Generation Z meldet sich zum Dienst

Liegt das am Ukraine-Krieg? Besuch in einem Rekrutierungszentrum.

Daniel Steiner, Oberst im Generalstab, öffnet die Tür zu seinem Büro im Rekrutierungszentrum Mels, Kanton St. Gallen. Ein junger Mann mit Blättern unter dem Arm huscht lächelnd hinaus. Steiner hat seinen Rekurs gutgeheissen. Der junge Mann darf sich nun doch der Eignungsprüfung als Grenadier stellen.

Oberst Steiner leitet das Rekrutierungszentrum seit diesem Spätsommer. Zuvor war er Schulkommandant in Chur. In den vergangenen Jahren trifft er wieder vermehrt auf motivierte und einsatzfreudige junge Männer. Gerade bei den klassischen Kampftruppen sei die Nachfrage gross. Zu viele junge Männer wollen Infanterist, Grenadier, Aufklärer werden. Oberst Steiner kann die Besten auswählen.

Steiner sagt, es habe schon schwierigere Tage als Berufsoffizier gegeben.

Noch 2008 diskutierte das Parlament, wie man das Schweizer Massenheer verkleinern könnte. Im Bundeshaus stützt heute allerdings wieder eine breite bürgerliche Phalanx die Armee. Sie erhält neue Kampfjets, mehr Geld und auch vermehrt gute Presse. Auch die Tauglichkeitsrate in der Schweiz ist in den vergangenen Jahren tendenziell gestiegen.

Ist es der Krieg in der Ukraine? Oder weshalb haben junge Schweizer Lust auf Überlebensmärsche, wunde Füsse und fixe Bettzeiten?

Im Rekrutierungszentrum Mels treten an diesem Tag im September 118 junge Männer aus dem Kanton Schwyz an. Sie erhalten alle eine Nummer.

Ein Ort, der schon aus der Zeit gefallen schien – jetzt scheint er wieder zeitgeistiger zu werden: Rekrutierungszentrum der Armee in Mels, Kanton St. Gallen.

Ein Ort, der schon aus der Zeit gefallen schien – jetzt scheint er wieder zeitgeistiger zu werden: Rekrutierungszentrum der Armee in Mels, Kanton St. Gallen.

Wer antritt, erhält eine Nummer. In der Rekrutierung kann er sich nachher einen Namen machen.

Wer antritt, erhält eine Nummer. In der Rekrutierung kann er sich nachher einen Namen machen.

Nr. 514, Dominik Popovic

Einer von ihnen ist Dominik Popovic, 20 Jahre alt, gelernter Automobilfachmann und in Einsiedeln aufgewachsen. Popovic ist mit Ungewissheit nach Mels gereist. Er wusste, dass ein Sporttest, ein Sehtest, eine ärztliche Untersuchung und der «Psychotest» auf ihn warten. Er sagt: «Ich habe mich schon gefragt, ob sie mich nehmen oder ob ich in den Zivilschutz muss.»

Popovic «würd ebe scho gärn is Militär».

Schon als kleiner Junge hat Popovic bei den Pfadfindern mitgemacht. Er sagt: «Bei uns auf dem Dorf wissen alle, wie es ist, seinen Schlafsack zu nehmen und draussen in der Wiese zu schlafen.» Popovic hat in der Pfadi lange Wanderungen unternommen. Vom Fahnenaufzug am Morgen bis zum Abzug am Abend, ja sogar in der Nacht waren seine Gspänli von der Pfadi immer bei ihm. Er sagt: «So einen Zusammenhalt hast du im FC nicht. Die spielen zusammen Fussball, aber dann gehen sie alle wieder nach Hause.» Popovic glaubt, die Pfadi schweisse zusammen. Er hofft, die Armee auch.

Dominik Popovic.

Dominik Popovic.

Früher hat sich Popovic Kriegsfilme angeschaut. Manchmal habe er sich dann gedacht, in der Armee könnte er sich ein bisschen wie die Schauspieler in diesen Filmen fühlen. Wie Soldaten, die mit dem Sturmgewehr im Anschlag über das Schlachtfeld stürmen, während ringsum alles in die Luft fliegt.

