Eine Operation am offenen Herzen

Die Chemnitzer Unruhen von 2018 lösten einen internationalen Medienskandal aus. Neonazis demonstrierten gemeinsam mit AfD-Politikern und empörten Bürgern. Nun wird Chemnitz Kulturhauptstadt und will sein schlechtes Image abstreifen. Aber funktioniert das in dieser Stadt? Eine Reportage.

Am 31. August 2018 hat es Chemnitz auf die Titelseite der «New York Times» geschafft. «Mobproteste in Deutschland zeigen die Stärke der rechtsextremen Szene», lautete der Titel. Im Bild vor allem ältere Menschen, die mit der Handytaschenlampe in die Luft leuchten. Sie gingen auf die Strasse, weil in der Nacht vom 26. August der Deutsch-Kubaner Daniel H. von zwei Asylbewerbern erstochen worden war, am Rande des Chemnitzer Stadtfestes. Noch am selben Tag organisierte eine lokale Hooligan-Gruppe eine erste Demonstration. Es kam zu Angriffen auf Migranten, Parolen wie «Für jeden toten Deutschen einen toten Ausländer» waren zu hören.

Am 1. September zogen die AfD-Politiker Björn Höcke und Andreas Kalbitz gemeinsam mit Neonazis aus ganz Deutschland durch die Strassen, umringt von empörten Chemnitzer Bürgern. Sie waren wie ein warmer Mantel für die Rechtsextremisten.

Zwei Tage später die Gegendemonstration, 65 000 Menschen versammelten sich unter dem Motto «Wir sind mehr», die Chemnitzer Band Kraftklub gab ein Open-Air-Konzert.

Zum Politikum wurde auch ein Video, das angebliche Hetzjagden von Rechtsextremen auf Ausländer zeigen soll. Bekannt unter dem Titel: «Hase – du bleibst hier!» Der damalige deutsche Geheimdienstchef verlor seinen Job, weil er die Echtheit des Videos und das Vorkommen von Hetzjagden anzweifelte. Der sächsische Ministerpräsident sagte: «Es gab keinen Mob, keine Hetzjagd und keine Pogrome.» Die damalige Bundeskanzlerin beharrte auf dem Begriff «Hetzjagd».

«Ich bin Oma, kein Rassist»

Viele Chemnitzer ärgerten sich, dass nur noch über Nazis und nicht mehr über den Mord gesprochen wurde. Sie fühlten sich auch pauschal als Rechtsextreme verunglimpft. «Ich bin Oma, kein Rassist», sagte eine Frau in einem hitzigen Bürgerdialog mit dem sächsischen Ministerpräsidenten. Journalisten bevölkerten die Stadt, Berliner Politiker kamen und gingen. Drei Monate später erschien auch Angela Merkel und erklärte: «Ich weiss, dass mein Gesicht polarisierend ist.» Deshalb sei sie nicht eher gekommen. Die Stadt schien alle zu überfordern.

Nun wird Chemnitz 2025 für ein Jahr lang Kulturhauptstadt Europas sein. Auf der ersten Seite des Buches, das die Projekte bündelt, prangt die Titelseite der «New York Times». Darüber ein milchig-durchsichtiges Blatt, auf dem Worte wie «Crazy People», «Love» und «Paris of the East» stehen. 2018 soll überschrieben werden mit einer neuen, positiven Geschichte. Kommt das gut?

Uwe Dziuballa führt das «Schalom» in Chemnitz, ein koscheres Restaurant. Er ist aber auch Ingenieur, hat ein PR-Büro und insgesamt über hundert Mitarbeiter. 1965 in Karl-Marx-Stadt geboren, wuchs er in Belgrad auf. Nach der Wende ging er als junger Banker nach New York und verdiente schnell viel Geld. Dann starb der Vater, und er kehrte zurück in die Chemnitzer Heimat. Sein Restaurant gibt es nun seit 22 Jahren, und Dziuballa hat ein eigenes Logo entworfen, einen Davidstern kombiniert mit zwei Weingläsern. «Man muss mit der nichtjüdischen Bevölkerung unterschwellig umgehen. Wir müssen zeigen: Nein, wir sind nicht eine Synagoge oder ein Friedhof, sondern ein Restorang.»

«In letzter Zeit wird der Nazi etwas müder, dafür meldet sich der Islamist per Telefon.» Uwe Dziuballa, Wirt des Restaurants «Schalom».

