England-Remis im Schnellcheck: “Dumme Aktion” versaut Bundestrainer die Premiere

Nach den Niederlanden und Italien bleibt Hansi Flick auch gegen England ohne Sieg. Trotzdem ist der Bundestrainer mit der Leistung der DFB-Elf in der Nations League höchst einverstanden. Einzig ein Fehler in der Schlussphase trübt die Bilanz des mutmachenden Abends.

Was ist im Stadion in München passiert?

Heute ist Hansi Flick als Bundestrainer der Hoffnungsträger nach fortschrittsarmen Jahren im deutschen Fußball, damals war er gerade mit der TSG Hoffenheim in die Regionalliga Süd aufgestiegen. Vor knapp 21 Jahren waren die deutsche und englische Nationalmannschaft zuletzt in München aufeinandergetroffen, noch vor der Eröffnung der modernen Arena in Fröttmaning, stattdessen im Olympiastadion mit seinem unverkennbar-einprägsamen, wunderschönen Dach. Als Carsten Jancker die DFB-Elf am 1. September 2001 nach sechs Minuten in Führung schoß, war die Welt noch in Ordnung, in den folgenden 84 Minuten aber erlebten die 63.000 Zuschauenden einen der im schlimmsten Sinne denkwürdigen Abende im bundesdeutschen Fußball.

Der von seinem verletzungsanfälligen Körper an einer Weltkarriere gehinderte Michael Owen traf dreifach, Steven Gerrard ebenfalls, den Schlusspunkt setzte Emile Heskey – 1:5 der Endstand, eine schlimmere Niederlage gab es seitdem nur im November 2020 beim 0:6 in Spanien. Flicks heutiges Gegenüber auf englischer Seite übrigens, Gareth Southgate, stand an jenem Abend zwar im Kader der Three Lions, eingesetzt wurde er jedoch nicht. Deutschland gegen England in München also. In der Nations League, die es damals noch nicht gab und die heute auch nur die wenigsten Fußballfans vermissen würden.

Bundestrainer Flick wechselte in der Startelf gleich siebenfach nach dem nicht zufriedenstellenden 1:1 in Italien zum Auftakt, Southgate tauscht auf fünf Positionen. Die Engländer verloren am Wochenende 0:1 in Ungarn, ein Aufeinandertreffen, das weniger wegen des Ergebnisses für Aufsehen sorgte. Anders als in Budapest begrüßte das Münchner Publikum die Anti-Rassismus-Geste der Gäste, die DFB-Elf ging ebenfalls auf die Knie.

Gegen Rassismus, gegen Diskriminierung, gegen Ausgrenzung.

(Foto: IMAGO/Nordphoto)

Vor rund einem Jahr beendeten die Three Lions im EM-Achtelfinale die Ära Joachim Löw, der Fehlschuss von Thomas Müller prägte sich als Bild des deutschen Scheiterns ein. Flick hat es mit seinem deutlich offensiveren Ansatz geschafft, dass es sich so anfühlt, als wäre dieser Tag schon deutlich länger her. Im Vergleich zum 0:2 im Wembley zeigte Deutschland diesmal eine Leistung, bei der das Zuschauen wieder Spaß macht. Auch wenn der verdiente Lohn kurz vor Schluss aus den Händen glitt und Flick gegen große Gegner – 1:1 gegen die Niederlande, Italien und England – sieglos bleibt.

Teams und Tore

Deutschland: Neuer/Bayern München (36 Jahre/111 Länderspiele) – Klostermann/RB Leipzig (25/17), Rüdiger/FC Chelsea (29/52), Schlotterbeck/SC Freiburg (22/3), Raum/TSG Hoffenheim (24/7) – Kimmich/Bayern München (27/66), Gündoğan/Manchester City (31/58) ab 83. Sané/Bayern München (26/44) – Hofmann/Borussia Mönchengladbach (29/12) ab 65. Gnabry/Bayern München (26/33), Müller/Bayern München (32/114) ab 75. Goretzka/Bayern München (27/43), Musiala/Bayern München (19/13) ab 65. Werner/FC Chelsea (26/51) – Havertz/FC Chelsea (22/27); Trainer: Flick

England: Pickford/FC Everton (28 Jahre/45 Länderspiele) – Walker/Manchester City (32/67), John Stones/Manchester City (28/58), Maguire/Manchester United (29/44), Trippier/Newcastle United (31/36) – Saka/FC Arsenal (20/16) ab 80. Bowen/West Ham United (25/2), Mount/FC Chelsea (23/29) ab 72. Grealish/Manchester City (26/22), Rice/West Ham United (23/31) – Phillips/Leeds United (26/21) ab 14. Bellingham/Borussia Dortmund (18/14), Kane/Tottenham Hotspur (28/71), Sterling/Manchester City (27/75); Trainer: Southgate
Schiedsrichter: Carlos del Cerro Grande (Spanien)
Tore: 1:0 Hofmann (50.), 1:1 Kane (88., Foulelfmeter nach Videobeweis)
Zuschauer: 66.289 (ausverkauft, in München)
Gelbe Karte: Schlotterbeck –