Dominik Popovic findet Kriegsfilme immer noch «interessant». Aber in letzter Zeit interessiert er sich vermehrt für eine andere Funktion: Er möchte Rettungssoldat werden.

Ups, die Pannenshow

Filme prägen das Bild von Soldaten in einer Gesellschaft. Noch vor wenigen Jahren glich die Medienpräsenz der Armee einer Pannenshow.

Als Bundesrat Ueli Maurer davon sprach, die beste Armee der Welt zu formen, bedankte sich «Giacobbo/Müller» für die Steilvorlage. Auf Youtube gab es Videos von Soldaten, die auf ihren Rollkoffern Rennen durch die Kaserne veranstalteten, die einen Duro in einer Böschung aufs Dach legten.

Oder das Video eines Truppenbesuchs von Ueli Maurer, das der «Tschugger»-Regisseur David Constantin nachbearbeitete. Constantin rief: «Ueli akbar», und die ganze Schweiz lachte.

In den vergangenen Jahren hat sich das Militär auch sprachlich seiner Zielgruppe angenähert: jungen Rekruten.

In den vergangenen Jahren hat sich das Militär auch sprachlich seiner Zielgruppe angenähert: jungen Rekruten.

Die Armee als Influencer

Der Wind hat gedreht. Heute produziert die Armee selbst professionelle Videos. Einige finden sich auf der Website «miljobs.ch». Zum Beispiel unter dem Menüpunkt «Team Kämpfer».

In diesem Video schiessen Soldaten aus ihren Sturmgewehren und Panzerfäusten. Überall explodiert etwas. Dann schwimmen sie mit Vollpack durch einen Bach, streifen in Kleintrupps mit Tarnfarbe im Gesicht durch Wälder und hieven einander über ein Betonhindernis. Am Ende springt jemand aus einem Flugzeug, als wäre es das Böckli in der Badi.

Die Kameraperspektive in diesem Video wechselt ständig. Mal fliegt eine Drohne über eine Panzerkolonne. Dann gibt es leicht verwackelte Nahaufnahmen. Betrachter haben das Gefühl, selbst eine Go-Pro auf dem Helm zu tragen und Teil des Gefechts zu sein. Fast wie im Videospiel.

Nr. 426, Andreas Mathys

Diese Botschaft kommt bei Andreas Mathys aus Arth an. Er hat die Banklehre abgeschlossen, ist zwanzig Jahre alt und sagt, dass er sich von der Armee vor allem eines erhoffe: «Ich möchte raus aus meiner Komfortzone.»

Viele seiner Freunde haben sich für den Zivildienst entschieden. Andere wollten zwar Militärdienst leisten, allerdings in einer möglichst angenehmen Funktion. Mathys sucht das Gegenteil. Früher hat er als Nachwuchsfussballer im FC Luzern sechs Mal die Woche trainiert. Er sagt, dass er an seine Fitness von damals anknüpfen möchte.

Am Orientierungstag hat er einen Fragebogen ausgefüllt. Das Ergebnis: Zu seinen Interessen passen die Kampftruppen.

Mathys findet, ob jemand Militärdienst leisten wolle oder nicht, sei eine individuelle Entscheidung, und er hat den Eindruck, dass die Armee auf Interessen und Fähigkeiten der Stellungspflichtigen eingeht. Patriotismus spielt für ihn eine untergeordnete Rolle. Mathys sagt: «Ich möchte in der RS an meine Limiten gehen, voll pushen und wieder fit werden.»

Beissen.

Beissen.

Balancieren.

Balancieren.

Ausruhen.

Ausruhen.

Schwitzen.

Schwitzen.

Der Sporttest fordert die angehenden Rekruten.

Der Kampfplatz verspricht heute nicht mehr bloss Dreck im Gesicht und Pfeifen in den Ohren. Heute lockt er mit Adrenalin, Action, mit einem Ausgleich zum Alltag im Büro. Der Kampfplatz wird zum Adventure-Park der Dienstleistungsgesellschaft.