«In letzter Zeit wird der Nazi etwas müder, dafür meldet sich der Islamist per Telefon.» Uwe Dziuballa, Wirt des Restaurants «Schalom».

Der Islamist am Telefon

In den unruhigen Tagen von 2018 standen Neonazis vor seiner Tür und schmissen mit Steinen nach ihm. Einer hat ihn an der Schulter getroffen. Die TV-Anstalten hätten ihn belagert, erklärt Dziuballa mit leichtem Ärger. «Ich will die Gegend nicht verniedlichen, hier gibt es eine überbordende Zahl merkwürdiger Leute. Aber Björn Höcke ist nicht plötzlich Chemnitzer. Die Demo hätte auch in Halle stattfinden können!» Er habe sich am 1. September die Nummernschilder in der Gegend angesehen, die Leute seien von überall gekommen. «Nationalistisches Gedankengut hat auf der Strasse ein Gesicht bekommen, aber die Zivilgesellschaft hat reagiert», sagt Dziuballa. «Nur die Chemnitzer Politiker haben komplett versagt. Ohne Beisein der Berlin-Prominenz haben die sich gar nicht geäussert.»

Er sei noch etwas naiv, sagt Dziuballa. Als er das Davidstern-Logo am Eingang seines Restaurants montiert habe, habe er keinen Moment überlegt, ob dies ein Sicherheitsproblem sein könnte. Mittlerweile hat er schon alles erlebt: Hakenkreuzschmierereien, Schweinskopf mit Hakenkreuz vor der Tür, anonyme Drohanrufe. «Das hört nicht auf», sagt Dziuballa, «in letzter Zeit wird der Nazi etwas müder, dafür meldet sich der Islamist per Telefon.» Die Stadt habe sich für Übergriffe jahrelang nicht interessiert. Eine Stadt, die seit fast dreissig Jahren von den Sozialdemokraten regiert wird. Herr Dziuballa bringe Chemnitz in Misskredit, der wolle ja nur Werbung für sein Restaurant machen, so habe man über ihn geredet. «Irgendwann habe ich einen Brief geschrieben und jegliche Zusammenarbeit mit der Polizei gekündigt.» Dziuballa ist halb empört, halb amüsiert. Die Reaktion? Nichts.

Erst 2018, nach der Geschichte mit dem Stein, rief er die Polizei wieder an, zum ersten Mal seit Jahren. Seither sei das Verhältnis zu den Beamten viel besser. Dass der Rechtsradikalismus in der Stadt zugenommen habe, glaubt Dziuballa nicht. Aber die Sensibilität der Öffentlichkeit sei gestiegen. «Der Nazi ist irritiert und denkt sich: Was ist jetzt los? Das mache ich doch schon seit zwanzig Jahren.»

Anruf aus Aleppo

Die Atmosphäre von 2018 sei absurd gewesen, erzählt Dziuballa. Ein Bekannter von ihm sei mit einer Syrerin zusammen. Diese habe damals einen besorgten Anruf aus Aleppo bekommen, ob es ihr gutgehe. «Hier waren keine Schützengräben, ich bin nicht im Stahlhelm herumgerannt.»

Uwe Dziuballa ist ein energischer Mann, der weiss, was er will und was er nicht will. Opfertouristen könne er nicht brauchen, das hat er den Medien auch schon auf den Weg gegeben. Er ist kein Opfer. Auf seinem Kopf sitzt eine Kippa, an seinem Revers steckt das Davidstern-Logo seines Restaurants und in der Tasche seines Blazers ein Einstecktuch. Hinter ihm Bilder von Politikern im «Schalom»: Angela Merkel mit Raute und Restaurantbrigade, Joachim Gauck und Robert Habeck.

«Entschuldigung für alles»

Als er zum ersten Mal von der Kulturhauptstadt-Idee gehört habe, habe er gedacht: «Mehr als ambitioniert.» Dann aber: «Mutig! Warum eigentlich nicht?» Das Projekt sei eine grosse Chance, die Stadt könne ein Gegengewicht setzen gegen die Vorstellung, Chemnitz würde im Nazi-Sumpf versinken. Ein Jahr lang habe es eine Wahnsinns-Aufbruchstimmung gegeben, jetzt hätten aber viele die Befürchtung, dass es so eine «Eliten-Geschichte» werde.

Die Bevölkerung schrumpft weiter. Strassenszene in Chemnitz.

Die Bevölkerung schrumpft weiter. Strassenszene in Chemnitz.

