In Schwedens Schulen steigt die Segregation

Mit einer tiefgreifenden Reform hat Schweden vor dreissig Jahren den Bildungssektor für private Anbieter geöffnet und die freie Schulwahl ermöglicht. Inzwischen aber gelten erfolgreiche Privatschulen bei vielen als Treiber einer gesellschaftlichen Segregation. Hat das System versagt – oder liegt das Problem anderswo?

Die freie Schulwahl existiert angesichts der Warteschlangen bei der Aufnahme an beliebten Schulen nur noch auf dem Papier.

Jabin Botsford / Getty

Ein geordnetes Lernumfeld und ein hoher akademischer Leistungsanspruch: Das sind die ersten Versprechen auf der Website von Internationella Engelska Skolan. Die IES ist eine 1993 gegründete sogenannte freie Schule (eine mit öffentlichen Mitteln finanzierte, aber privat geführte Schule), und inzwischen gehört sie zu den grössten und wichtigsten ihrer Art in Schweden. Wenn sie vorab mit Ordnung im Klassenzimmer und Wissensvermittlung wirbt, bedeutet das implizit, dass sie sich gerade hiermit von anderen, vor allem öffentlichen Schulen abheben will. «Wo Lehrer unterrichten können und Schüler lernen», heisst entsprechend ein Slogan, mit dem sich die IES präsentiert.

Das Rezept scheint anzukommen. Aus bescheidenen Anfängen in einer südlichen Vorstadt Stockholms ist ein Unternehmen geworden mit heute landesweit mehr als 40 Schulen, etwa 30 000 Schülerinnen und Schülern und um die 2500 Lehrpersonen. Und es könnten noch viele mehr sein, denn die Wartezeiten, um an einen der begehrten Plätze an der IES zu kommen, sind enorm. Es ist kaum übertrieben, zu sagen, dass Eltern ihr Kind am besten gleich nach der Geburt anmelden, wenn sie es später auf eine IES-Primarschule schicken möchten. Von beträchtlicher Zugkraft dürfte dabei sein, dass an der IES Englisch nicht nur Fremdsprache, sondern zu einem bedeutenden Teil auch Unterrichtssprache ist.

Risikokapitalisten machen Schule

Nicht solcher Erfolge wegen jedoch war die IES in den vergangenen Jahren wiederholt in den Schlagzeilen. Vielmehr sorgte sie wegen ihrer Eigenschaft als gewinnorientiertes Unternehmen für Aufsehen. Zu reden gab insbesondere, dass das Gründerpaar Barbara und Hans Bergström 2012 einen amerikanischen Aktienfonds als Investor an Bord holte. Vier Jahre später ging die IES-Gruppe in Stockholm an die Börse. Fast noch grösser war der Aufschrei in Teilen der Gesellschaft, als vor rund einem Jahr ein Risikokapitalfonds eine Aktienmehrheit an der IES erwarb und das zum Konzern angewachsene Unternehmen wieder dekotieren liess.

Ein mit öffentlichem Geld ausgestattetes Bildungsunternehmen als Subjekt der Finanzspekulation – das war für manche linke Politiker von Anfang an schwer verdaulich gewesen. Doch dass es fortan Risikokapitalisten sein würden, die die Gewinne einstreichen, überspannte den Bogen aus ihrer Sicht vollends.

Denn tatsächlich sind es Steuergelder, die in Schweden in die Privatschulen fliessen. Das System ist nämlich so, dass die Schülerinnen und Schüler, die sich an den freien Schulen einschreiben, einen Rucksack voll Geld mitbringen. Es ist ein finanzieller Gutschein, den der schwedische Staat für den Bildungsweg eines jeden Kindes bereithält und den man sowohl bei einer öffentlichen als auch bei einer privaten Schule einlösen kann.

Im Gegenzug dürfen freie Schulen kein Schulgeld erheben. Als die Schulreform geplant wurde, war das Ziel des Gutscheinsystems, allen die freie Schulwahl zu ermöglichen, unabhängig von den finanziellen Voraussetzungen der Eltern. Es ist ein System, das dem schwedischen Egalitätsprinzip entspricht und das die Ungleichheiten vermeiden wollte, die man vor allem in angelsächsischen Systemen mit elitären Privatschulen und einem oftmals vernachlässigten öffentlichen Bildungssektor sieht. Eine «gleichwertige Schule für alle» ist ein leitendes Prinzip im schwedischen Bildungswesen.

Kritiker allerdings sehen das Gutscheinsystem heute pervertiert. Tatsächlich existiert angesichts der Warteschlangen bei der Aufnahme an beliebten Schulen – allein bei der IES sollen es rund 230 000 Kinder sein – die freie Schulwahl nur noch auf dem Papier. Es profitieren bildungsnahe Familien, die sich schon früh mit der Schulfrage beschäftigen und nie den Wohnort wechseln. Wer sich jedoch erst spät zu interessieren beginnt, umziehen muss oder neu nach Schweden gekommen ist, dessen Kinder haben das Nachsehen.

Die Privatschulen als Rosinenpicker?

