhalb Jahre die Zulassung für den Film, der nach Anunciaçãos Stück gedreht wurde – mit den bekanntesten schwarzen Filmstars Brasiliens. Die Integrationspolitik für die Afrobrasilianer stagnierte. Im Kabinett Bolsonaros gab es nie einen afrobrasilianischen Minister. An die Spitze der Fundação Palmares, die für afrobrasilianische Belange eine entscheidende Rolle gespielt hatte, setzte der Rechtspopulist einen Schwarzen, der behauptete, es gebe keinen Rassismus in Brasilien.

Bolsonaro spottete im Sklavenhalterjargon über Schwarze, die so fett seien, dass sie nicht einmal zur Fortpflanzung taugten. Die Schwarzen in Brasilien sollten doch froh sein, dass sie nicht in Afrika geblieben seien, erklärte er. Mit Sklaverei habe weder Brasilien noch die Portugiesen etwas am Hut, schliesslich seien es Afrikaner gewesen, welche die Sklaven verkauft hätten.

Die politische Gewalt gegen Schwarze nimmt zu

Gleichzeitig nimmt die Gewalt gegen Schwarze zu. Wie nach der Tötung von George Floyd in den USA vor zwei Jahren gab es auch in Brasilien Proteste, nachdem Sicherheitskräfte eines Supermarktes einen Schwarzen totgeschlagen hatten. Mit Marielle Franco wurde eine Stadträtin ermordet, die sich immer stark gegen Rassismus eingesetzt hatte. Das habe es früher nicht gegeben. Sein Vater sei 40 Jahre Politiker im Stadtparlament gewesen, sagt Anunciação, niemals habe der sich bedroht gefühlt. Auch in der Militärdiktatur nicht. Das sei heute anders.

Eine Künstlerin malt ein Bild von Marielle Franco an eine Häuserwand von São Paulo. Die Stadträtin, die sich immer stark gegen Rassismus eingesetzt hatte, wurde ermordet.

Eine Künstlerin malt ein Bild von Marielle Franco an eine Häuserwand von São Paulo. Die Stadträtin, die sich immer stark gegen Rassismus eingesetzt hatte, wurde ermordet.

Fernando Bizerra Jr / EPA

20 Minuten zu Fuss sind es vom Goethe-Institut zur Stiftung Pedro Calmon, einer bundesstaatlichen Kulturbehörde: Zulu Araujo leitet sie. Der Architekt ist einer der führenden schwarzen Intellektuellen Brasiliens. Er wurde in ganz Brasilien bekannt, als er durch einen DNA-Test herausbekam, dass seine Vorfahren aus Kamerun stammten («Ich dachte, meine Wurzeln seien Yoruba»).

Zulu Araujo

Araujo reiste in das Buschland der Tika-Ethnie und fragte den dort weiterhin regierenden König in einer Audienz, wie seine Vorfahren in Brasilien gelandet seien. Damit stach er in ein Wespennest. Denn über Kolonialismus werde in Afrika überall gesprochen – Sklaverei, an der dagegen auch die Afrikaner selbst beteiligt waren, sei ein Tabu, sagt Araujo, der später offiziell in zahlreichen Staaten Afrikas als Vertreter Brasiliens unterwegs war.

Zur konservativen Wende in Brasiliens Gesellschaft ist Araujos Meinung klar: «Wir von der Schwarzenbewegung haben da bis heute keine Strategie gefunden, wie wir damit umgehen sollen.» Auch die Linke, die lange Zeit afrobrasilianische Belange unterstützt habe, halte sich heute zurück. Für Araujo zeige sich derzeit, wie die weisse Elite den Rassismus benutze, um ihre Pfründen zu sichern. Man solle nicht den Fehler machen und Rassismus mit Unwissenheit, fehlender Durchsicht oder Dummheit gleichsetzen: «Das sind intelligente Menschen, die Rassismus weiter entwickeln.»

Es gab nie einen schwarzen Gouverneur oder Bürgermeister

Für den vielgereisten Araujo ist die Metropole Salvador das beste Labor, um diesen Prozess zu studieren: Seit 500 Jahren hätten in Stadt und Gliedstaat immer die gleichen weissen Elitezirkel die Macht in der Hand. Unter den 69 Stadträten seien zwei schwarze Vertreter. In der Stadt wie im Teilstaat Bahia habe es noch nie einen schwarzen Bürgermeister oder Gouverneur gegeben.

Was sich jetzt ändern könnte. Der ehemalige Bürgermeister und wahrscheinliche künftige Gouverneur Antonio Carlos Magalhães Neto hat in den Wahlunterlagen seine Hautfarbe als «schwarz» erklärt. Dabei sieht er aus wie ein besonders hellhäutiger Südeuropäer. Neto, wie er meist genannt wird, bedeutet Enkel. Denn Netos Grossvater, ACM genannt, hat über Jahrzehnte als Bürgermeister, Gouverneur und Senator die Provinz von der Grösse Frankreichs regiert, als sei sie sein Latifundium.

Den Grund, warum sich der Enkel nun plötzlich als Afrobrasilianer outet, erklärt Araujo damit, dass seine Partei damit eine doppelt so hohe staatliche Wahlkampfunterstützung erhalte. Auch ein Förderprogramm, das eigentlich für Afrobrasilianer geschaffen wurde, aber landesweit missbraucht werde. Ohne die geringsten Folgen.

João Jorge

João Jorge

Alexander Busch

Eine halbe Stunde Fussweg weiter, in die Altstadt Salvadors hinein, ist auch João Jorge selbstkritisch: «Wir dachten, es gebe Regeln, die nicht mehr durch eine konservative Reaktion zurückgenommen werden könnten», sagt der Präsident von Olodum inmitten seines Büros voller Fotos von Malcolm X bis Nelson Mandela und einer grossen Afrika-Karte.

Olodum ist eine Karnevalsgruppe von Perkussionisten, aber gleichzeitig eine der bekanntesten politisch aktiven Organisationen der Afrobrasilianer. Michael Jackson zeigte sich mit den stolzen Trommlern. Desmond Tutu besuchte sie in der Altstadt. Paul Simon kaufte ihnen ein Haus, nachdem er Stücke mit ihnen aufgenommen hatte. Touristen aus aller Welt strömten zu Olodum.

Die Jungen wollen Drogenchefs werden – nicht Trommler

Doch heute ist Jorge desillusioniert über die Rückschritte Brasiliens: Brasilien sei reich, modern und kompetitiv. Doch die Gesellschaft habe kein Angebot, keine Vision für schwarze Jugendliche: «Wenn ich einen schwarzen IT-Experten suche – die gibt es nicht.» Der Traum der Jugendlichen sei es heute, Chef einer Drogenverkaufsstelle zu werden – nicht mehr Perkussionist, Modedesigner oder Informatiker.

In der Altstadt von Salvador spielen Kinder Fussball.

In der Altstadt von Salvador spielen Kinder Fussball.

Rodrigo Abd / AP

Ein paar hundert Meter entfernt von Olodums Büro lungern Crack-Süchtige durch die heruntergekommenen Gassen. Die zahlreichen Polizeistreifen im renovierten Teil der Altstadt sollen Überfälle verhindern. 35 000 afrobrasilianische Jugendliche würden jährlich in Brasilien getötet – das sei mehr als in jedem Krieg derzeit, sagt Jorge.

Auch bei Olodum soll Spike Lee damals gewesen sein. 2015 war das. Sein Filmprojekt, das habe der nordamerikanische Regisseur bald darauf abgeblasen.

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