Eine Strassenszene in Chemnitz, Deutschland am 5. Dezember 2022.

Eine Strassenszene in Chemnitz, Deutschland am 5. Dezember 2022.

Chemnitz werde nie «die Perle der Côte d’Azur», das sei klar. Er habe auch lange gebraucht, bis er seinen inneren Frieden mit der Stadt gefunden habe. Aber darauf, was er hier aufgebaut hat, ist er stolz. Einmal sei er in Tel Aviv gewesen, am Strand, und da habe ihm ein Israeli vorgeschwärmt, wie exzellent man in Chemnitz koscher essen könne. Der Mann kannte ihn nicht. «Ist doch geil!», sagt Dziuballa.

In sein Lokal könne jeder kommen, er frage nicht nach religiöser, politischer oder sexueller Orientierung. Einmal habe ihm ein Gast einen Zettel hingelegt: «Entschuldigung für alles. Ich war bei der NPD.» Dziuballa dokumentiert diese Dinge, das Schöne, das Hässliche, sein Tablet ist ein Museum der Stadt.

Gibt es einen Ort, wo man hingehen muss, wo sich Chemnitz dem Besucher zeigt? Dziuballa überlegt. «Es gibt drei», sagt er. «Allerdings existieren alle nicht mehr.»

Die Demonstrationsprofis

Keine 500 Meter entfernt versammeln sich Demonstranten mit Sachsen-Fahnen und Lichterketten auf dem Schillerplatz. Es ist Montagabend. Irgendwo stehen gross und illuminiert die Buchstaben «F-R-E-I-H-E-I-T». Aber worum geht es? Ein Passant: «Es hat mit dem Impfen angefangen, jetzt geht es wohl um die Ukraine und den Frieden.» So genau weiss er es auch nicht. Und vielleicht wissen es nicht einmal die Demonstranten. Es geht um alles, und zwar jeden Montag: Russland, die Impfung, die angebliche Abschaffung des Bargeldes, direkte Demokratie nach Schweizer Vorbild, Freiheit für den Verschwörungstheoretiker Michael Ballweg, die Lügenpresse.

Die Plakate sind ein wildes Medley der politisch Unzufriedenen: «Raus aus der Nato» – «Grenzen hoch, Preise runter» – «Deutschland Schlaraffenland, aber nicht fürs eigene Volk». AfD-Leute sind vor Ort, selbstdeklarierte Querdenker, die Freien Sachsen und vor allem ältere Leute, die pfeifend und trommelnd gar nicht so unzufrieden wirken. Protest als Existenzform.

Die Chemnitzer sind Demonstrationsprofis, und nun absolvieren sie ihre Route wie jeden Montag. Eine Gruppe von vielleicht 2000 Menschen zieht durch die finstere Stadt wie ein fremdartiger Organismus. An Kreuzungen stehen Polizisten, ein paar Kinder schauen aus den Fenstern, sonst scheint niemand auf die Leute gewartet zu haben. Man wundert sich, dass hier Menschen sind, die die Leere füllen wollen.

Jeden Montag wird demonstriert. Worum geht es? Um alles. Demonstranten vor der Chemnitzer Oper am 5. Dezember 2022.

Jeden Montag wird demonstriert. Worum geht es? Um alles. Demonstranten vor der Chemnitzer Oper am 5. Dezember 2022.

Riesenroster, Krakauer und Rauchwurst in der Semmel für 4 Euro. Am Weihnachtsmarkt beim Rathaus ist etwas Leben. Aufnahme vom 5. Dezember 2022.

Riesenroster, Krakauer und Rauchwurst in der Semmel für 4 Euro. Am Weihnachtsmarkt beim Rathaus ist etwas Leben. Aufnahme vom 5. Dezember 2022.

Selbst im Zentrum stösst man auf Häuser, deren Fenster mit Brettern zugenagelt sind. Früher haben 320 000 Menschen in Chemnitz gelebt, jetzt sind es noch 240 000. Der durchschnittliche Mietpreis liegt bei 5 Euro 70 pro Quadratmeter, aber auch das hilft nicht wirklich. Während Dresden und Leipzig wachsen, schrumpft Chemnitz weiter. Beim Rathaus ist noch etwas Leben. Weihnachtsmarkt. Es gibt Riesenroster, Krakauer und Rauchwurst in der Semmel für 4 Euro. Und Zuckerwatte. Aus der Ferne hört man die Demonstranten, und durch einen Lautsprecher klingt «Maria durch ein Dornwald ging». Sonst könnte man die eigenen Schritte hören.

