Eine Zirkusschule gibt Kindern eine Zukunft

Unweit der Ruinen von Angkor Wat lehrt eine Zirkusschule kambodschanische Kinder aus armen Familien zu hoffen und zu vertrauen. Viele machen aus Akrobatik, Tanzen, Musizieren oder Zeichnen einen Beruf. Und finden damit ihren Platz in der Welt.

Der Zirkus hat Rachanas Welt gross gemacht. Sie ist im Ausland aufgetreten – in Deutschland, Frankreich, Myanmar, Korea, Dänemark. An diesem Morgen federt die 25-Jährige auf dem abgewetzten Trampolin in die staubige Luft der Trainingshalle der Künstlerschule Phare Ponleu Selpak in Battambang, der drittgrössten kambodschanischen Stadt.

Auf dem Boden liegen Teppiche und Matten. Schlieren auf den Fensterscheiben verschleiern den Blick nach draussen. Rachana starrt geradeaus, wenn sie vom Spanntuch federt, ihr Körper spannt sich – sobald sie aber in der Höhe schwebt, lösen sich ihre Gesichtszüge. Sie holt Luft, springt nochmals, höher und immer höher.

Rachana ist eine junge Frau, die mit leiser Stimme spricht. Ihr Blick ist scheu. Die Haare hat sie zusammengeknotet, hin und wieder huscht ein Lächeln über ihr Gesicht. «Phare hat mir erlaubt zu träumen», sagt sie. Mit elf Jahren hat sie mit dem Zirkustraining begonnen. Vormittags sass sie in der Schule, rechnete und schrieb Aufsätze. Am Nachmittag übte sie Salto, Seiltanz, Jonglieren. Zentimeter für Zentimeter hat sie gelernt, ihre Beine in den Spagat zu dehnen.

Sie gehört zu jenen, die am längsten dabei sind. Heute unterstützt sie Jüngere, zeigt ihnen Übungen am Trapez – und plant dann mit den anderen Artistinnen und Artisten die Choreografie für ihre nächste Show.

Eine kurze Pause beim täglichen Training.

Eine kurze Pause beim täglichen Training.

Rachana trainiert die Kinder und gibt ihnen Tips und Hilfestellungen.

Rachana trainiert die Kinder und gibt ihnen Tips und Hilfestellungen.

Rachana in der Künstlerschule Phare Ponleu Selpak in Battambang: bei einer kurzen Pause (links) und beim Training mit den Kindern (rechts).

Die einzige Frau

Seit ihrem Abschluss vor eineinhalb Jahren ist sie professionelle Zirkusartistin. In der Gruppe der Absolventen ist sie die einzige Frau. In Kambodscha wird es nicht gern gesehen, wenn Frauen sich verbiegen, sportlich oder muskulös sind und auf der Bühne stehen, wie Rachana erzählt.

Der Campus der Hoffnung liegt drei Fahrstunden von den Tempelanlagen von Angkor Wat entfernt. Er gibt über tausend Kindern aus armen Verhältnissen eine Zukunft. Die meisten von ihnen kommen aus Familien von Müllsammlern oder Strassenverkäufern, sind als Waisen oder bei der Grossmutter aufgewachsen, weil ihre Eltern zur Arbeitssuche nach Thailand gingen. In Phare Ponleu Selpak, was übersetzt «Licht der Künste» bedeutet, werden sie zu Malern oder Musikern, lernen tanzen und Akrobatik. Und vor allem lernen sie, sich selbst zu vertrauen. Vor der Gründung waren hier Reisfelder, heute drängen sich auf dem zwei Hektaren grossen Gelände ein halbes Dutzend Gebäude um die zentrale Trainingshalle.

Die Halle ist in der Mitte geöffnet wie ein Zirkuszelt. An einem Tuch schlängelt sich gerade ein Mädchen empor. Ein paar Kinder schwingen ein Diabolo in die Luft, vor der Halle fahren zwei Knaben Einrad. Wenn die Lehrer Anweisungen geben, lauschen die Kinder und Jugendlichen aufmerksam.

