Kowloon Walled City: Das dunkelste Geheimnis Hongkongs

Die «ummauerte Stadt» in Hongkong galt als verruchter, rechtsfreier Ort. Vor der Rückgabe der britischen Kolonie an China vor 25 Jahren musste der Schandfleck weg. Wie schlimm war es dort wirklich? Der kanadische Fotograf Greg Girard erinnert sich.

Hongkong, die asiatische Grossstadt zwischen Hügeln und Meer, wuchs ab den 1970er Jahren rasant. Doch die Modernisierung griff nicht überall. Eine kleine chinesische Enklave inmitten der britischen Kronkolonie widersetzte sich den Zeichen der Zeit: Hak Nam. Die «ummauerte Stadt».

Wie eine Festung stand der gigantische Slum auf der Halbinsel Kowloon. Während Hongkong zur glitzernden Metropole heranwuchs, blieb die Kowloon Walled City ein Hort der Dunkelheit. Manche sagten auch: der Vorhof zur Hölle.

Die ummauerte Stadt im Jahr 1989. Zu der Zeit waren die Räumung und der Abriss der Stadt bereits beschlossene Sache.

Die ummauerte Stadt im Jahr 1989. Zu der Zeit waren die Räumung und der Abriss der Stadt bereits beschlossene Sache.

Ian Lambot

Einst ein militärischer Aussenposten der Chinesen zu Beginn der Kolonialzeit, war die ummauerte Stadt ab den 1950er Jahren eine Anlaufstelle für Chinesen geworden, die sich die teuren Wohnungspreise in Hongkong nicht leisten konnten. Die Japaner hatten nach dem Zweiten Weltkrieg die Mauern des chinesischen Stützpunktes niedergerissen, um den Flughafen Kai Tak ganz in der Nähe zu vergrössern. Danach strömten immer mehr Festlandchinesen in den Slum. Dort lebten sie in einem rechtsfreien Raum. Denn die Hongkonger Regierung traute sich nicht, ihn anzurühren – war er doch eigentlich noch immer unter chinesischer Herrschaft. Aber auch die chinesischen Behörden kümmerten sich nicht darum, was in der Walled City passierte.

So blühte die Illegalität in der Stadt: Drogenhandel, Prostitution, organisiertes Verbrechen.

Der heute 67-jährige kanadische Fotograf Greg Girard besuchte 1985 zum ersten Mal die ummauerte Stadt. Schon in den 1970er Jahren hatte ihm ein junger italienischer Reisender von der Walled City erzählt, doch damals tat er es als Abenteuergeschichte ab. Nun, die Nacht war bereits hereingebrochen, da stand Girard vor ihr.

Wie ein Fremdkörper im modernen Hongkong präsentierte sich die chinesische Enklave Hak Nam von aussen, eine dunkle Festung, die auf keiner Stadtkarte eingezeichnet war.

Wie ein Fremdkörper im modernen Hongkong präsentierte sich die chinesische Enklave Hak Nam von aussen, eine dunkle Festung, die auf keiner Stadtkarte eingezeichnet war.

V

Herr Girard, beschreiben Sie bitte Ihre erste Begegnung mit der ummauerten Stadt.

Der Moment, als ich sie zum ersten Mal sah, hat sich tief in mein Gedächtnis gebrannt. Sie war weder auf der Stadtkarte eingezeichnet noch im Bewusstsein der meisten Hongkonger. Sie war mehr Gerücht als Realität. Und dann bog ich eines Abends um die Ecke, auf der Suche nach einem guten Blickwinkel, und da war dieses Ding. Es passte architektonisch nicht zum Rest, Hongkong war damals bereits eine moderne Stadt. Es schaute aus wie eine Art mittelalterliche Kreation, ein zusammengeschustertes Supergebäude. Und ich dachte, das muss sie sein.