Die 90 Minuten im Spielfilm

3. Minute: Erst sucht Kai Havertz den Abschluss, den aber Jordan Pickford pariert, dann spielt Kieran Trippier im Aufbau einen schlimmen Fehlpass, der in eine Ecke mündet, die am zweiten Pfosten fast zur deutschen Führung führt, die Kyle Walker gerade so verhindert. Viele Nebensätze, die nötig sind, um den Schwung dieser ersten Offensivaktionen einzufangen.

7. Minute: Manuel Neuer tut, was Manuel Neuer tut, wenn er in der Münchner Arena im Tor steht. Harry Kane hält aus 22 Metern voll drauf und Neuer hält.

9. Minute: Nico Schlotterbeck zeigt das Selbstvertrauen, das er im Laufe seiner grandiosen Saison beim SC Freiburg aufgebaut hat. Nach seiner herausragenden Leistung im Pokalfinale traut er sich auch gegen den Vize-Europameister das Dribbling im Spielaufbau zu.

13. Minute: Tor für Deutschland, zählt aber nicht. Schiedsrichter Carlos del Cerro Grande unterbricht vor einem Einwurf, weil Calvin Phillips den Schmerzen nachgeben, sich auf den Boden setzen und auswechseln lassen muss. Er hatte sich dem Dribbling Schlotterbecks in den Weg zu stellen versucht und an seinem Oberschenkel dessen Knie zu spüren bekommen. Die DFB-Elf wirft trotzdem ein, Thomas Müller überlupft Pickford – und wird dann von den wiederholten Pfiffen des Unparteiischen darüber informiert, dass Jubeln unangebracht ist. Stattdessen kommt Jude Bellingham ins Spiel.

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Die DFB-Elf lief mit dem Trikot der DFB-Frauen auf, um auf deren EM im Juli aufmerksam zu machen.

(Foto: AP)

23. Minute: Tor für Deutschland, zählt aber wieder nicht. Schlotterbeck wählt am eigenen Strafraum die Option lang und hoch, Havertz blockt Harry Maguire weg und Jonas Hofmann läuft fast von der Mittellinie auf Pickford zu. Der Gladbacher trifft zwar ins Tor, im selben Moment aber geht die Fahne des Assistenten hoch. Richtige Entscheidung, denn Hofmann stand beim Pass ein Stück zu weit in der englischen Hälfte.

26. Minute: Unsicherheit bei Neuer, der im Luftduell mit Maguire den Ball nicht festhalten kann. Harry Kane trifft den Nachschuss aber nicht sauber und zielt weit übers Tor. Gutes Spiel bis hierhin, Chancen auf beiden Seiten, leichte Vorteile für die DFB-Elf.

42. Minute: Zwischendurch war der Spielfluss durch ein paar kleinere Unterbrechungen weg, jetzt ist er wieder da. Die deutsche Mannschaft hat mehr Ballbesitz, zu oft aber kommt der letzte und entscheidende Pass nicht an. Diesmal ist es Havertz, der sich zwischen Schießen und Passen nicht richtig entscheiden kann und den Angriff mit einem Stürmerfoul beendet.

45. Minute: Jamal Musiala macht ein starkes Spiel und bekommt nach einem Freistoß den zweiten Ball, bleibt aus zentraler Position aber an Pickford hängen.

45+1. Minute: Die erste von acht (!) Minuten Nachspielzeit gehört Neuer, der gegen Bukayo Saka mit einem tollen Reflex den Treffer verhindert. Der Arsenal-Angreifer zieht aus spitzem Winkel ab, Neuers Faust ist aber oben, bevor der Ball die Torlinie überqueren kann.

Halbzeit, alle verschwinden über die Treppe, die sich aus dem Rasen erhebt: Ein 0:0 der besseren Sorte, wie es so schön heißt, es könnte auch schon 2:2 stehen, wobei die deutsche Mannschaft tendenziell führen müsste. Bundestrainer Flick scheint auch einverstanden mit der Leistung zu sein, wechselt zumindest zum zweiten Durchgang nicht.

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Führungstreffer.

