Marco Buschmann im Interview: Selbstbestimmung, Corona, FDP

Über liberale Corona-Politik, geschlechtliche Identität, die Legalisierung von Cannabis und die Rolle der FDP in der Ampelkoalition: der deutsche Bundesjustizminister Marco Buschmann im Gespräch.

Bundesjustizminister Marco Buschmann.

Imago

Herr Buschmann, was bedeutet für Sie Liberalismus?

Liberalismus heisst, sich in der Politik für grösstmögliche Freiräume des einzelnen Menschen einzusetzen, so dass der Mensch der Autor seiner eigenen Biografie ist.

Verliert die FDP dabei ihr wirtschaftsliberales Kernanliegen aus den Augen? Das Entlastungspaket der Bundesregierung hat eine weitere Verschuldung des Staatshaushalts zur Folge – auch dort, wo man die Gelder sinnvoller hätte verteilen können, wie etwa beim Neun-Euro-Ticket.

Ich denke, die FDP war immer eine ganzheitlich liberale Partei. Es gab einige Jahre, in denen man uns vorgeworfen hat, wir seien nur wirtschaftsliberal und nicht gesellschaftspolitisch liberal, jetzt dreht man es um. Die Wahrheit ist, wir haben die Steuern gesenkt, wir haben die Schuldenbremse erhalten, und das soll uns einmal jemand mit den Koalitionspartnern, die wir haben, nachmachen.

Aber die Schuldenbremse wurde doch auch in diesem Jahr ausgesetzt, um die hohe Neuverschuldung zu ermöglichen.

Wir haben in dieser historischen Ausnahmesituation des Ukraine-Krieges dafür gesorgt, dass das Instrument der Schuldenbremse nicht aus dem Grundgesetz gestrichen oder verändert wurde. Das ist ein Beitrag zu finanzieller Solidität und aller Ehren wert.

Sie haben eine Reihe von Reformen auf den Weg gebracht, die das Familienrecht und Fragen der sexuellen Identität betreffen – etwa das Modell der Verantwortungsgemeinschaft, das der Ehe rechtlich gleichgestellt wird. Warum sind Ihnen als FDP-Politiker diese Fragen so wichtig?

Die Verantwortungsgemeinschaft wird nicht der Ehe gleichgestellt. Die Ehe ist ein Institut, das im Grundgesetz abgesichert ist, daran will auch niemand etwas ändern. Wir reagieren auf neue Konstellationen des Zusammenlebens. Da gibt es zum Beispiel ältere Menschen, die nicht ins Heim möchten, eine WG gründen und sich umeinander kümmern wollen. Für solche Formen des Zusammenlebens wollen wir einen passenden Rechtsrahmen schaffen: eben die Verantwortungsgemeinschaft. Das ist einerseits moderne Gesellschaftspolitik, aber andererseits auch die Verwirklichung eines sehr alten Prinzips, nämlich des Prinzips der Subsidiarität. Wir fördern es, wenn Menschen sich gegenseitig helfen, bevor sie nach dem Staat rufen.

Manch einer sieht dadurch das Ende des traditionellen Familienbildes gekommen. Ehe, Mutter, Vater, Kind – ist das ein Lebensideal von gestern?

Nein, überhaupt nicht. Ich bin sehr gerne verheiratet. Kinder zu haben und grosszuziehen, ist ein existenzieller Wunsch der Menschen. Daran ist überhaupt nichts «von gestern», das ist auch nicht im eigentlichen Sinne «modern», sondern es gehört einfach zum Menschsein. Immer dann, wenn man das Recht der Wirklichkeit anpasst, gibt es die einen, die den Sinn dahinter erkennen, und die anderen, die den Untergang des Abendlandes herbeireden oder herbeischreiben wollen. Liberale sollten immer zu der ersten Kategorie gehören, die letztere übernehmen schon die Konservativen von ganz allein.

Sie haben die Abschaffung des Paragrafen 219a durchgesetzt. Ärzten ist es fortan erlaubt, über die Durchführung von Schwangerschaftsabbrüchen zu informieren. Kritiker dieser Reform wenden ein, damit sei der Schutz des ungeborenen Lebens gefährdet. Können Sie das nachvollziehen?

Rechtlich ist es so, dass der Schutz des ungeborenen Lebens im Paragrafen 218 des Strafgesetzbuches sichergestellt ist und der Paragraf 219a bisher dafür gesorgt hat, dass die qualifizierteste Personengruppe, die über Abtreibung aufklären kann, nämlich approbierte Ärztinnen und Ärzte, die selbst Schwangerschaftsabbrüche vornehmen, vom öffentlichen Diskurs ausgeschlossen ist. Sie dürfen etwa nicht im Internet informieren, weil ihnen sonst ein strafrechtlicher Vorwurf gemacht wird. Das ist in der digitalen Moderne absurd. Im Internet kann jeder Troll, jeder Verschwörungstheoretiker alles über Abtreibung verbreiten, aber denjenigen, die für wissenschaftliche Erkenntnisse und praktische Erfahrungen stehen, verbieten wir das und drohen ihnen sogar mit strafrechtlicher Verfolgung. Da finde ich, dass es eine Aufgabe von Liberalen ist, einzuschreiten.