In einem kleinen Pavillon daneben klopfen Musikschülerinnen auf die hölzernen Khmer-Xylofone. Hohe, klare Töne erklingen bis hinaus auf den Hof. Gleich gegenüber blättern in der kleinen Bibliothek Schulkinder in Büchern. Dahinter, im Kindergarten, schlängeln die Jüngsten ihre Hände und Arme in die Höhe wie Pflanzen, die aus dem Boden spriessen. Die Erzieherin schult sie im traditionellen Khmer-Tanz: «Erst seid ihr der Samen, dann wachst ihr und wachst.»

Regen liegt in der feuchtwarmen Luft, über dem Himmel bauschen sich dunkle Wolken. Im Café vertreiben sich Schülerinnen in Schuluniformen die Pause mit ihrem Smartphone und lachen über Tiktok-Videos. Es ist Mittagszeit. Die Kinder stehen Schlange für das Essen. Som Savoern, die Köchin, schöpft aus dem Reistopf, hakt nebenbei auf einer Liste die Namen der Kinder ab. Für viele ist es die einzige Mahlzeit am Tag. Es gibt Omelette und Gemüse, Hühnerfleisch. Auch Som Savoerns Töchter gingen hier zur Schule, eine ist nun Artistin im Zirkus von Phare nahe von Angkor Wat. Es ist das Ziel, dort wollen alle hin.

Vormittags oder nachmittags werden die Kinder in der Schule unterrichtet, direkt auf dem Gelände. Früher gehörte auch sie zu Phare, mittlerweile ist sie staatlich. Das Gesetz schreibt in Kambodscha vor, dass Kinder über neun Jahre kostenfrei in eine Schule gehen dürfen. Eine Schulpflicht gibt es jedoch nicht. Kunst- oder Musikunterricht? Hat in den Lehrplänen an den staatlichen Schulen keinen Platz. In Dörfern ohne öffentliche Schulen ist es für viele kaum möglich, zum Unterricht zu gelangen. Zwar gehen die meisten Kinder in eine Grundschule, aber nur ein Drittel besucht im Anschluss weiterführende Klassen. Für Familien, die sich Bücher und Uniformen kaum leisten können oder deren Kinder arbeiten müssen, damit das Geld gerade so zum Überleben reicht, will Phare eine Perspektive schaffen.

An der Phare-Ponleu-Selpak-Schule werden die Kinder auch in Musik unterrichtet.

An der Phare-Ponleu-Selpak-Schule werden die Kinder auch in Musik unterrichtet.

Die Köchin Sam Savoern gibt Mittagessen an Kinder aus, die kein Geld für das Essen haben und deshalb auf ihrer Liste stehen.

Die Köchin Sam Savoern gibt Mittagessen an Kinder aus, die kein Geld für das Essen haben und deshalb auf ihrer Liste stehen.

Ein Weg, Gefühle auszudrücken

Wenn Rachana auf dem Heimweg durch ihr Viertel geht, nur fünf Fussminuten vom Campus entfernt, fahren Motorroller an ihr vorbei. Eltern holen ihre Töchter und Söhne von der Schule ab und drängen sich zu dritt oder zu viert auf den Rollern. Am Strassenrand spielen ein paar Mädchen Fangen, in kleinen Bretterbuden rühren Frauen in Töpfen und backen dünne Pfannkuchen. Es ist ein Viertel, in dem nicht viel Platz für Träume ist. Rachana trifft immer wieder auf Kinder, die verloren wirken, Drogen nehmen, «die nicht wissen, was richtig und falsch ist», wie sie sagt. Doch vieles hat sich in den vergangenen Jahren gewandelt, auch durch den Einsatz der Sozialarbeiter von Phare. Sie besuchen die Familien, kümmern sich um herumlungernde Kinder.

Rachana weiss aus eigener Erfahrung, wie wichtig es ist, dass die Kinder in der Künstlerschule Halt finden. Für sie selbst hat sich durch Phare alles verändert. Akrobatik und Tanz ist für sie ein Weg, ihre Gefühle auszudrücken. «Es ist meine Sprache geworden», sagt Rachana. «Bin ich traurig und beginne mein Training, bewege mich, dann fühle ich mich wieder stark.»

Zu Hause lässt sich Rachana in ihre Hängematte fallen. Mit den Eltern teilt sie sich den Raum – auf dem grossen Bett schläft ein Kätzchen, ein paar Räucherstäbchen brennen. Die Wohnung erinnert an eine Garage, die Einrichtung ist sparsam, es mangelt an Platz, seit auch Rachanas Freund eingezogen ist. Auch er ist Artist, sie haben sich an der Zirkusschule kennen- und lieben gelernt. Rachana hat das Jahr ihres Kennenlernens auf ihren Arm tätowiert: 2012.

