Femizide: Wenn Kinder den Mord mit ansehen

Jeden dritten Tag tötet in Deutschland ein Mann seine Frau oder Ex-Partnerin. Viele der Opfer hinterlassen Kinder. Eines davon ist Tom Buchholz*. Er war elf, als er mitansehen musste, wie seine Mutter auf offener Straße erstochen wurde.

Es war der zweite Geburtstag seines Halbbruders John. Ein Donnerstag im Mai 2012, sie hatten nachmittags ein bisschen gefeiert, dann waren Tom Buchholz, 11, und seine Mutter Constanze, 36, in die Stadt gefahren, um für Tom noch einen Schnellhefter und zwei Schreibhefte für die Schule zu kaufen. Sie hatten gerade das Auto abgestellt und gingen über den Parkplatz, als ein Motorradfahrer, den Helm noch auf dem Kopf, auf sie zukam, unvermittelt ein Messer zog und acht Mal auf Toms Mutter einstach, in ihren Bauch, in die Beine. Tom stand dabei und schrie so laut wie noch nie in seinem Leben. Und wie nie mehr danach.

Globale Schattenpandemie

Constanze Buchholz starb drei Stunden später im Krankenhaus. Der Täter war ihr Ex-Freund, Johns Vater. Sein Motiv: Wut darüber, dass sie sich von ihm getrennt hatte.

An jedem dritten Tag tötet in Deutschland ein Mann seine Frau, Freundin oder Ex-Partnerin, die Täter kommen aus allen Kulturkreisen und Bildungsschichten. Jetzt, in Zeiten von Corona, wird das Thema der partnerschaftlichen Gewalt sogar noch akuter; die Vereinten Nationen sprechen bereits von einer “globalen Schattenpandemie”. Denn den betroffenen Frauen fehlen angesichts von Ausgangsbeschränkungen und nur begrenzt geöffneten sozialen Einrichtungen die Möglichkeiten zu Rückzug oder auch der Flucht, den Kindern die Ansprechpartner*innen in Schulen und Kitas. Soziale Kontrolle, die Frauen und auch Kinder vor Schlägen und Misshandlungen schützt, findet weitaus weniger statt. Das spiegeln auch die deutlich steigenden Zahlen von Anfragen bei den Frauenhäusern.

In mehr als drei Viertel aller Beziehungstaten – Mord und Totschlag – sind Frauen die Opfer. Aber was ist mit ihren Kindern? Jene, die das Schlimmste erlebt haben, wie Tom. Die die Tat mitansehen mussten; die nach der Schule nach Hause kamen und die Leiche ihrer Mutter fanden; die von ihren Verwandten erfuhren, dass der Vater die Mutter getötet hat. Wer kümmert sich um sie?

Schmerz und keine Hilfe

Wenn Tom, heute ein großer, dünner Junge, der viel kindlicher aussieht als 18, von dem Tag erzählt, an dem seine Mutter starb, dann spürt man, wie nah und gleichzeitig abstrakt es für ihn ist. “Sie rief noch: Lauf weg! Hol Hilfe!”, sagt er in einem Falafel-Laden, den er sich für das Gespräch ausgesucht hat, in seiner mitteldeutschen Heimatstadt. “Ich habe geschrien, aber die Leute standen nur da, guckten oder fuhren weg. Niemand hielt ihn auf. Ich habe mich noch nie so allein gefühlt.”

Jahrelang hielt Tom es nicht aus, überhaupt an das Geschehen zu denken; darüber zu reden, ging überhaupt nicht. Er sagte sich, das würde ja doch nichts ändern. Dass er es heute tut, ist eine große Ausnahme. Dem Treffen ist ein langer Kontakt vorausgegangen, der die Voraussetzung dafür war, dass Tom das nötige Vertrauen aufbringen konnte. Tom, mittlerweile in der 12. Klasse und ein durchschnittlicher Schüler, redet sehr ruhig; man spürt, er möchte gefasst wirken, aber es gelingt ihm nicht immer. Wenn sich seine Augen mit Tränen füllen, beißt er in seine Falafel.

Die schweren Folgen

Tom hat erlebt, wie schwierig es ist, nach einer solchen emotionalen Kata­strophe Hilfe zu finden. Die Krisenintervention direkt nach der Tat funktioniert zwar meist gut, oft kommt mit der Polizei der “Weiße Ring”, der sich um Opfer nach privaten Gewalttaten kümmert. Doch nach der ersten Betreuung sind viele Betroffene auf sich gestellt.