Gespräch mit «Mr. Snowman»

Osmar Osten steht draussen in der Kälte, vor der alten Spinnerei, einem grossen Fabrikgebäude, in dem er sein Atelier hat. Osten sächselt freundlich vor sich hin. Lässt seine Gedanken fliegen, während er im grauen Mantel über das Areal schreitet. Man versteht ihn nicht immer. Sein Atelier quillt von Bildern über. Auf einem Sims steht eine Keramikfigur des braven Soldaten Schwejk. Nussknackerfiguren. Farbtuben. Der Künstlermantel hängt an einem Haken. Einige Bilder zeigen Osterhasen an einer Versammlung, darüber steht: «Wir sind das Volk (aber nicht gerne)».

Chemnitz sei zersplittert in viele Parallelgesellschaften, erzählt Osten. Er selbst ist ein Grenzgänger, einer, der sich einer klaren Zugehörigkeit und Deutung entzieht. Letzthin sei er in einer Zigeunerbar gewesen. Aber da habe man ihm nach kurzer Zeit gesagt, er solle bitte gehen, man wolle lieber unter sich sein. Früher war Osten im Chemnitzer Zigarrenklub, aber den habe er verlassen, weil er zu viel rauche. «Ich bin ein schwieriger Typ, ich treibe mich gern in verschiedenen Bereichen rum.» Schliesslich sage er sich: «Wenn es blöd wird, kann man immer noch gehen.»

Die unbeliebten Sachsen

Osmar Osten ist 1959 in Karl-Marx-Stadt geboren, warum ist er nie gegangen? «Mein Psychologe sagt: ‹Als Markenstandort ist Chemnitz problematisch.›» Andererseits: «Man ist schnell auf der Autobahn.» Osten ist geblieben, während sein Name in der Kunstwelt bekannt geworden ist. In Mailand nannte man ihn «Mr. Snowman», weil er so viele Schneemänner malte.

«Mein Psychologe sagt: ‹Als Markenstandort ist Chemnitz problematisch.›» Osmar Osten in seinem Atelier.

«Mein Psychologe sagt: ‹Als Markenstandort ist Chemnitz problematisch.›» Osmar Osten in seinem Atelier.

«Wir sind das Volk (aber nicht gerne)». Ausschnitt eines Bildes von Osmar Osten.

«Wir sind das Volk (aber nicht gerne)». Ausschnitt eines Bildes von Osmar Osten.

Osten erinnert sich, wie er als Kind Steine gesammelt hat in der Gegend und wie er im Naturkundemuseum Steine hinter Vitrinen angeschaut hat. «Aber ich bin nicht so heimatmässig unterwegs.» Allerdings sei er als Sachse, wo er auch sei, immer identifizierbar. Beliebt seien die Sachsen nicht, was ihn aber nicht kümmere. «Wie kommt man am schnellsten von Berlin nach Dresden? Steckst den Finger in den Arsch und drehst’n» – das habe er zum ersten Mal in München gehört. Und da sitze man dann so daneben und trinke seine Apfelschorle.

«Den Adolf haben sie auch gewählt»

In der DDR sei alles nach Reglement gewesen. Osten sagt: «Reglemang». Und dieses würden viele Chemnitzer vermissen. Die Stadt sei schon immer die Nummer drei gewesen in Sachsen: Dresden war Residenzstadt, Leipzig Messestadt, Chemnitz Industriestadt. «Wenn ein Manager nach Chemnitz kommt, zieht seine Frau ein Trauerkleid an. Die wollen nicht hierhin.» Osten war im Zigarrenklub, er wird es wissen. «Wenn ich Schriftsteller wäre, würde ich viel öfter umziehen, aber für mich spielt der Mietzins eine Rolle, ich brauche ein Atelier.»

Die Gegendemonstration unter dem Motto «Wir sind mehr» von 2018 fand Osten gut. Und doch sagt er: «Wir sind mehr – das stimmt einfach nicht.» Man sei einmal, an einem Tag, mehr gewesen. Aber sonst könne man nicht wegreden, dass die Rechten in Chemnitz mehr mobilisieren würden. «Ich habe einen grossen Respekt vor dieser grossen Zahl an Menschen, den Adolf haben sie auch gewählt.»