Grosse Aufregung ist über das geplante Selbstbestimmungsgesetz entstanden, nach dem jede und jeder selbst über das eigene Geschlecht entscheiden darf. Bis zum Sommer sollten die Eckpunkte des Gesetzes beschlossen sein. Wie ist der derzeitige Stand?

Für dieses Gesetz arbeite ich mit Bundesfamilienministerin Lisa Paus zusammen. Wir werden in diesem Jahr sicherlich einen Entwurf vorlegen. Das Bundesverfassungsgericht hat uns diesen Auftrag erteilt. Denn es hat Teile des Transsexuellengesetzes für verfassungswidrig erklärt. Wir wollen es endgültig abschaffen und durch ein Selbstbestimmungsgesetz ersetzen. Das ist der Auftrag, den wir nun haben.

Worin besteht dieser Auftrag?

Menschen, deren biologisches Geschlecht von ihrer geschlechtlichen Identität abweicht, sind keine kranken Menschen. Genau dieses Gefühl vermittelt aber die derzeitige Rechtslage. Man muss erst mehrere Gutachten über sich erstellen lassen, um den Geschlechtseintrag im Personenstandseintrag ändern zu können, so als ob man ein kranker Mensch wäre. Das wollen wir ändern. Es geht dabei nicht um medizinische Behandlungen, wie immer wieder behauptet wird. Es geht erst einmal nur darum, was im Personalausweis steht.

Eine Minderheit betreffen Fragen der geschlechtlichen Identität so sehr, dass sie diese ändern will. Warum ist das Thema dennoch für Sie zentral?

Auf dem Gebäude meines Ministeriums ist ein Zitat von Albert Einstein angebracht: «Wenn es sich um Wahrheit und Gerechtigkeit handelt, gibt es nicht die Unterscheidung zwischen kleinen und grossen Problemen.» Und ich möchte hinzufügen: Dann geht es auch nicht um grosse oder kleine Fallzahlen. Niemandem wird etwas weggenommen, niemand erleidet dadurch einen Schaden. Das Finden und Erkennen der eigenen geschlechtlichen Identität ist Teil der vom Grundgesetz geschützten Freiheit der Persönlichkeit. Wir sorgen dafür, dass unser Staat diese Freiheit achtet. Ich finde, das ist ein liberales Anliegen.

Ein weiteres Ihrer Reformprojekte ist die geplante Legalisierung von Cannabis. Haben Sie gar keine Bedenken wegen der gesundheitsschädlichen Folgen dieser Droge?

Cannabis ist ja nicht das einzige Produkt, das Schäden auslöst, wenn es im Übermass konsumiert wird. Das Gleiche gilt für Nikotin und Alkohol. Jetzt muss man sich die Frage stellen, ob es ausreichende Gründe gibt, jenes Konsumprodukt im Vergleich zu diesen legalen Produkten auch für Erwachsene unter Kriminalstrafe zu stellen. Da hat sich in den letzten Jahren in der Gesellschaft etwas verändert. In Ländern, in denen es einen sehr liberalen Umgang mit dem Produkt Cannabis gibt, sind Recht und Ordnung nicht abhandengekommen.

Es gibt aber nach wie vor Warnungen, Cannabis sei eine Einstiegsdroge für härtere Substanzen und mache ausserdem abhängig. Wäre es nicht sinnvoller, auf Drogenprävention zu setzen, anstatt diese Droge zu entkriminalisieren?

Wissen Sie, ich selber rauche nicht, ich trinke nicht, und ich würde jungen Menschen auch empfehlen, möglichst keine Drogen zu konsumieren. Mein Ideal wäre immer ein selbstbestimmtes Individuum, das sich nicht durch psychoaktive Substanzen in einen Rausch flüchten möchte. Wir sollten aber das, was relativ harmlos und beherrschbar ist, von den wirklich gefährlichen Substanzen trennen. Das erreichen wir, indem wir den Dealer arbeitslos machen.

Haben Sie selbst schon einmal gekifft?

Nein.

Noch nie in Ihrem Leben?

Nein. Ich muss aber dazu sagen, ich trinke auch keinen Alkohol. Ich habe insgesamt kein Bedürfnis nach Drogen, aber daran muss sich niemand orientieren, das ist meine persönliche Haltung.

Eine Frage der Gesundheit ist auch die Pandemie. Viele Wissenschafter gehen davon aus, dass wir in Deutschland im Herbst eine neue Infektionswelle erleben werden. Müssen die Bürger sich dann auf die Wiedereinführung der Corona-Massnahmen einstellen?