Sten Svensson, ein früherer Lehrer und Gewerkschafter und heute eine prominente linke Stimme in der Diskussion um das schwedische Schulwesen, wirft freien Schulen vom Typ IES das Rosinenpicken vor. «Diese Schulen schnappen sich ‹einfache› Schülerinnen und Schüler, also Kinder, die auf die Unterstützung des Elternhauses zählen können. Das ermöglicht es ihnen, mit weniger Lehrpersonal auszukommen als etwa eine kommunale Schule in einem sozial benachteiligten Quartier mit hohem Ausländeranteil», sagt Svensson im Gespräch. Da sei es natürlich einfacher, einen Gewinn zu erzielen, wenn man die grössten Herausforderungen des Schulwesens, etwa im Integrationsbereich, dem öffentlichen Sektor überlassen könne. «Doch wenn die guten Schüler in den privaten Bildungssektor wechseln, geraten dadurch die weniger attraktiven öffentlichen Schulen in eine Abwärtsspirale», erklärt Svensson.

Bei der IES wehrt man sich gegen den Vorwurf der Rosinenpickerei. In der Zeitung «Dagens Nyheter» schrieb die Gründerin Barbara Bergström unlängst, der Anteil von Schülern mit ausländischen Wurzeln liege bei den IES-Grundschulen gesamthaft bei 41 Prozent und erreiche an einzelnen Schulen 80 Prozent (im öffentlichen Sektor liegt der Durchschnitt bei 26 Prozent, das Maximum an einzelnen Schulen jedoch bei praktisch 100 Prozent). Und etwa in Stockholm lägen alle Grundschulen in Vierteln, die laut der städtischen Statistik sozioökonomisch in der unteren Hälfte angesiedelt seien.

Bergström argumentiert, dass ihre Schulen gegenüber dem öffentlichen Sektor effizienter seien, weil sie pro Schule mehr Schüler hätten und den Staatsbeitrag deshalb effizienter einsetzen könnten. Und dass sie für bildungsorientierte Eltern attraktiver seien, weil man explizit einen Fokus auf Ordnung und Lernerfolg lege, im Unterschied zum kommunalen Sektor mit seinem allgegenwärtigen «pädagogischen Progressivismus».

Schwedens Pisa-Schock

Letztgenannter Punkt betrifft eine Diskussion, die die Auseinandersetzung um das Gutscheinsystem überlagert und ebenfalls seit Jahren, wenn nicht Jahrzehnten geführt wird. Seitens gewisser Privatschulen sowie bürgerlicher Politiker und Kommentatoren wird an die Adresse der öffentlichen Schulen nämlich der Vorwurf erhoben, den schulischen Schwerpunkt von der Aufgabe der Wissensvermittlung weg auf ein diffuses und schwer messbares Konzept der Persönlichkeitsentwicklung verschoben zu haben.

Nachweisbar ist, dass Schweden in vergleichenden internationalen Erhebungen wie Pisa-Tests und ähnlichen Studien zwischen 2006 und 2018 deutlich absackte, mit Tiefpunkt 2012. Von einem Teil der Analytiker wurde dies der Schulreform zugeschrieben, und zwar mit dem Verdacht, Privatschulen stellten aus Eigeninteresse ihren Schülern «Wohlfühlzeugnisse» aus, was sich dann negativ auf das allgemeine akademische Niveau auswirke. Ein anderer Teil der Beobachter ortete den Grund hingegen nicht bei den freien Schulen, sondern bei der Lehrplanreform und der Übergewichtung der Persönlichkeitsbildung auf Kosten der akademischen Anforderungen.

Schwedens Pisa-Delle

Pisa-Score 2006–2018, nach Prüfbereichen

Bei den Pisa-Tests von 2018 schien Schweden dann wieder auf dem Weg nach oben zu sein. Allerdings tauchte umgehend der Vorwurf auf, dass das Resultat verfälscht sei, weil unerlaubt viele Schülerinnen und Schüler von den Tests ausgenommen worden seien und die Behörden sich diesbezüglich passiv verhalten hätten. Das Bildungsministerium vermochte diese Kritik bisher nicht wirklich auszuräumen.

In jedem Fall aber hat vorab bei der politischen Linken, die derzeit an der Regierungsmacht ist, der Wind gegen das duale Schulsystem in seiner bestehenden Form spürbar gedreht. Neben dem umstrittenen Thema, ob private Profite aus einer öffentlich finanzierten Aktivität zulässig seien, ist vor allem das Zutrittssystem der Privatschulen ein Zankapfel. Kritiker sehen darin einen gefährlichen Treiber gesellschaftlicher Segregation.

Heisses Eisen Wettbewerb

Der Anteil der Privatschulen sei zu gross geworden, sagt etwa der Kommentator Sten Svensson; Konkurrenz halte er im Bildungssektor nicht wirklich für eine gute Idee. Nun müsse nach Wegen gesucht werden, um das System zu verändern und den Betrieb von freien Schulen weniger lukrativ zu machen.