Osten kleidet sich bürgerlich – Cordhose, Hemd –, auch damit eckt er an. Einmal sei er vor der Haustür angespuckt worden, einfach so. Ein Nazi sei das nicht gewesen. Alles, was aus dem Rahmen des Gewöhnlichen fällt, scheint in Chemnitz mit einem gewissen Argwohn behandelt zu werden. Osmar Osten ist immer der andere. Aber darüber beklagt er sich nicht. Alles ist gut, auch wenn nicht immer alles gut ist.

Wie eine Landesgartenschau

Was erhofft er sich von der Kulturhauptstadt? «Ich wollte mit dem Projekt eigentlich nichts zu tun haben.» Aber nun soll er eine grosse Plastik machen im öffentlichen Raum. Osten ist noch etwas skeptisch. Er warte jetzt mal ab, was da komme. Abgesehen davon könne er in der Stadt keine spezielle Euphorie feststellen. «Es wird Gäste geben wie bei einer Landesgartenschau.»

Für Osten wäre die Plastik der erste Grossauftrag mit öffentlichen Geldern. Man hat den Eindruck, dass er es gern machen würde. Er habe nie grosse Aufträge gehabt vom Staat, weder in der DDR noch in der BRD.

Eine Partei für den «Säxit»

Eine Partei in Chemnitz sucht den radikalen Bruch mit dem Staat, den «Säxit» – eine Abspaltung Sachsens von Deutschland und zugleich eine Annäherung an die Visegrad-Staaten, da man mit den Ungarn und den Tschechen mehr gemeinsam habe. Der rechte Lokalmatador von Chemnitz, Martin Kohlmann, kommt denn auch nicht von der AfD, sondern von den Freien Sachsen und einer Körperschaft, die sich Pro Chemnitz nennt. Sie ist 2018 mit der Organisation von Demos aufgefallen. Gibt es rechts von der AfD eine Partei? Ja, die Freien Sachsen.

Robert Andres, 33, sitzt in der Parteizentrale. Im Vorzimmer hängt ein Porträt von Kaiser Wilhelm, im Büro das Wappen des Freistaats Sachsen. Andres ist in Cottbus aufgewachsen und wegen der Lehre nach Chemnitz gezogen: Verkauf und Lager. In Brandenburg habe es damals noch weniger Stellen gegeben als hier.

«Seit 2018 weiss jeder, auf welcher Seite er steht.» Robert Andres, Politiker Freie Sachsen.

«Seit 2018 weiss jeder, auf welcher Seite er steht.» Robert Andres, Politiker Freie Sachsen.

«Ich habe die grosse Demo von 2018 angezettelt», sagt Andres, «wenn die Journalisten recherchiert hätten, hätten sie das herausgefunden.» Dass sein Einsatz öffentlich nicht recht gewürdigt wurde, scheint ihn etwas zu kränken. Andres glaubt, dass Chemnitz den Zuschlag für die Kulturhauptstadt nur wegen 2018 bekommen hat. Der junge Mann gefällt sich in der Idee, die Fäden zu ziehen.

Drohrede im Stadtrat

Für die Fraktion «Pro Chemnitz / Freie Sachsen» sitzt er im Stadtrat. Im vergangenen Jahr hat er da eine Rede gehalten, die in den lokalen Medien als Drohung für 2025 wahrgenommen wurde. «Wir arbeiten intensiv daran, das Jahr zu einem freudigen Jahr werden zu lassen», sagte er. «Auf jeden Fall wird es Chemnitz wieder europaweit zu Schlagzeilen schaffen.»

Soll sich 2018 wiederholen? Die Rede sei eine bewusste Provokation gewesen, erklärt er nun und bleibt im Ungefähren: Man werde Dinge machen, die den Standpunkt der Partei zeigen würden. Auch an den Montagsdemonstrationen beteiligen sich die Freien Sachsen. Worum geht es? «Die Grundaussage der Menschen ist: Wir sind unzufrieden mit der Regierung.» Der eine könne die Stromrechnungen nicht mehr zahlen, der andere wolle sich nicht impfen lassen. Ursache des Ärgers sei aber immer die Regierung. Eine Regierung, die den Leuten im Osten seit 32 Jahren sage: «Du bist nichts wert.»

Seine Partei ist mit sechs Sitzen im Stadtrat vertreten, weitere acht Sitze (von sechzig) gehören der AfD. Die Freien Sachsen gelten als rechtsextrem und werden vom Verfassungsschutz beobachtet. Aber was heisst beobachtet? Andres jedenfalls ist wenig beeindruckt. «Der Verfassungsschutz wurde als Schreckgespenst aufgebaut. Die beobachten uns nicht mit Ferngläsern, oder haben Sie sich beobachtet gefühlt, als Sie hierhergekommen sind?»