Rachana ist müde. Auch nach vielen Jahren bleibt das Training kräftezehrend. Aber sie sagt: «Durch meine Auftritte konnte ich meine Familie unterstützen, ein neues Haus für sie bauen und das Studium meiner Schwester finanzieren.» Aufgewachsen ist sie mit vier Geschwistern. Als sie ein Kind war, arbeitete ihr Vater als Taxifahrer und hatte ein Motorrad. Heute fährt er einen grossen Wagen. Ihre Mutter verkaufte früher Gemüse auf dem Markt. Das Geld war knapp. «Manchmal, wenn ich herumhängen wollte, trieb mich meine Mutter an, sagte: ‹Wir mussten wegrennen vor Bomben, lebten in ständiger Angst. Du musst härter arbeiten. Sei froh, jetzt zu leben.›» Heute erkennt Rachana, dass es die Bildung und die Gemeinschaft waren, ihre «Zirkusfamilie», die ihr den Weg wiesen. Sie hatte Menschen, die an sie glaubten.

Menschen wie Khuon Det, der Direktor der Zirkusschule. Er steht gerade in der Halle neben einer Gruppe von Jungen, die im Kreis auf dem Rücken liegen. Khuon Det lässt sich nicht allzu schnell aus der Ruhe bringen. «Schliesst die Augen», sagt er mit monotoner Stimme. Ein Junge blinzelt verstohlen. «Nein, nicht schummeln», mahnt Khuon Det und lächelt dabei. Sich zu entspannen nach dem Training, das sei die wahre Kunst, den Atem fliessen zu lassen, in die Stille zu gehen.

Battambang ist die Heimatstadt des Direktors. Sie gilt als «Reisschüssel» des Landes – und als Wiege von Kunst und Kultur. Khuon Det wurde 1972 hier geboren, als in Kambodscha Bürgerkrieg herrschte. «Ich bin ein Waisenkind», sagt er. Weil er sich nie geliebt fühlte, oft vernachlässigt, weiss er, wie wichtig es ist, für Kinder da zu sein. «Sie sollen eine Chance bekommen.»

Khuon Det ist einer der Schulgründer. Er ist zuständig für den Artistikbereich.

Khuon Det ist einer der Schulgründer. Er ist zuständig für den Artistikbereich.

Jedes Kind darf entdecken, wo es seine Stärken hat, auch die Kleinsten, die im Kindergarten der Schule spielen.

Jedes Kind darf entdecken, wo es seine Stärken hat, auch die Kleinsten, die im Kindergarten der Schule spielen.

Gefängnis ohne Mauern

Unter den Roten Khmer wurden auch Kinder zu Soldaten. Selbst wenn die Eltern noch am Leben waren, kamen sie in Waisenhäuser, die vom Militär kontrolliert wurden. Auch den siebenjährigen Det ereilte dieses Schicksal. Sein Grossvater ihn aus dem Waisenhaus retten und brachte ihn in einem Durchgangslager in Thailand unter. Wie Hunderttausende andere zog Det ganz alleine von einem Flüchtlingslager zum anderen, bis er fast zwei Jahre später in Site 2 bei Aranyaprathet ankam, dem damals grössten Lager der Welt mit über 200 000 Flüchtlingen. Dort blieb er die nächsten zehn Jahre. Sein Leben war geprägt von Hunger, Elend und Einsamkeit. «Das Lager war ein Gefängnis ohne Mauern. Als ich später einmal zurückkehrte, sah ich die verbliebenen Spuren und erkannte, wie klein meine Welt gewesen war.»

Alles, was das Land ausmachte – die Kultur, die Wirtschaft –, wurde im Krieg und während der Schreckensherrschaft der Roten Khmer zerstört. Reihten sich in der Altstadt von Battambang einst Theater und Ateliers neben französischen Villen aus der Kolonialzeit aneinander, lag das künstlerische Leben im Land bald brach. Bildung galt als Bedrohung, Gelehrte, Intellektuelle und viele Künstler wurden getötet. Neunzig Prozent der Lehrer verloren ihr Leben. Unzählige Menschen starben durch Folter, Zwangsarbeit, fehlende medizinische Hilfe. Dem Völkermord fielen zwei Millionen Menschen zum Opfer. Khuon Det war gerade sieben Jahre alt, als vietnamesische Truppen 1979 einmarschierten, um die Regierung der Roten Khmer abzusetzen. Der Guerillakrieg hielt die nächsten Jahre an. Hinterlassen wurde eine traumatisierte Generation, die sich selbst und ihr Land in Trümmern wiederfand. Heute ist Kambodscha eines der ärmsten Länder Asiens.