(Foto: Action Images via Reuters)

51. Minute, TOOOOR FÜR DEUTSCHLAND: Zählt! Die DFB-Elf kommt über die rechte Seite, Havertz spielt den kurzen Rückpass zu Joshua Kimmich, der die Lücke in der englischen Defensive erkennt und mit einem direkten Steckpass ausnutzt. Hofmann veredelt dieses Anspiel, indem er sich umdreht und so viel Druck in den Schuss bekommt, dass Pickford zwar noch dran ist, den Einschlag aber nicht mehr verhindern kann.

53. Minute: Manuel! Peter! Neuer! Zum wiederholten Mal zeigt der 36-Jährige, warum sich seit über einem Jahrzehnt so mancher begabte deutsche Torhüter heimlich wünschen dürfte, für ein anderes Land auflaufen zu können. Mason Mount hat zentral vor dem Tor zu viel Platz und wählt den Vollspann, kommt an Neuers Händen aber nicht vorbei. Und ja, Peter ist tatsächlich sein zweiter Vorname.

70. Minute: Jordan! Lee! Pickford! David Raum wirbt auf der linken Außenbahn nachhaltig für sich, diesmal mit einer genauen Flanke. Die findet Müller am zweiten Pfosten, der aus kurzer Distanz an Pickford scheitert. Das 2:0 wäre längst verdient, ein 1:1 würde den Spielanteilen nicht gerecht werden und wäre glücklich für England.

75. Minute: Die Chance zum 2:0 – aber Pickford verhindert das Tor von Timo Werner. Die DFB-Elf kontert, Havertz spielt in den Lauf seines Chelsea-Kollegen, der aber nicht genug Druck hinter seinen Schuss bekommt.

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Ja, diesen Ball hat Manuel Neuer wirklich gehalten.

(Foto: IMAGO/Schüler)

76. Minute: Das lässt Neuer nicht auf sich sitzen, die bislang größte Parade des Abends. Jack Grealish flankt von lins, Kane rutscht am langen Pfosten in den Ball und zieht ab. Vermeintlich der sichere Ausgleich, aber Neuer wirft seinen Körper dazwischen und lenkt den Schuss irgendwie noch am Tor vorbei. Die Ecke danach bringt nichts ein.

85. Minute: England fordert Elfmeter, Deutschland kontert. Neuers weiter Abwurf erreicht Sané, der im 2-gegen-1 aber den Pass auf Timo Werner nicht durchbekommt. Schiedsrichter Del Cerro Grande guckt sich die Szene nochmal ganz genau an und entscheidet: Foul von Schlotterbeck an Kane. Elfmeter.

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Ausgleich.

(Foto: IMAGO/Shutterstock)

88. Minute, TOOOOR FÜR ENGLAND: Kane zielt nach links, Neuer springt in die andere Ecke. Der Ausgleich. Nicht unbedingt verdient, aber die DFB-Elf hat es auch schlicht verpasst, ein zweites Tor nachzulegen.

Den ausführlichen Spielbericht finden Sie hier.

Was war gut?

Sehr vieles, deutlich mehr als gegen Italien. Bundestrainer Hansi Flick begründete die sieben Wechsel in der Aufstellung zwar vor allem mit der langen Saison seiner Profis und der gern zitierten Belastungssteuerung – doch die Neuen machten reichlich Eindruck, ihren Platz in der ersten Elf behalten zu wollen. David Raum hatte defensiv seine linke Seite im Griff und war offensiv so aktiv, dass er immer wieder an guten Aktionen beteiligt war.

İlkay Gündoğan zeigte wieder eines dieser Spiele, die eine Antwort darauf liefern, warum er bei Manchester City für Pep Guardiola unverzichtbar ist. Immer aktiv, überall anspielbar, oft mit guten Ideen. Jonas Hofmann belohnte sich mit dem Tor für eine starke Leistung, traf ja sogar doppelt, wenn auch einmal aus knapper Abseitsposition. Jamal Musiala präsentierte sich dribbelstark und verdiente sich den Applaus bei seiner Auswechslung.

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Antonio Rüdiger zeigte eine starke Leistung.

(Foto: Action Images via Reuters)

Antonio Rüdiger verdeutlichte, warum Real Madrid sich um seine Dienste bemühte, auch Nico Schlotterbeck zeigte gute Ansätze, muss aber in dieses Spitzenniveau noch hineinwachsen. Über Manuel Neuers Extraklasse ist längst alles gesagt, was den 36-Jährigen aber nicht davon abhält, sie auch an diesem Abend noch einmal nachzuweisen. Die DFB-Elf wirkte viel engagierter als in Italien, viel zielstrebiger auf dem Weg zum Tor.

Was war nicht so gut?