«In den zwölf Jahren wurde nicht alles falsch gemacht»

Waren die rechten Demos ein Erfolg für ihn? «Erfolg ist das falsche Wort. Über die Stadt wurde viel Schlechtes geschrieben. Gleichzeitig wurde endlich auch über die Gewalt von Ausländern geredet.» Was ist geblieben? «Ein tiefer Riss, seit 2018 weiss jeder, auf welcher Seite er steht. 25 Prozent stehen auf unserer Seite, 25 Prozent auf der anderen, und 50 Prozent sitzen im Graben drin, die interessieren sich für keine Seite.»

Von sich aus kommt Andres auf den Nationalsozialismus zu sprechen. «In den zwölf Jahren wurde nicht alles falsch gemacht. Der Reichsarbeitsdienst war nicht verkehrt. Die Idee ist ähnlich wie die für den Zivildienst.» Auch die Familienpolitik der Nazis sieht er positiv. «Trotzdem gibt’s viele Dinge, die nicht gut liefen, zum Beispiel der Krieg.»

Andres gibt sich Mühe, keinen allzu extremen Anschein zu machen. Gleichzeitig demonstriert er, dass es eine Abgrenzung von ihm zur NPD oder zu Neonazis nicht geben wird. Vermutlich könnte er sich dies mit Blick auf seine Wähler auch nicht leisten. Die Wörter «Juden» und «Holocaust» fallen nicht. Möglicherweise gehört die Vernichtung der Juden für Andres einfach zu den Dingen, die nicht gut gelaufen sind, im Gegensatz zum Reichsarbeitsdienst.

Mein Freund, der Rechtsextremist

Nach den Demonstrationen von 2018 verging kein Jahr, und Chemnitz war wieder in den Schlagzeilen. Der Chemnitzer FC (CFC) legte im Stadion eine Schweigeminute für einen bekannten rechtsradikalen Fan ein. Dieser gründete in den 1990er Jahren eine Hooligan-Vereinigung unter dem Namen HooNaRa (Hooligans Nazis Rassisten) und betrieb eine Sicherheitsfirma, die lange für den CFC arbeitete. Als der Verein dafür kritisiert wurde, rechtfertigte er sich so: «Die Ermöglichung der gemeinsamen Trauer stellt keine Würdigung des Lebensinhalts des Verstorbenen dar.» Eine Sozialdemokratin, die damals im Stadtrat sass, schrieb dem Toten auf Facebook: «Es gab grundlegende Dinge, die haben uns strikt getrennt. Aber es gab eben auch die andere, menschliche Seite. Wir waren immer fair, straight, unpolitisch und herzlich zueinander – das hat dich ausgezeichnet. Ruhe in Frieden!»

Einmal mehr zeigte sich, wie gut die Rechtsextremisten in Chemnitz vernetzt sind. Mein Freund, der Nazi – menschlich hat es gestimmt. Im Stadtteil Sonnenberg wollten Rechtsextremisten vor ein paar Jahren eine «national befreite Zone» einrichten. Die NSU-Mörder Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe tauchten in Zwickau und Chemnitz unter. Ein Zufall?

«Jetzt denken alle nur noch an Hetzjagden»

Ulf Bohmann ist Soziologe und Mitherausgeber des Buches «Risikodemokratie. Chemnitz zwischen rechtsradikalem Brennpunkt und europäischer Kulturhauptstadt». Er hat die Gesellschaft nach 2018 beobachtet und analysiert, nicht aus der Distanz. Er hat mit den Leuten geredet, ist da hingegangen, wo sie ihr Bier trinken und ihren Döner essen. «Die Demonstrationen hätten überall stattfinden können, die rechten Netzwerke funktionieren bundesweit. Gleichzeitig ist es auch kein Zufall: Man wusste, hier geht es, hier lassen sich die Leute mobilisieren.»

«Chemnitz ist Peripherie, es ist bedrohlich.» Ulf Bohmann, Soziologe an der Technischen Universität Chemnitz.

«Chemnitz ist Peripherie, es ist bedrohlich.» Ulf Bohmann, Soziologe an der Technischen Universität Chemnitz.