In den folgenden Monaten und Jahren sind Sie, wie Sie sagen, Hunderte Male zurückgekehrt und immer tiefer in die engen Gassen der ummauerten Stadt vorgedrungen. Wie hat es dort gerochen?

Es roch ziemlich übel, so viel steht fest. Besonders in den feucht-heissen Sommermonaten. Es gab Schlachthöfe, Metzgereien, und die ganzen Reinigungschemikalien flossen einfach so in den Abfluss. Aber wenn du herumspazierst, Dinge entdeckst, Szenen, die ein gutes Bild geben . . . dann gewöhnst du dich irgendwie an den Gestank.

Zur Person

Greg Girard – Fotograf

Joel Stevenett

Greg Girard – Fotograf

Der kanadische Fotograf Greg Girard (geb. 1955) hat lange in Asiens Grossstädten gelebt und deren Transformation dokumentiert. So sind Bücher zu Hongkong, Tokio, Hanoi und Schanghai entstanden sowie seiner Heimatstadt Vancouver. Zum ersten Mal in Hongkong war er 1974. Seine zwei Bücher zur ummauerten Stadt in Hongkong, «City of Darkness: Life in Kowloon Walled City» und «City of Darkness Revisited», dienten als Vorlage für dystopische urbane Welten für Film- und Videospielproduzenten.

In die engen Gassen der ummauerten Stadt drang auch bei Tag kein Sonnenlicht.

In die engen Gassen der ummauerten Stadt drang auch bei Tag kein Sonnenlicht.

Kriminalität mehr Mythos als Realität: Alltag in der Walled City

Um mehr Wohnraum zu schaffen, bauten die Besitzer in die Höhe, bis zu 14 Stockwerke hoch. Auf einer Fläche von umgerechnet dreieinhalb Fussballfeldern lebten in 8800 Wohnungen 33 000 Menschen. Umgerechnet sind das 1,3 Millionen Einwohner pro Quadratkilometer. Das ist in ungefähr so dicht, wie wenn die ganze Erdbevölkerung auf der zweifachen Fläche Luxemburgs wohnen würde. Nirgendwo auf dem Planeten lebten so viele Menschen auf so engem Raum zusammen.

Tageslicht drang kaum in die engen, hohen Gassen. Selbst am Tag war es stockfinster. Elektrizität zwackten die Besatzer lange illegal vom umliegenden Stadtnetz ab, bis die Stadtregierung den Slum schliesslich erschloss.

Auf den Dächern konnten die Stadtbewohner Sonne tanken und sich vom Wind abkühlen lassen. Kinder spielten zwischen den Antennen und machten ihre Hausaufgaben. Postboten suchten sich den schnellsten Weg zwischen den Gebäuden. Ausrangierte Elektrogeräte stapelten sich neben Wäsche, die zum Trocknen aufgehängt wurde. Und über allem donnerten die Flugzeuge vom nahe gelegenen Flughafen.

Die ummauerte Stadt auf der Halbinsel Kowloon befand sich in unmittelbarer Nähe des Flughafens Kai Tak. Er wurde 1998 geschlossen, wenige Jahre nachdem die ummauerte Stadt abgerissen worden war.

Die ummauerte Stadt auf der Halbinsel Kowloon befand sich in unmittelbarer Nähe des Flughafens Kai Tak. Er wurde 1998 geschlossen, wenige Jahre nachdem die ummauerte Stadt abgerissen worden war.

Die Wasserversorgung hatten Kleinkriminelle der Stadt privatisiert: Gegen Gebühr konnten sich die Bewohner das Wasser die Stockwerke hochpumpen lassen. Sonst blieb ihnen nichts anderes übrig, als Kanister zu schleppen.

Was macht der Mann auf dem Bild (unten)?

Er schamponiert sich die Haare. Was wir unten rechts in diesem Flechtkorb kaum erkennbar sehen, ist gefrorener Aal, der unter dem Wasserstrahl aufgetaut wird. Dies war der einzige öffentliche Brunnen im ganzen Slum, und entsprechend viel war da manchmal los.