Von einer “dummen Aktion” sprach Thomas Müller nach dem Abpfiff im ZDF, ohne dass darin ein Vorwurf an Nico Schlotterbeck erkennbar gewesen wäre. Dennoch ist es kein Zufall, dass es der 22-Jährige war, der Harry Kane in der 85. Minute zu Fall brachte und den Videoassisstenten dazu veranlasste, sich einzumischen. So stark der künftige Dortmunder sich phasenweise präsentiert, hat er zwischendurch doch immer noch diese Aussetzer in seinem Spiel, das war auch in Freiburg der Fall. Das Foul an Kane war unnötig und unglücklich – übel zu nehmen scheint es ihm aber niemand. Schlotterbeck muss daraus lernen. Seine Entwicklung der vergangenen Monate lässt darauf hoffen, dass ihm das gelingt.

Und ohnehin wäre dieser Fehltritt in die Hacken des englischen Mannschaftskapitäns nicht so folgenschwer gewesen, hätte die DFB-Elf ihre spielerische Überlegenheit auf die Anzeigetafel gebracht. Doch immer wieder fehlte es am letzten Pass, wie ihn Kimmich in der 50. Minute zu Jonas Hofmann brachte. Müller hatte gute Chancen, Musiala auch, Werner nach seiner Einwechslung ebenso, es mangelte an der Chancenverwertung. “Wir hatten Chancen, ein zweites oder sogar drittes Tor zu machen, das haben wir leider verpasst”, sagte Gündoğan über die Mannschaft, die aus dem verpassten Sieg die richtigen Schlüsse ziehen will. Denn: “Das ist ein Lernprozess auch für uns.”

Das sagen die Beteiligten

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Der Bundestrainer war mit vielem, was seine Mannschaft zeigte, sehr einverstanden.

(Foto: REUTERS)

Hansi Flick: “Wir haben ein tolles Spiel gezeigt und haben uns leider nicht belohnt. Vielleicht hätten wir noch eins nachlegen können. Man muss einfach sehen, dass wir gegen England gespielt haben, eine Top-Mannschaft. Die Art und Weise, wie wir Fußball gespielt haben, ist genau das, was wir wollen. Mutig zu sein, den Gegner unter Druck setzen, das ist genau das, was wir wollen.”

Jonas Hofmann: “Es ist bitter, den Ausgleich noch zu kassieren. Wir haben diskutiert ob man ihn geben kann oder nicht. Das ist extrem blöd, im Nachgang noch das 1:1 zu bekommen. Ich denke, wir haben es einigermaßen gut gemacht, gute Chancen rausgespielt, waren aktiv, waren aggressiv, gut in den Zweikämpfen. Das Anlaufen war in der ersten Halbzeit teilweise nicht ganz so, wie wir es uns vorgestellt haben. Roundabout würde ich trotzdem sagen, war es ein gutes Spiel.”

İlkay Gündoğan: “Ehrlicherweise überwiegt die Enttäuschung, dass man so spät und durch einen Elfmeter den Ausgleich kassiert. Wir hatten Chancen, ein zweites oder sogar drittes Tor zu machen, das haben wir leider verpasst. Bei einem so knappem Spielstand kann es immer passieren, dass hinten einer durchrutscht. Wir wollen versuchen, es im nächsten Spiel besser zu machen. Wenn man an die Spitze zurück will, darf uns das nicht passieren.”

Thomas Müller: “Wir hatten eine gute Körpersprache, gute Szenen, eine gute Intensität. England ist keine Laufkundschaft, sie haben gute Spieler in ihren Reihen. […] Ich glaube, wir wären der verdiente Sieger gewesen, so fühlt es sich an. Das hat eine bittere Note, ein Dreier hätte uns gut getan. Es geht aber auch um das Gefühl, das man aufbaut. […] Konstanz und Ergebnis gehören dazu, um wirklich eine Spitzenmannschaft zu sein und es nicht nur phasenweise abzurufen.”

Manuel Neuer: “Ich denke, dass wir komplett die Kontrolle gehabt haben. Wir haben das Spiel hier dominiert. Natürlich bekommst du gegen eine Mannschaft wie England, die offensivstarke Spieler hat, auch Chancen. Grundsätzlich waren wir die bessere Mannschaft, haben das Spiel dominiert und kontrolliert. Es ist schade, dass wir das Spiel nicht mit dem 1:0 zu Ende gebracht und uns dafür belohnt haben.”

Gareth Southgate: “Es war ein Spiel auf hohem Niveau, eine große Herausforderung. Wir haben viel Charakter gezeigt, wir hatten auch genug Chancen, um uns dieses Tor zu verdienen. Ich bin zufrieden, Deutschland ist eine athletisch und taktisch starke Mannschaft.”

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