Man sitzt in der Cafeteria der TU Chemnitz. Bohmann, 42, kommt ursprünglich aus der Nähe von Augsburg, Bayern. Wie die meisten Leute an der Uni wohne auch er nicht in Chemnitz, sondern in Jena. «Man muss länger in Chemnitz sein, um den Ort schätzen zu lernen. Es ist Peripherie, es ist bedrohlich.» Üblicherweise reden hier alle von Leipzig und Dresden – das sind die Referenzstädte, im akademischen Milieu spielt allerdings auch Jena eine Rolle. In Chemnitz gibt es um die 10 000 Studenten, in Jena sind es mehr als doppelt so viele, obschon der Ort viel kleiner ist. «2018 dachte ich: Jetzt ist es vorbei mit Chemnitz, jetzt denken alle nur noch an Hetzjagden. So ist es aber nicht.» Die Studenten seien weiterhin gekommen, wenn auch etwas weniger zahlreich.

Es sei beeindruckend, wie stabil die Mobilisierung der Empörten seit 2018 sei, umso mehr, «als die Leute hier sonst eher privat und passiv sind». Jeden Montag seien 2000 bis 3000 Menschen unterwegs. «Die Demonstrationen sind erst einmal bürgerlich niederschwellig, so dass eigentlich jeder mitmachen könnte. Fast jeder Chemnitzer kennt jemanden, der rechtsradikal ist. Er sei nett, man dürfe mit ihm nur nicht über Politik reden, heisst es.»

Die Organisatoren der Demos seien versierte Leute und eingespielt. «Die sind nicht total sauer und wollen Steine schmeissen. Die Demos haben etwas seltsam Depolarisierendes. Was hier stattfindet, ist kein Sturm aufs Kapitol. Man geht spazieren. Es ist gesellig.» Auf Abschreckend-Martialisches werde verzichtet. Wo ist denn der Rechtsradikalismus? «Es gibt absolute Feindbilder», sagt Bohmann. «Es gibt ein Homogenitätsstreben, einen absoluten Wahrheitsanspruch, Sündenböcke: das Gerede einer Weltelite.»

Bohmanns Wette

2018 sei der Stolz der Mehrheitsgesellschaft gekränkt worden durch die Demos. «Aber ein rechtsextremes Milieu ist stolz darauf. Für sie war es ein gelungener Moment der Hegemonie. Dass Chemnitz für viele Linke und Migranten als No-go-Zone gilt, ist ein Erfolg für die Rechten.» Die Befürchtung, dass das Projekt der Kulturhauptstadt von Rechten gekapert wird, hält er für berechtigt: «Die sehen in der Kulturhauptstadt ein Gutmenschenprojekt und einen albernen Firlefanz.»

Als Soziologe hat Bohmann in Chemnitz ein anregendes Untersuchungsfeld gefunden. Als harmlos empfindet er dieses aber nicht. «Wenn ein Schwarzer drei Tage in Chemnitz verbringt, wird er eine rassistische Erfahrung machen, darauf würde ich 100 Euro wetten.» Vor der Publikation des Buches «Risikodemokratie» habe ihm die Pressestelle der TU Chemnitz gesagt: «Wenn die Bedrohungen kommen, stehen wir Ihnen bei». Bisher sei es ruhig geblieben.

Hitlergruss auf dem Fahrrad

Der Geschäftsführer der Kulturhauptstadt heisst Stefan Schmidtke. Ein Dramaturg und Kulturmanager. Sein Büro, ein unprätentiöser Raum mit Spannteppich, befindet sich in einer ehemaligen Commerzbank-Filiale im Zentrum der Stadt. Warum wollte er für dieses Projekt arbeiten? «Die Motivation ist meine mir persönlich etwas verlorengegangene Heimat. In Karl-Marx-Stadt bin ich als Jugendlicher herumgestromert», sagt Schmidtke. Er kommt ursprünglich aus Döbeln, Sachsen, vierzig Kilometer von Chemnitz entfernt. Die sächsische Art zu kennen, sei hilfreich. «Chemnitz war immer eine Arbeiterstadt. Hier hat man eine karge, kurze Sprache, spricht auf den Punkt. Diese Kultur kennt kein ‹wunderbar› und ‹grossartig›.»

Andrea Pier, die kaufmännische Geschäftsführerin, kommt aus Bielefeld. «Die Kommunikation ist sehr direkt wie in Berlin», bestätigt sie. Sie sei hier gut aufgenommen worden, habe keine negativen Erfahrungen gemacht. Wobei dies doch etwas untertrieben wäre, zumindest im Fall von Schmidtke.