Anderer Meinung ist Marten Blix, Ökonom beim Stockholmer Forschungsinstitut für Industrie und Wirtschaft und Co-Autor eines Buches über die Rolle privater Akteure in öffentlich finanzierten Bereichen wie Bildung, Gesundheit oder Pflege. Blix stellt im Gespräch zwar nicht in Abrede, dass es Herausforderungen im Privatsektor gibt. Dazu zählt er etwa die Ausformung der Zulassungsmodalitäten, aber auch die Gefahr schlechter beziehungsweise sogar ungetreuer Betriebsführung (was bei freien Schulen tatsächlich hin und wieder vorkommt). Doch das sei eine Frage der Regulierung und Aufsicht. «Insgesamt aber ist es dem Bildungsbereich förderlich, wenn durch eine Wettbewerbssituation Druck auf gute Führung und effizienten Einsatz der vorhandenen Mittel entsteht», sagt Blix. «Und man darf durchaus die Frage stellen, weshalb einige der öffentlichen Schulen so schlecht funktionieren.»

Freie Schulen gewinnen stetig an Popularität

Anteil an den Gesamt-Schülerzahlen in Vorschule, Grundschule und Mittelschule, in Prozent

Dass die politische Vorgabe, allen schwedischen Schulkindern eine «gleichwertige» Bildung anzubieten, derzeit nicht erfüllt wird, ist offensichtlich. Ganz egal, ob es nun um abgelegene Landgemeinden geht, die mit niedrigen Schülerzahlen kämpfen und deshalb weniger Ressourcen haben als städtische Gebiete. Oder aber um Schulen in Quartieren mit so hohem Immigrantenanteil, dass allein schon der Unterricht in der Landessprache eine Herausforderung darstellt. Allerdings stellt sich beim Problem der wachsenden Segregation die Frage, ob dies eine Folge der Schulpolitik ist oder ob die Lage an den Schulen nicht einfach einen über Jahrzehnte gewachsenen Trend reflektiert, dessen Hauptursachen anderswo liegen.

«Kein Schulsystem der Welt hätte mit dem Migrationsvolumen, das Schweden erlebt hat, zu Rande kommen können», sagt dazu der Ökonom Blix. Es sei falsch, den Fehler beim schwedischen dualen Ansatz zu suchen. Denn dieser funktioniere im Grundsatz gut, sofern die richtigen Bedingungen gegeben seien. «Nur ist das bisher nicht ausreichend geschehen», fügt er an.

Der Bildungsexperte Svensson räumt zwar ebenfalls ein, dass die hohe Konzentration von Immigranten in gewissen Vorstadtgebieten einen Teil des Problems darstelle. Ohne die freie Schulwahl im Grundsatz anzuzweifeln, sähe er den Aktionsradius des Privatsektors allerdings gerne deutlich kleiner. Gesellschaftliche Segregation, sagt Svensson, sei zwar ein Problem mit vielen Facetten. Doch das Schulsystem, wie es heute bestehe, verschärfe es. Deshalb brauche es Gegensteuer.

So funktioniert das schwedische Schulsystem

ruh. Stockholm · Die obligatorische Schulzeit beträgt in Schweden zehn Jahre und gliedert sich in ein Vorschuljahr sowie je drei Jahre Unter-, Mittel- und Oberstufe an einer Grundschule. Wer die Grundschule mit festgesetzten Mindestleistungen in Schwedisch, Englisch und Mathematik abschliesst, kann die Ausbildung auf der Mittelschulstufe weiterführen, wobei sowohl ein Gymnasium nach zentraleuropäischer Auffassung als auch eine Art Berufsschule möglich ist. Landesweit verlassen rund 85 Prozent der Schülerinnen und Schüler die Grundschule mit dieser «Mittelschulreife», doch gibt es Quartiere, meist mit hohem Einwandereranteil, in denen die Quote teilweise deutlich unter 50 Prozent liegt.

Die obligatorische Schulzeit kann an öffentlichen wie an privaten Schulen kostenfrei absolviert werden. Der Staat richtet jeder Schule pro Schüler einen Betrag aus, der für die betreffende Gemeinde nach ihren Bedürfnissen und äusseren Bedingungen festgesetzt wird.

Auch Schulen mit privater Trägerschaft sind damit öffentlich finanziert; sie dürfen im Gegenzug kein Schulgeld erheben. Die Schulen unterliegen einer staatlichen Aufsichtsbehörde, die Schulführung, Lernumfeld und Lehrplaneinhaltung überwacht sowie die Qualitätskontrolle verantwortet. Muss eine Privatschule wegen Mängeln geschlossen werden, so muss in letzter Instanz die zuständige Gemeinde die nötigen Schulplätze zur Verfügung stellen.

Derzeit halten die sogenannten freien Schulen (öffentlich finanzierte Privatschulen) einen Anteil von 16 Prozent der Schülerschaft im Grundschulbereich und 30 Prozent bei den Mittelschulen; insgesamt geht es um rund 400 000 Schülerinnen und Schüler (siehe Grafik). Schulträger können ideell oder religiös motivierte Vereinigungen, aber auch gewinnorientierte Unternehmen sein. Ob Gewinne im staatlich finanzierten Bildungsbereich gedeckelt oder ganz verboten werden sollten, ist seit Jahren eine politische Streitfrage.

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