Achtung, kein Trinkwasser! Der einzige natürliche Grundwasserbrunnen der ummauerten Stadt war ein beliebter Treffpunkt. Bis in die 1970er Jahre war das Wasser noch trinkbar gewesen.

Achtung, kein Trinkwasser! Der einzige natürliche Grundwasserbrunnen der ummauerten Stadt war ein beliebter Treffpunkt. Bis in die 1970er Jahre war das Wasser noch trinkbar gewesen.

Die ummauerte Stadt galt als hochgefährlicher Ort, von der Mafia – den Triaden – beherrscht, wo jegliche Art der Illegalität blühte. Hatten Sie Angst?

Klar, es herrschte eine Art niederschwellige Feindseligkeit. Die Menschen fluchten, knallten mit den Türen, schmissen Abfall aus den Fenstern. Aber keine offenen Angriffe oder dergleichen. Ich merkte, dass ich den Ort dokumentieren musste, gerade weil er in den Medien so falsch dargestellt wurde. In den 1950er und 1960er Jahren war es ein Ort der Prostitution, des Glücksspiels, der Drogen. Aber als ich zu fotografieren begann, war dieses Bild der ummauerten Stadt veraltet. Ich war überrascht, wie normal es dort war. Ich wollte zeigen, wie das Leben für die Menschen wirklich war, die dort lebten. Und ich wusste, dass ich dafür mit den Menschen vor Ort zusammenarbeiten musste.

Im Erdgeschoss vieler Gebäude befand sich oft im vorderen Teil ein Laden, im hinteren Teil das Schlafzimmer. Die Läden blieben in der Regel geöffnet, bis die Familie den Fernseher ausmachte und sich schlafen legte.

Im Erdgeschoss vieler Gebäude befand sich oft im vorderen Teil ein Laden, im hinteren Teil das Schlafzimmer. Die Läden blieben in der Regel geöffnet, bis die Familie den Fernseher ausmachte und sich schlafen legte.

Wie ist es Ihnen gelungen, das Vertrauen der Bewohner der ummauerten Stadt zu gewinnen?

Ich habe die Leute so behandelt, wie wenn ich eine berühmte Person oder einen Unternehmer für ein Magazin fotografieren würde. Ich benutzte professionelle Beleuchtung, ging offen und direkt auf die Leute zu und fotografierte sie nicht etwa heimlich. Ich habe mich auch dazu entschieden, in Farbe zu fotografieren für mehr Neutralität. Die einzigen Bilder, die es bisher von der ummauerten Stadt gab, waren in Schwarz-Weiss gehalten, was der ummauerten Stadt einen bedrohlichen, schrecklichen Anstrich gab.

Durchschnittlich waren die Wohnungen in der ummauerten Stadt 20 Quadratmeter gross.

Durchschnittlich waren die Wohnungen in der ummauerten Stadt 20 Quadratmeter gross.

Heroinabhängige im Drogensumpf der Arbeiterklasse

Nebst all der gelebten Normalität war die ummauerte Stadt vor allem ein Arbeiterquartier. Chinesen, die dort lebten, arbeiteten in Fabriken, kleinen Werkstätten oder als Strassenverkäufer. Die Droge der Arbeiterklasse in Hongkong war damals das Heroin. In der ummauerten Stadt lebten viele junge Heroinabhängige.

Herr Girard, das nächste Bild zeigt einen jungen Mann beim Drogenkonsum. Wie ist es Ihnen gelungen, jemanden in einer so verletzlichen Situation zu fotografieren?

Für ein solches Bild war ich auf Hilfe angewiesen. Ich wendete mich an Jackie Pullinger, eine britische Missionarin. Sie hatte es sich zur Aufgabe gemacht, die Leute von den Drogen wegzukriegen durch die Begegnung mit Christus. Das war ihre Botschaft. Und es funktionierte ziemlich gut für viele Menschen. Jackie stellte mir einige ihrer Gemeindemitglieder vor, die erfolgreich von den Drogen losgekommen waren. Sie wiederum brachten mich in Kontakt mit Freunden, die noch immer süchtig waren.

