Gewichtmachen in MMA: Kampf mit der Waage – Wie viele Kilos in wenigen Stunden purzeln

Im Kampfsport treten Athleten in verschiedenen Gewichtsklassen gegeneinander an. Ihrem Normalgewicht entspricht das jedoch selten. Für einen Kampf schrumpfen vor allem MMA-Fighter ihr Gewicht in wenigen Wochen drastisch. Ein gesundheitlich bedenklicher Prozess, der alternativlos scheint.

Schläge, Tritte und Würgegriffe: Mixed Martial Arts (MMA) ist ein Kampfsport mit Vollkontakt, der im Profibereich in der Regel in einem Käfig ausgeübt wird. Die Vorstellung, sich in diesem Szenario sportlich zu messen, kann nach außen abschreckend wirken, für die Kämpfer selbst ist das Duell aber das ultimative Ziel einer langen Vorbereitung. Für die Athleten gibt es aber eine Art Kampf vor dem Kampf – und den empfinden viele deutlich härter als die Auseinandersetzung im Käfig selbst. Denn das notwendige Kampfgewicht zu erreichen, ist eine Tortur.

MMA als Mischung aus Boxen, Ringen, Jiu-Jitsu und anderen Kampfsportarten findet in unterschiedlichen Gewichtsklassen statt. Um ein bestimmtes Zielgewicht zu erreichen, nehmen viele Sportler ab. Dieser Prozess nennt sich “Gewichtmachen”, auch “Weight Cut”. Dabei wird dem Körper über einen kurzen Zeitraum eine enorme Menge Wasser entzogen. Die dafür angewandten Methoden wirken radikal, basieren jedoch auf medizinischen Erkenntnissen sowie Erfahrungswerten verschiedener Kampfsportschulen. Doch jeder Körper geht anders mit dem Wasserverlust um. Ungefährlich ist der Prozess nicht – und vor allem käme der Sport eigentlich auch ohne das Gewichtmachen aus.

Die Idee hinter dem Weight Cut: einen Gewichtsvorteil gegenüber seinem Gegner zu haben. Praktiziert wird das auch im Ringen oder Boxen. Untersuchungen an der Edith Cowan University im australischen Perth haben jedoch ergeben, dass MMA-Kämpfer deutlich mehr Gewicht verlieren als Sportler in anderen Kampfsportarten. Das gilt besonders in den 24 Stunden vor dem Wiegen durch intensive Schwitzmethoden. Der Untersuchung zufolge ist selbst die größte Gewichtsreduzierung der Athleten in anderen Sportarten nicht so groß wie die Menge, die bei MMA im Durchschnitt reduziert wird.

“Es hat Auswirkungen auf alle Bereiche”, erklärt Yigit Muk, Cheftrainer und Geschäftsführer des Spitfire Gyms in Berlin, eine der führenden Kampfsportschulen Deutschlands, im Gespräch mit ntv.de. Muk betreut den Weight Cut seiner Athleten quasi im Wochentakt. “Vor allem im Ringen merkt man oftmals, wenn der Gegner zwei bis drei Kilo mehr wiegt als man selbst. Da macht es schon einen enormen Unterschied.” Der Massevorteil sei am Ende nicht allein entscheidend. “Es gibt Tricks und Methoden, wie man das Gewichtmachen optimal gestalten kann.” Muk spricht von Kohlehydratspeicher und Elektrolyt-Haushalt, die bis auf das Optimum wieder aufgefüllt werden müssen, sonst könne sich der Kämpfer in seinem Fight träge fühlen oder es ihm an Ausdauer mangeln.

In der Vorbereitung auf einen Kampf stellen MMA-Kämpfer bereits Wochen zuvor ihre Ernährung um. Das gleicht einer Keto-Diät, es wird nur die Kohlenhydratmenge zu sich genommen, die man für die Trainingseinheiten braucht. Dazu ernähren sich die Sportler besonders eiweißreich, um keine Muskelmasse zu verlieren. Das bedeutet Wochen des Verzichts, Süßigkeiten oder Alkohol sind in dieser Zeit natürlich tabu. In der entscheidenden Phase, eine Woche vor dem Wettkampf, setzen viele Käfigkämpfer auf “Water Loading” – eine extreme Wasserzufuhr für den Körper.