«Wir führen hier eine Operation am offenen Herzen durch.» Andrea Pier und Stefan Schmidtke, die beiden Geschäftsführer der Kulturhauptstadt Europas 2025 GmbH in Chemnitz.

«Wir führen hier eine Operation am offenen Herzen durch.» Andrea Pier und Stefan Schmidtke, die beiden Geschäftsführer der Kulturhauptstadt Europas 2025 GmbH in Chemnitz.

Die Räume der Kulturhauptstadt Europas 2025 GmbH in Chemnitz befinden sich in einer alten Commerzbank-Filiale.

Die Räume der Kulturhauptstadt Europas 2025 GmbH in Chemnitz befinden sich in einer alten Commerzbank-Filiale.

Er ist durch die Medien bekannt, und dass ihn die Rechtsextremen kennen, geben sie ihm immer mal wieder zu verstehen. «‹Ein Volk, ein Reich, eine Kulturhauptstadt› – auch solche Briefe bekommt man hier neben vielen anderen. Leute fahren mit dem Fahrrad vorbei und grüssen mich mit ‹Heil Hitler›. Das schreckt mich nicht. Ich antworte: ‹Der ist lange tot!›» Morgens um acht würden dann wieder junge, motivierte Studenten vor der Bude stehen, die Projekte vorstellen wollten.

4000 Apfelbäume und 3000 Garagen

Man stellt sich solche Kulturmanager leicht weltfremd vor. Schmidtke und Pier machen aber einen robusten Eindruck. Anders würde es in Chemnitz auch nicht gehen. Die Aufgabe der beiden ist es nun, 72 Ideen umzusetzen. Das «craziest project» sei die Pflanzung von 4000 Apfelbäumen in den nächsten vier Jahren in der ganzen Stadt, sagt Schmidtke. Aber das sei noch nicht alles: 2000 Apfelsorten müssten vorkommen, für die Bepflanzung brauche es in der Innenstadt entsprechend 25 000 Quadratmeter. «Für den Klimaeffekt ist das umwerfend», so freut sich Schmidtke. «Wir arbeiten daran, dass Leute einen Baumwartschein erwerben können. Sie treffen sich zur Pflanzung, können sich verpflichten, einen Baum zu pflegen.»

Ein anderes Projekt heisst «3000 Garagen». «Wir wollen, dass die Leute ihre Privaträume öffnen für Besucher», erklärt Schmidtke. «Im Osten sind die stillgelegten Biografien das Bedrückendste. Durch das Garagenprojekt sollen die Leute ihre Geschichte erzählen. Sie können sagen, wer sie sind.» Es klingt fast mehr nach Sozialarbeit als nach Kultur.

Ob die Chemnitzer Lust haben, Bäume zu pflanzen und ihre Geschichte in der Garage zu erzählen, wird man sehen. Pier sagt: «Es geht nicht darum, gegen was zu sein. Es geht darum, Leute mitzunehmen.»

Der Verantwortung scheinen sich die beiden bewusst zu sein. «Wir führen hier eine Operation am offenen Herzen durch», sagt Schmidtke. «Wenn die Kulturhauptstadt nicht ankommt, dann wäre das fatal.» Was würde passieren? Pier sagt: «Das Schlimmste wäre, wenn sich die Leute wegdrehen würden.»

Die zweitgrösste Büste der Welt

Karl-Marx-Stadt war der Wahlkreis von Erich Honecker. 1971 wurde hier vor einer Viertelmillion Menschen die 40-Tonnen-Büste von Karl Marx enthüllt, das Wahrzeichen der Stadt. Die Chemnitzer nennen ihn «Nischel». In Leningrad hergestellt, wurde der Schädel in 95 Einzelteilen zerlegt nach Karl-Marx-Stadt transportiert. Er ist, und wie könnte es anders sein, aber nur die zweitgrösste Büste der Welt. Chemnitz ist keine Stadt für Rekorde.

Irgendwie kommt man an diesem Kopf immer wieder vorbei, wenn man sich in dieser Stadt bewegt. Oft ist auch hier, an zentraler Lage, kein Mensch. Das Symbol passt zu Chemnitz. Es ist grau, ein bisschen grotesk, nicht schön, aber interessant.

40 Tonnen schweres Wahrzeichen der Stadt, die Büste von Karl Marx.

40 Tonnen schweres Wahrzeichen der Stadt, die Büste von Karl Marx.

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