Die Arbeiterdroge Heroin wurde bis in die späten 1980er Jahre auf offener Strasse in der ummauerten Stadt konsumiert.

Die Arbeiterdroge Heroin wurde bis in die späten 1980er Jahre auf offener Strasse in der ummauerten Stadt konsumiert.

Schwarz arbeitende Zahnärzte lockten mutige Kundschaft an

Ungefähr 1000 Geschäfte, kleine Fabriken und Unternehmen waren in der ummauerten Stadt ansässig. Sie bereiteten zum Beispiel Mittagessen zu, verpackten es in Lunchboxen und belieferten damit nahe gelegene Fabriken. Auch Fleisch für Grillspiesse stammte oft aus den Schlachthöfen der ummauerten Stadt. Im Slum operierten die Unternehmen steuerfrei und mussten nur geringe Mieten zahlen. Die vielen örtlichen Zahnarztpraxen hatten keine Lizenz und arbeiteten mit oft veralteter japanischer Ausrüstung (wie unten im Bild). Mit ihren günstigen Preisen lockten die Praxen Kunden aus ganz Hongkong an.

Einst gab es über 150 illegale Zahnarztpraxen in der ummauerten Stadt. 1987 waren es noch knapp 90. Laut dem Fotografen Greg Girard lockten sie auch Kunden an, die den berüchtigten Slum einmal selbst erleben wollten.

Einst gab es über 150 illegale Zahnarztpraxen in der ummauerten Stadt. 1987 waren es noch knapp 90. Laut dem Fotografen Greg Girard lockten sie auch Kunden an, die den berüchtigten Slum einmal selbst erleben wollten.

So waren es auch die Kleinunternehmer, die vom Entscheid der Räumung der ummauerten Stadt von 1987 am stärksten betroffen waren. Nach den Verhandlungen über die «Rückgabe» Hongkongs an China wurde das Problem der ummauerten Stadt akut. Dass die chinesische Enklave als ein schmutziger Schandfleck des neuen, modernen Hongkong galt, war der chinesischen Regierung peinlich. Auch der Hongkonger Regierung war der Slum zuwider, obwohl die Polizei inzwischen die Kriminalität in den Griff bekommen hatte. Der anarchistische, autonome Ort, den sich die chinesischen Flüchtlinge geschaffen hatten, passte nicht zum Bild der gut organisierten, sauberen Weltstadt, welche die Briten den Chinesen 1997 zurückgeben wollten.

Die Kompensation, welche die Kleinunternehmer der ummauerten Stadt erhielten, reichte nicht aus, um ihr Geschäft unter legalen Bedingungen in der Stadt weiterzuführen. Sie gehörten zu der Minderheit, die bis zuletzt gegen den Abriss demonstrierten. Der Grossteil akzeptierte die Wohnungen, welche die Hongkonger Regierung ihnen zuteilte, oder die Auszahlung von Geldbeträgen. Die Regierung zahlte insgesamt einen Betrag von umgerechnet 350 Millionen Dollar an die Bewohner.

Der Abriss der Stadt begann 1993. Heute steht an der Stelle des Slums ein Stadtpark, der zwei Jahre vor der Rückkehr Hongkongs an China fertiggestellt wurde. An die ummauerte Stadt erinnert nur noch ein Denkmal.

Gegen die Räumung der ummauerten Stadt Anfang der 1990er Jahre gab es vereinzelt Proteste. Die meisten Leute gaben sich mit der Kompensation der Hongkonger Regierung zufrieden.

Gegen die Räumung der ummauerten Stadt Anfang der 1990er Jahre gab es vereinzelt Proteste. Die meisten Leute gaben sich mit der Kompensation der Hongkonger Regierung zufrieden.

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