Eine der wenigen Expert*innen für derart traumatisierte Kinder ist die Psychologin Eva Alisic, 39. Sie sagt: “Ein solches Erlebnis verändert einen Menschen für immer.” Eva Alisic veröffentlichte 2014 – damals war sie Dozentin am Trauma-Zentrum im niederländischen Utrecht – eine Studie darüber, wie es sich auf Kinder auswirkt, wenn eines ihrer Elternteile gewaltsam getötet wird. Dazu befragte sie 23 Kinder zwischen acht und 24 Jahren. Sie war zunächst beeindruckt von ihrer Belastungsfähigkeit und wie gut sie offenbar im Leben zurechtkamen. Und doch: Fast alle, fand sie heraus, litten zeitweise unter posttraumatischen Belastungsstörungen, Schlafproblemen und Konzentrationsschwächen. Manche zeigten aggressives, andere eher depressives Verhalten. Viele ließen die schrecklichen Bilder in ihrem Kopf nicht los, einige reagierten mit einer verzögerten Entwicklung. “Meist kommt es später zu Problemen in privaten Beziehungen”, sagt Eva Alisic. “Und, das zeigt eine andere Studie: Bei vielen Betroffenen ist das Suizidrisiko noch Jahrzehnte später erhöht.”

Tom begann bald nach der Tat eine Therapie, brach sie aber ab, als er fand, sie überfordere ihn und helfe nicht. Danach verfiel er ins Schweigen. Zu der Erschütterung über den Tod der Mutter kam für ihn und seine beiden Geschwister, dass sie ihr Umfeld verloren. Die Mutter hatte in den letzten Monaten vor der Tat mit den drei Kindern allein gelebt; Tom und seine zwei Jahre jüngere Schwester Clara zogen zu ihrem Vater, der 20 Kilometer entfernt lebte – die Eltern hatten sich 2005 getrennt. John, der zweijährige Sohn aus der letzten Beziehung, blieb bei Constanzes Eltern. “Ohne meinen Vater, meine Oma und meine Tante gäbe es mich wahrscheinlich nicht mehr”, sagt Tom.

Toms Vater Ralf Buchholz, IT-Berater, ließ sich nach der Tat zunächst für zwei Wochen beurlauben, alle drei machten eine Vater-Kind-Kur für Trauernde im Allgäu. Ralf Buchholz suchte danach eine größere Wohnung und eine neue Schule für die Kinder. Als Tom sichtbar psychische Probleme bekam, nichts aß, immer dünner wurde, riet das Jugendamt ihm, ihn für zwei Jahre in einer Klinik behandeln zu lassen. Der Vater entschied, dass es für seinen Sohn besser wäre, in der Familie zu bleiben.

Der Teufel, der sein Leben zerstörte

Er brachte Tom wieder auf die Beine, kam dabei aber selbst an den Rand seiner Kräfte. Der täglichen Belastung, die es bedeutete, diese Situation mit all ihren Facetten zu meistern, hielt er psychisch auf Dauer nicht stand. Er ist chronisch erschöpft, seit einem halben Jahr nach der Tat krankgeschrieben. Er sagt: “Ich habe mir oft versucht vorzustellen, wie es für mich gewesen wäre, hätte ich dabei zusehen müssen, wie jemand mit einem Messer auf meine Mutter einsticht. Ich bin mir nicht sicher, ob ich die Kraft gehabt hätte, die Tom bisher aufgebracht hat. Ich bin sehr stolz auf ihn.”

Tom sagt: “Wahrscheinlich hat es mich gerettet, dass mein Vater sein altes Leben geopfert und alles für uns getan hat.” Den Täter – er bekam zwölf Jahre wegen Totschlags – nennt Tom “den Teufel”, der sein Leben zerstört hat.

Tom fährt Rennrad, jeden Tag nach der Schule 80 Kilometer, immer dieselbe Strecke, nach der Hälfte macht er immer genau 30 Minuten Pause in einem Café. Auch das, glaubt er, habe ihm geholfen, durchzuhalten und weiterzumachen.

Kontrolle zurückgewinnen, das sei ganz wichtig für diese Kinder, sagt auch Eva Alisic. “Wenn sie bei einer solchen Tat anwesend waren, haben sie den größtmöglichen Kontrollverlust erlebt. Sie müssen dann wieder lernen, dass sie durchaus etwas entscheiden und ihr Leben mitlenken können. Das kann mit der Planung der Beerdigung beginnen, wo sie wohnen möchten und ob sie noch Kontakt zum Täter wollen, wenn es der leibliche Vater war.”