Nr. 107, Ares Scheiweiler

Auch Ares Scheiweiler aus Wollerau möchte zu den Kampftruppen. Er hat die Lehre zum Physiklaboranten abgeschlossen.

Zur Armee möchte Scheiweiler nicht aus Patriotismus, sondern für sich selbst. Der Krieg in der Ukraine spielt dabei keine Rolle. Der Krieg sei medial sehr präsent, aber Kriege gebe es auch anderswo, und darüber lese man viel weniger. Auch Scheiweiler begründet seinen Entschluss, Militärdienst zu leisten, nicht politisch, sondern individuell. Er will lieber in der Armee aktiv etwas tun, als im Zivilschutz herumzusitzen. Scheiweiler sagt: «Die 18 Wochen in der RS sind quasi bezahlte Sportferien.»

Von seinen Freunden erhielt Scheiweiler vor der Rekrutierung Tipps. Dadurch wusste er, wie er die Übungen im Sporttest in Angriff nehmen muss. Die Tipps haben genützt, er hat das Sportabzeichen mit achtzig Punkten erhalten. Aber Scheiweiler sagt: «Neunzig Punkte wären besser.» Seine Wunschfunktion ist Späher. Für diese Funktion gibt es kaum noch freie Plätze.

Ares Schweiweiler.

Ares Schweiweiler.

In seiner Freizeit betreibt Scheiweiler Jiu-Jitsu, eine japanische Kampfsportart. Er trägt den braunen Gürtel. Was ihn daran fasziniert? «Disziplin und Teamgeist.» Beides erhofft er sich auch von der Armee. Die Offiziere machen auf ihn einen disziplinierten Eindruck, und diese Eigenschaft schätzt er auch im Beruf. Scheiweiler sagt: «Wenn man mit Menschen zusammenarbeiten muss, die nicht diszipliniert und organisiert sind, macht das keinen Spass.»

Die Rekrutierung erlebt er bis anhin als recht angenehm. Es müssten ja alle hier sein, sagt Scheiweiler. Warum also nicht durchbeissen und das Beste aus der Situation machen? So wie er denken hier viele.

Diese Generation ist nicht von Vorbildern geprägt, die anregen, zu revoltieren und sich querzustellen. Diese Generation will sich individuell entwickeln, sie sucht ein Learning. Fast wie in einem Life-Coaching auf Youtube. Einfach im Tarnanzug und in echt.

Run auf die RS-Plätze

Unter den Stellungspflichtigen ist die Wunschfunktion in der Armee in diesen Tagen ein zentrales Thema. Viele wissen schon vor dem Sporttest, wie viele Punkte sie für ihre Wunschfunktion brauchen. Bereits am Orientierungstag haben sie Fragebögen ausgefüllt. Diese geben ihnen an, ob sie zu den Kämpfern, Helfern, Unterstützern oder Technikern passen.

In diesen vier Teams hat die Armee sämtliche Truppengattungen zusammengefasst.

Auch im Rekrutierungszentrum Mels sind diese Teams auf Plakaten präsent. Vor einem der Schlafräume der Stellungspflichtigen hängt ein Plakat des Teams Kämpfer. Es listet auf, welche Funktionen es in den Kampftruppen gibt, wie viele Punkte und vor allem auch wie viele Leute noch gesucht werden. Für den nächsten RS-Termin im Januar 2023 gibt es fast keine freien Plätze mehr als Infanterist oder Aufklärer.

Dieser Trend ist laut der Medienstelle der Armee schweizweit zu beobachten. Bei den Kampf- und Rettungstruppen findet die Armee problemlos Personal. Schwieriger wird es in der Logistik.

Oberst Steiner bestätigt diesen Trend. Er erinnert sich, wie er als Kommandant einer Rekrutenschule von Infanteristen 25 Kaderstellen zu besetzen hatte. Beworben hatten sich aber 50 Leute. In den vergangenen Jahren hatte er mehr Beschwerden von Leuten, die nicht weitermachen dürfen, als solche, die eine entsprechende Empfehlung anfechten möchten.