Khuon Det konnte als Kind nicht zur Schule gehen. Stattdessen bildete ihn das Militär aus, drillte ihn in Kampfkunst. «Ich war stark, lernte, mich selbst zu verteidigen.» Er sollte Soldat werden, wie sein Grossvater.

Doch als er vierzehn war, änderte sich sein Leben im Lager. Es kamen fahrende Händler, die traditionelle Heilpflanzen und Kräuter verkauften, sogar umherziehende Magier, die Affen an Ketten mit sich führten und Zaubertricks aufführten. Auch aus Frankreich kamen Künstler und Lehrer, die an die heilsame Kraft der Kunst glaubten und den Kindern helfen wollten. In Bambushütten sassen sie und malten mit Buntstiften das Leben im Lager und ihre Träume, zeichneten gegen ihr Trauma an. Sie nannten es nicht so, wie auch Khuon Det es nicht so nennt: Doch es war Kunsttherapie, die ihm half, mit all den Schrecken umzugehen. Er absolvierte eine Ausbildung an der Nationalen Zirkusschule der Königlichen Universität der Schönen Künste in Phnom Penh. Seine Erfahrung wollte er auch anderen Kindern mitgeben.

Als er nach dem Zerfall der Roten Khmer zurückkehrte in seine Heimatstadt, gründete er Phare Ponleu Selpak, zusammen mit acht Freunden, die mit ihm in Kunst unterrichtet worden waren. In der armen ländlichen Gegend siedelten sich viele obdachlose Familien nach ihrer Rückkehr aus den Flüchtlingslagern an, anfangs lebten sie in Zelten. Dem Grauen der Vergangenheit wollten Khuon Det und seine Mitstreiter mit dem Zauber der Khmer-Kultur begegnen: Sie fingen mit einer Zeichenschule an, und mit den Jahren kam Musik hinzu, traditioneller Tanz, Akrobatik. Heute gibt es zudem ein modernes Studio für Animationsfilme und Grafikdesign.

Akrobatik und Tanz ist für viele Jugendliche ein Weg, ihre Gefühle auszudrücken ...

Akrobatik und Tanz ist für viele Jugendliche ein Weg, ihre Gefühle auszudrücken …

... dabei sollen sie nicht unter Druck gesetzt und zu Höchstleistungen angespornt werden.

… dabei sollen sie nicht unter Druck gesetzt und zu Höchstleistungen angespornt werden.

Khuon Det wollte eine Show für die Opfer der Roten Khmer machen, «damit sie sich der Angst stellen und nicht an Rache denken, sondern Frieden im Geist und im Herzen finden». Jedes Stück, das die jungen Artisten heute aufführen, erzählt eine Geschichte: vom Schweigen der älteren Generation über die Greuel der Vergangenheit, vom Geisterglauben und von der Diskriminierung verstümmelter Minenopfer.

Für junge Menschen wie Rachana ist die düstere Vergangenheit weit weg. «Ich bin stolz, dass wir die Kunst im Land wiederbeleben, dass ich einen Teil dazu beitragen kann.» Ihre Arbeit im Zirkus ist für sie mehr als eine Unterhaltungsshow. Eine ihrer wichtigsten Rollen ist die von «Sokha», was auf Khmer «Glück» bedeutet. Darin spielt sie ein Mädchen, das die Ermordung seiner Familie durch die Roten Khmer miterlebt und schliesslich durch die Kunst neuen Lebenswillen findet.

In den achtziger Jahren wurden die Grausamkeiten der Pol-Pot-Schlächter noch in den Schulen gelehrt, heute nicht mehr. Eine öffentliche Aufarbeitung der Vergangenheit der Diktatur, die ein Fünftel der Gesamtbevölkerung das Leben gekostet hatte, gab es kaum. Nie wurden Überlebende und Hinterbliebene entschädigt, Mörder und Opferfamilien leben Tür an Tür in den ländlichen Provinzen. In den meisten Familien herrsche Schweigen, sagt Khuon Det.