Über mehrere Tage trinken die Sportler bis zu 10 Liter Wasser täglich. Dazu wird sehr salzhaltig gegessen, teilweise wird sogar das Wasser leicht mit Salz versetzt. Die Folge: Der Hormonhaushalt der Nieren verändert sich und die Urinausscheidung nimmt zu. Anschließend folgt ein Tag mit vergleichsweise sehr geringer Wasserzufuhr (1-2 Liter), der Körper scheidet aber weiterhin Wasser aus, was zu einer natürlichen Gewichtsreduktion führt.

Stundenlanges Schwitzen bei mehr als 70 Grad

Unmittelbar darauf folgt bei vielen Kämpfern das “Abkochen”, ein extremer Gewichtsverlust über Schwitzprozesse. Hier arbeiten Kampfsportler mit ihrem Team zusammen. Erst wird der Körper mit kurzen, dafür aber intensiven Trainingseinheiten “hochgefahren”, dabei tragen sie oft spezielle, nicht atmungsaktive Schwitzanzüge, die die Transpiration ankurbeln. Nach der kurzen Einheit geht es in eine mobile Infrarot- oder Dampfsauna. Teilweise wird auch in Saunadecken geschwitzt oder all das kombiniert. In beiden Fällen wird der Kopf möglichst aus der Hitze genommen und regelmäßig mit Eis gekühlt. So halten es die Sportler in der extremen Hitze von bis zu 70 Grad teilweise bis zu einer Stunde aus.

Schwitzen in der Dampfsauna

(Foto: mba)

Eine weitere Methode, um Gewicht zu verlieren, sind heiße Salzbäder. Auf diese Weise wird dem Körper ebenfalls subkutanes, also direkt unter der Haut befindliches Wasser entzogen. Um den Prozess zu beschleunigen, werden die Sportler zuvor mit porenöffnenden Cremes eingerieben oder mit Alkohol. In dieser Phase isst und trinkt der Sportler nichts mehr.

Den ganzen Weg des Gewichtmachens kann man im Video zum Selbstversuch nachverfolgen.

Diese entwässernde und kräfteraubende Prozedur sorgt dann oft für erschreckende Bilder, die die Kämpfer am Tag der Waage abgeben. Ausgelaugt und hager, mit eingefallenem Gesicht stehen junge Männer und Frauen vor der Wettkampfkommission, haben teilweise in wenigen Wochen oder Tagen mehr als 10 Kilogramm abgenommen. In seltenen Fällen können sie sich kaum auf den Beinen halten. Das sind Extrembeispiele, aber sie kommen immer wieder vor. Der junge britische Kämpfer Paddy Pimblett bringt rund 85 Kilogramm in seinen Trainingsalltag auf die Waage, im Kampf tritt der UFC-Kämpfer allerdings im Leichtgewicht an. Also in der Klasse bis 70,3 Kilogramm.

Paddy Pimblett 24 Stunden vor dem Kampf (l.) und im Alltag (r.).

Paddy Pimblett 24 Stunden vor dem Kampf (l.) und im Alltag (r.).

(Foto: mba/reuters)

Auch MMA-Superstar Conor McGregor kämpfte über Jahre im Leichtgewicht, seinen ersten UFC-Titel gewann er aber im Federgewicht, schrumpfte sich auf 65,8 Kilogramm. Für die Käfigduelle in dieser Gewichtsklasse soll der Ire regelmäßig innerhalb von rund einer Woche mehr als 11 Kilogramm abgenommen haben.

Conor McGregor von links nach rechts: Feder-, Leicht- und Weltergewicht.

Conor McGregor von links nach rechts: Feder-, Leicht- und Weltergewicht.

(Foto: mba/reuters)

“Solche harten Weight Cuts sind eine Ausnahme”, sagt Muk. Für jeden sei das ohnehin nicht möglich. “Das Maximalgewicht, die Körpergröße und das Verhältnis zur Masse, sowie die Ernährung sind da entscheidend.” Zwischen 5 und 12 Prozent des eigenen Körpergewichts in der Wettkampfwoche zu “cutten” sei aber realistisch. Viele der Profi-Kämpfer hätten bereits mehrfach diese Prozedur durchlaufen und somit ein Gefühl dafür, was möglich ist.

Selbst das Gehirn verliert Volumen

Um die Gefahr einer zu heftigen Dehydration weiß auch Muk. “Der Weight Cut zehrt am ganzen Körper”, sagt er. “Wenn man viel Wasser verliert, steigt die Chance, sich zu verletzen. Das Gehirn ist auch wie ein Schwamm und beim Gewichtmachen verliert es an Volumen. Bei Treffern zum Kopf ist man dann anfälliger.” In der Woche des Weight Cuts sei ein Kämpfer eigentlich so weit von seinem optimalen Leistungsniveau entfernt wie sonst nie, weil der Prozess intensiv an den Nerven zehre und die körperliche Belastung enorm sei, so Muk.