Hilfe danach

Was nach einer familiären Katastrophe für alle betroffenen Kinder hilfreich wäre, zeigt eine Institution in München, die AETAS Kinderstiftung, die nach einem deutschlandweit einmaligen Konzept arbeitet (www.aetas- kinderstiftung.de). Psychologen, Pädagoginnen und Sozialarbeiter beginnen, sofern möglich und gewünscht, bereits am Tag der Tat mit einer 24-Stunden- Betreuung in den Familien, “denn wenn alle unter Schock stehen, braucht es jemanden, der weiß, was zu tun ist”, sagt Tita Kern, Psychotraumatologin und fachliche Leiterin der Stiftung, die das Konzept 2007 selbst entwickelt hat. “Wir kommen zu den Betroffenen nach Hause, denn viele schaffen es nach so einem Erlebnis nicht mal vor die Tür. Wir gucken dann: Wird das Kind krank oder stabilisiert es sich? Gibt es vor Ort Bezugspersonen, an denen sich die verzweifelte Seele orientieren kann?”

Tita Kern arbeitete früher in der Krisenintervention im Rettungsdienst KIT München. Dabei stellte sie fest, dass vor allem die Jüngsten einer Familie nach der ersten Hilfe eine langfristige Betreuung brauchen. Das Programm der AETAS Kinderstiftung sieht vor, dass die Helfer*innen zehn Tage lang täglich in der Familie sind, dann wöchentlich, später monatlich – über ein ganzes Jahr hinweg. Auch danach steht das Team weiterhin zur Verfügung, wenn persönliche Krisen auftauchen. “Das kann zum Todestag sein oder am Geburtstag, wenn das Kind den Vater im Gefängnis besucht oder immer dann, wenn es Orientierung braucht, wie in der Pubertät, oder wenn ein Mädchen schwanger wird”, sagt Tita Kern.

Fehlende Unterstützung

Tom hatte diese Hilfe nicht, denn in den meisten Bundesländern fehlt das Geld für eine solche Einrichtung. Er blieb, trotz der Bemühungen seines Vaters, mit dem Erlebten allein.

Mit seiner Schwester Clara spricht er nie über das Geschehene. “Früher haben wir manchmal zusammengesessen und geweint”, sagt er, aber das sei vorbei. “Clara ist viel mit ihren Freundinnen unterwegs und hat einen festen Freund. Sie macht das Erlebnis mit sich selbst aus.” Auf dem Nachttisch beider Kinder steht bis heute ein Foto der Mutter.

Noch immer macht Tom sich Vorwürfe, wenn er an den Tattag denkt – dass er seine Mutter nicht genug verteidigt habe: “Ich stand damals vor meiner Mutter. Ich hätte nicht zur Seite gehen sollen! Vielleicht wäre meine Mutter dann gerettet worden und könnte heute für meine Geschwister da sein. Im Vergleich war mein Leben doch viel weniger wert.” Manchmal, sagt er, tue es ihm schon weh, wenn er nur eine Mutter mit ihrem Kind sieht. “Wenn der wichtigste Mensch weg ist, fehlt einem der Lebenssinn. Einen neuen suche ich immer noch.”

*Alle Namen der Betroffenen geändert

Hilfe für betroffene Frauen

Die Initiative #sicherheim () setzt gemeinsam mit Schirmherrin Natalia Wörner und weiteren prominenten Unterstützer*innen ein Zeichen im Kampf gegen häusliche Gewalt an Frauen. Getragen wird sie von der UFA, der Agentur Die Botschaft und der Bertelsmann Content Alliance, zu der auch der Verlag Gruner + Jahr gehört, in dem die BRIGITTE erscheint. Bitte helfen Sie den Opfern. Die Stiftung stern e.V. leitet Ihre Spende an Frauenschutz- und Beratungs- Verbände in Deutschland weiter. 

Stiftung stern e.V., IBAN DE90 2007 0000 0469 9500 01, Stichwort: sicherheim

Andrea Hacke hatte nach dem Treffen mit Tom den Eindruck, es läge ein Stein auf ihrem Körper. Beim Zuhören übertrugen sich Trauer, Wut und das Gefühl immenser Ungerechtigkeit.

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BRIGITTE 15/2020