Oberst Steiner sagt, früher sei das umgekehrt gewesen.

Steiner glaubt nicht, dass Abenteuerlust junge Männer wieder vermehrt in die Armee zieht. Er glaubt auch nicht, dass es Patriotismus ist, sondern viel eher Verbundenheit in privaten Netzwerken. Das Bild der Armee werde etwa von Freunden geprägt, die positiv von ihrer Zeit in der RS erzählen.

Bilder an der Bürowand des Obersten: Fallschirmaufklärer des Teams Kämpfer im Einsatz.

Bilder an der Bürowand des Obersten: Fallschirmaufklärer des Teams Kämpfer im Einsatz.

Job statt Pflicht, Challenge statt Schikane

Lange Zeit erweckten solche Erzählungen den Eindruck, in der RS gehe es darum, Menschen zu brechen. Oberst Steiner sagt, dass sich in den vergangenen Jahren in dieser Hinsicht viel getan habe. Früher habe es Klischees von schlechtem Essen, von einer astronomisch hohen Zahl Liegestützen und Anschreien bereits nach dreissig Sekunden gegeben.

Im Rekrutierungszentrum Mels kocht eine externe Firma. Tagesmenü: Fleischvogel mit Rotkraut. In der Kantine hängt Herbstdekoration, und für die Stellungspflichtigen stehen Billardtische und Töggelikästen zur Verfügung.

Auch sprachlich hat die Armee einen Wandel vollzogen. Die Armee macht dich zum Mann, hiess es früher. Heute will sie mit der Aussicht auf eine Challenge und Selbstverwirklichung punkten. Sie spricht heute eher von Chancen und Herausforderungen statt von Bürger- und Dienstpflicht. Von Teams statt Truppengattungen.

Daniel Steiner, Oberst im Generalstab, leitet das Rekrutierungszentrum in Mels.

Daniel Steiner, Oberst im Generalstab, leitet das Rekrutierungszentrum in Mels.

Oberst Steiner sagt, ob das neue Ansehen der Armee bei den Stellungspflichtigen mit dem Ukraine-Krieg zusammenhänge, könne er nicht empirisch beurteilen. Er hat den Eindruck, dass dieser Trend schon länger anhält und die meisten Stellungspflichtigen motiviert sind, Dienst zu leisten. Das hänge auch damit zusammen, dass man mit der Abschaffung der Gewissensprüfung für den Zivildienst heute praktisch eine freiwillige Milizarmee habe. Im Sinne von: Wer kommt, ist motivierter.

Oberst Steiner sagt: «Es ist schön, dass ein Gros der Bevölkerung anerkennt, was die Armee leistet. Es gab andere Zeiten, da fand ein Grossteil der Bevölkerung, was wir machen, sei nicht sehr intelligent.» Doch Steiner glaubt, dass das Bedürfnis nach Sicherheit wieder zurückgehen werde, sobald sich die weltpolitische Lage beruhige.

Und doch: Die Zukunftssorgen der Armee

Die Armee drücken trotz allem Interesse der Generation Z Zukunftssorgen. Gegen Ende des Jahrzehnts könnte der Bestand an aktiven Soldatinnen und Soldaten eine kritische Untergrenze erreichen. Zurzeit sorgt eine Übergangsregelung dafür, dass die Armee nach ihrer letzten Reform über genügend Personal verfügt.

2028 und 2029 werden aber jeweils gleich zwei Jahrgänge entlassen, weil die Dienstzeit von zwölf auf zehn Jahre verkürzt wird. Dazu schleichen noch immer zu viele Militärangehörige in den Zivildienst ab. Deshalb schlug die Armee diese Woche Alarm.

Auch wenn die Armee nach dem Willen von Bundesrat und Parlament mehr Geld erhält: Das militärische Kernholz besteht auch in Zukunft aus den Soldatinnen und Soldaten. (geo.)

Die Anziehungskraft von Tarnfarben: Das Militär ist wieder attraktiver.

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