Bei Medizinern lässt der Prozess ohnehin alle Warnleuchten anspringen. “Ich würde mir wünschen, dass es überall abgeschafft wird”, sagt Dr. Panagiotis Karachalios ntv.de. Er betreut nicht nur die Kämpfer im Düsseldorfer UFD Gym, sondern arbeitet auch als Ringarzt beim tschechischen Veranstalter OKTAGON. Die Risiken der Dehydration dürfe man nicht ignorieren. Kreislaufprobleme, Ohnmachtsanfälle oder Nierenfunktionsstörungen können auftreten. “Das ist schon ein enormer Prozess, den der Körper da mitmacht. Selbst für trainierte Kämpfer ist es hart.”

Die Waage zählt bei Veranstaltern wie der UFC zum festen Rahmenprogramm, um eine Veranstaltung zu bewerben.

Die Waage zählt bei Veranstaltern wie der UFC zum festen Rahmenprogramm, um eine Veranstaltung zu bewerben.

(Foto: Facebook/UFC)

Entscheidend sei beim Weight Cut, welche Methoden über welchen Zeitraum durchgeführt werden. Oft würden Kämpfer aus der Not heraus auch “chemisch nachhelfen”, also entwässernde Medikamente nehmen (Diuretika), bei denen jedoch lebenswichtige Nährstoffe verloren gehen. “Bei dem erhöhten Wasserverlust wird viel Kalium ausgespült und sie rutschen in eine Zone rein, wo es lebensgefährlich wird. Es folgen dann oft Herzrhythmusstörungen. Der Ruhepuls, der normal zwischen 60 und 80 liegt, schnellt dann auf 150 bis 180 hoch.”

Die Bezahlstruktur im MMA-Sport trägt noch dazu bei, dass Kämpfer gesundheitliche Risiken ignorieren. MMA-Kämpfer sind keine Vertragsprofis in Vereinen, die monatlich bezahlt werden. Teilweise treten sie sehr kurzfristig zu Kämpfen an. Gage gibt es für den Antritt, gegebenenfalls noch eine Siegprämie – sofern die Waage stimmt. Schafft der Kämpfer sein Gewicht nicht, droht im schlimmsten Fall die Absage des Kampfes oder ein Teil der eigenen Gage geht an den Gegner über. So entsteht ein großer Druck für Athleten.

“Alle Top-Kämpfer haben damit Probleme”

Entsprechend behutsam geht das Team während dem “Cutten” mit dem Kämpfer um. Das gleiche gilt für den “Reload”, der nach der Waage erfolgt. Der Kämpfer will schließlich zurück auf sein Normalgewicht. Auch hier gehen viele Kampfsport-Gyms sehr kontrolliert vor. Eine zu schnelle Wasser- und Nahrungsaufnahme würde zu zu Übelkeit und Erbrechen führen. Deshalb wird die Zufuhr von Nährstoffen und Elektrolyten bei großen Gyms nach einem festgelegten Zeitplan verabreicht, selbst wenn das vielleicht nicht dem Durst- und Hungergefühl des Kämpfers entspricht.

So richtig begeistert klingt eigentlich kein MMA-Fighter, wenn er über diesen Kampf vor dem Kampf spricht. “Beim Weight Cut musst du auf alles aufpassen: auf deinen Schlaf, dein Essen, dein Training”, sagt Farbod Iran Nezhad, ein Bantamgewicht-Kämpfer aus dem Spitfire Gym. “Eigentlich mag ich das nicht. Keiner mag das. Alle Top-Kämpfer haben damit Probleme, weil sie viel mit dem Gewicht runtergehen”, so der 33-Jährige.

Ähnlich sieht es auch Khurshed Kakhorov, der mittlerweile in den USA trainiert und ebenfalls in der Gewichtsklasse bis 61,2 Kilogramm antritt. “Diese Wochen sind hart für mich, weil ich Brot und Obst liebe. Wenn ich das weglasse, dann drehe ich durch”. Das Schwitzen sei im Vergleich dazu “nur” eine Nacht und mittlerweile “habe ich für mich den Prozess perfektioniert. Wenn ich Fehler mache und mich nicht vernünftig vorbereite, dann wird auch die letzte Nacht hart, weil mein Körper das Wasser sozusagen nicht loslässt.” Eigentlich komme der Sport auch ohne das Gewichtmachen aus, aber dann müssten sich alle darauf verständigen, dass es niemand mehr macht.