Seine Stärken entdecken

Sein Trauma, sagt Khuon Det, habe ihn lange begleitet. Darum will er, dass die Kinder, die heute von ihm lernen, es gern tun. «Sie sollen spielen, glücklich sein, nur dann kommen sie täglich zu uns», sagt er. Die Kinder sollen nicht unter Druck gesetzt und zu Höchstleistungen angespornt werden. «Wir wollen, dass sie hier sicher sind, sich geborgen fühlen und sich entfalten können.» Jedes Kind darf entdecken, wo es seine Stärken hat.

Sozialarbeiter besuchen regelmässig die Eltern, kümmern sich darum, dass die Schülerinnen und Schüler gut versorgt sind. Sie klären über Hygiene auf, vermitteln, wie wichtig es ist, dass die Kinder regelmässig zum Unterricht kommen.

Die Corona-Pandemie hat viele Träume zerplatzen lassen. Die meisten der Artisten haben sich Jobs gesucht, um das fehlende Honorar auszugleichen, auch Rachana. Sie begann, auf dem Markt Getränke zu verkaufen. Der Zirkus war monatelang geschlossen, das Einkommen der Artisten ist damit zusammengeschmolzen. Sie werden für jede Show bezahlt, je nach Anzahl der Zuschauer sind es mal 30, mal 60 Dollar an einem Abend. In einem guten Monat verdienen Artisten wie Rachana etwa 200 Dollar und mehr. Eine beachtliche Summe in Kambodscha, wo das durchschnittliche Einkommen 100 Dollar beträgt. Vierzig Prozent der Einnahmen gehen an Phare Ponleu Selpak. Rund eine Million Dollar jährlich kostet das Programm. Immer wieder ziehen die Artisten los und sammeln Spenden: so wie bei einer Tour in Phnom Penh.

Rachana schminkt sich für ihren Auftritt.

Rachana schminkt sich für ihren Auftritt.

Rachana auf der Bühne des Französischen Instituts in Phnom Penh.

Rachana auf der Bühne des Französischen Instituts in Phnom Penh.

Die Hauptstadt Kambodschas liegt sechseinhalb Stunden Fahrt von der Zirkusschule entfernt. An einem Nachmittag versammeln sich im Innenhof des Französischen Instituts mehrere hundert Menschen auf Plastikstühlen vor der Bühne. In einem Zelt schminkt sich Rachana, zieht die Augenbrauen schwarz nach. Ihr Blick ist konzentriert, sie schweigt, während um sie herum die Jungen lachen und laut herumalbern. Es ist der erste Auftritt nach einer wochenlangen Pause. Lampenfieber kennt Rachana nicht mehr. «Aber mich macht es jedes Mal glücklich mitzuerleben, wie das Publikum mitfiebert.»

Wenige Minuten später tanzt Rachana mit ihren sechs Akrobaten über die Bühne, sie gleiten in geschmeidigen, fliessenden Bewegungen. Sie jonglieren, gehen auf Stelzen, wechseln die Kostüme so schnell wie ihre Rollen: vom Gejagten und Ausgestossenen zum Herrschenden und Unterdrücker. Vom Mächtigen zum Schwachen. Rachana ist die Umkämpfte, die Gefeierte, mal liegt sie am Boden, wird getreten, gedemütigt, dann erobert, in die Höhen gehoben, in den Himmel. Rachana springt in die Luft, landet auf den Schultern ihres Kollegen, steht aufrecht, die Arme wie Flügel ausgebreitet. Die Charaktere im Stück «Influence» streben nach dem Triumph, dominieren und werden dominiert, aber letztlich entdecken sie ihre Stärke und finden ihren Platz in der Welt.

So wie Rachana ihn gefunden hat. Sie liebt es, auf der Bühne zu stehen. Am meisten aber liebt sie es, wenn sie fliegt. Ihre Teamkollegen werfen sie in die Luft. Für einen Moment schwebt sie. Ihre Augen strahlen. Dann wird sie wieder aufgefangen und gehalten, findet ihren festen Stand. «Ich habe gelernt, zu vertrauen. Das ist es, was zählt.»

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