Die Veranstalter regulieren den Prozess nur bedingt. Extrem große Gewichtsverluste lassen sich beispielsweise vermeiden, sobald Wiegen und Kampf auf den gleichen Tag fallen. Kämpfer könnten in so kurzer Zeit auch nur einige Kilos wieder aufladen. So wird es bei kleineren Organisationen und im Amateurbereich gehandhabt. Das kollidiert bei großen Promotions wie der UFC aber mit der Vermarktung. Das zeremonielle Wiegen ist hier oft Teil der Show, um die Veranstaltung zu bewerben.

Die PFL stellt sogar die mobilen Saunen für die Kämpfer zur Verfügung, in dem Wissen, dass Gewicht gemacht wird. Erst nach der offiziellen Waage gibt es einen Medizincheck. “Die Organisationen haben unterschiedliche Ansätze”, sagt PFL-CEO Peter Murray dazu. “Wir konzentrieren uns darauf, dass sichergestellt ist, dass die Kämpfer verantwortungsvoll Gewicht machen.”

Hoffnungsschimmer aus Asien?

Einen alternativen Ansatz hat die asiatische Promotion ONE Championship, die von sich sagt, dass dort kein Weight Cut stattfindet. Das Gewicht muss der Kämpfer natürlich trotzdem erbringen, zudem wird nach dem Kampf noch einmal gewogen. Eine Toleranz von fünf Prozent wird den Fightern hier eingeräumt. Wird diese überschritten, drohen Geldstrafen und letztlich der Ausschluss aus der Gewichtsklasse. Aber eben diese Toleranz würde einen Weight Cut grundsätzlich ermöglichen.

Um das gänzlich auszuschließen, wird per Urintest die Hydration der Kämpfer gemessen. Je mehr gelöste Stoffe, wie beispielsweise anorganische Salze, sich im Urin befinden, desto stärker ist der Körper bereits dehydriert, also ausgetrocknet. Wird beim Test vor dem Kampf ein bestimmter Grenzwert überschritten, weist das auf einen Weight Cut hin. Er darf dann nicht mehr antreten.

Doch auch an diesem Modell gibt es Kritik. Der von ONE festgelegte Grenzwert für den Status “dehydriert” sei willkürlich gewählt, Faktoren wie Ernährung, Muskelmasse und Medikamenteneinwirkung würden nicht mitbedacht, so der Vorwurf. Es sei sogar relativ leicht den Test auszutricksen, behauptet Dr. Oliver Barley in einem Interview mit “Bloody Elbow“. Er habe bereits einigen großen Namen bei ONE geholfen, Gewicht zu machen und den Urintest trotzdem zu bestehen. Mit destilliertem Wasser könne das Ergebnis entsprechend angepasst werden. Die Anleitung dazu würde er auf Nachfrage auch jederzeit teilen, nur um darauf aufmerksam zu machen, dass solche Urintests im Kampfsport nicht die Lösung sind.

Selbst wenn das Gewichtmachen reguliert wird, gibt es Schlupflöcher. Egal wie man es angeht, es verlangt einem Kämpfer viel ab und in seiner Art des Abnehmens hat der Prozess nichts Gesundes oder Nachhaltiges. Weil der Vorgang immer weiter optimiert und immer wissenschaftlicher abläuft, nehmen die Extremfälle eines schlechten Cuts zwar ab, Horrorgeschichten gibt es aber immer wieder. Wie die von Ex-UFC-Star Darren Till, der kurzzeitig erblindet sein soll, beim Versuch sein Gewicht zu erreichen. Oder der 30-jährige Alexander Hernandez, der über temporäre Impotenz während der Wochen des Gewichtsmachens klagte. Mit Yang Jian Bing und Leandro Souza gab es bislang zwei Todesfälle mit einer direkten Verbindung zum Gewichtmachten in MMA.

Diese Beispiele sind extrem, zeigen aber auch, wie weit die Käfigkämpfer letztlich gehen. Im immer populärer werden Sport MMA bleibt das Gewichtmachen im Profibereich also eine einkalkulierte Tortur, solange die Kämpfer den mutmaßlichen Gewichtsvorteil größer einschätzen als das gesundheitliche Risiko oder Veranstalter nicht enschlossener dagegen vorgehen.

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