Wir haben in der Bundesregierung dazu einen klaren Fahrplan. Für die Frage, ob im Herbst Massnahmen erforderlich sein werden, ist nicht allein entscheidend, ob es zu vielen Infektionen kommt, sondern auch, ob diese Infektionen die Funktionstüchtigkeit unseres Gesundheitssystems bedrohen werden. Darüber werden wir mit dem Corona-Expertenrat diskutieren, der gerade dazu eine Stellungnahme abgegeben hat. Daneben wird die Evaluation der Massnahmen durch unabhängige Sachverständige der Bundesregierung zum 30. Juni vorgelegt werden. Auch diese werden wir uns ansehen und dann entscheiden, ob und welche zusätzlichen Massnahmen wir im Herbst benötigen. Wir sind derzeit auch nicht wehrlos, denn die sogenannte Hotspot-Regel, die etwa Maskenpflichten in Innenräumen unter klar definierten Bedingungen zulässt, gilt ja noch. Es gibt also keinen Grund, in Panik zu verfallen.

Hat die Freiheit des Einzelnen Vorrang vor dem Schutz der Gemeinschaft?

Freiheit ist eine Leitidee für das Zusammenleben von Menschen. Danach sollen wir uns gegenseitig möglichst viel Individualität und Selbstverwirklichung zubilligen. Das ist aber kein Widerspruch zu der Anerkennung, dass es wichtige Güter der Gemeinschaft gibt. Der Schutz der Funktionstüchtigkeit des Gesundheitssystems ist ein solches hohes Gut.

Die Frage ist, wie mit der Freiheit des Einzelnen zu verfahren ist, wenn sie die Freiheit anderer beeinträchtigt. Erliegt die FDP hier Kurzschlüssen des Freiheitsbegriffs?

Ich glaube, dass wir in der deutschen Geschichte schlechte Erfahrungen mit dem Gedanken gesammelt haben, dass die Gemeinschaft alles und der Einzelne nichts sein solle. Es muss doch darum gehen, wie wir Menschen in die Lage versetzen, sich effektiv vor dieser Krankheit zu schützen und unsere Identität als freiheitliche Gesellschaft zu bewahren. Der Einzelne lebt seine Freiheit in der Gemeinschaft und muss gewiss auch Rücksicht nehmen, aber es darf nicht zum Prinzip werden, dass der Einzelne gegenüber der Gemeinschaft immer zurückstehen muss. Das ist letztlich die Idee der Grundrechte.

Sie haben nach der Schule den Kriegsdienst verweigert und Zivildienst geleistet. 2019 haben Sie die Kriegsdienstverweigerung aber wieder zurückgezogen und an einer Wehrübung teilgenommen, so dass Sie nun als Reservist eingestuft sind. Warum?

In der Tat habe ich an einer Wehrübung für zivile Führungskräfte über sechs Tage teilgenommen und war eine knappe Woche Oberleutnant der Reserve. Das ist natürlich nicht vergleichbar mit der Ableistung des früheren Wehrdienstes. Im Deutschen Bundestag entscheide ich über Auslandseinsätze der Bundeswehr mit, und dafür wollte ich zumindest ein bisschen Grundgefühl haben. Das erwirbt man natürlich nicht in sechs Tagen in Hammelburg in der Infanterieschule, aber ich habe dort sehr viele Menschen getroffen, die mir von ihren Erfahrungen erzählen und mehr vermitteln konnten, als das zum Beispiel ein schriftlicher Bericht kann. Die Voraussetzung für die Teilnahme an der Wehrübung war, dass ich meine Kriegsdienstverweigerung zurückziehe.

Hatte das Ideal «Frieden schaffen ohne Waffen» jemals Geltung für Sie?

Ich bin nach wie vor Anhänger der Freihandelsbewegung. Ich bin überzeugt, wenn Länder und Volkswirtschaften miteinander Handel treiben, wird die Gefahr von Krieg reduziert. Das ist aber keine Garantie. Es gilt: Man muss bereit sein zum Krieg, um ihn zu vermeiden. Wer sich wehrlos macht, macht es den Aggressoren zu leicht. Investitionen in die Wehr- und Verteidigungsbereitschaft können helfen, den Frieden zu sichern. Diese Einsicht ist uralt. Leider haben wir in Europa in jüngerer Vergangenheit nicht entsprechend gehandelt. Das mag dazu beigetragen haben, dass manche wieder meinen, dass man mit Krieg Grenzen verschieben kann.

Die Grünen haben seit dem Ausbruch des russischen Angriffskriegs enorm an Zustimmung gewonnen. Die FDP geht demgegenüber in der «Ampel» unter. Warum gelingt es den Liberalen nicht, sich in der jetzigen Regierung sichtbarer zu machen?

In der Welt tobt ein Krieg, und es drohen Versorgungsengpässe bei der Energie. Also ist doch klar, dass die Aussenministerin und der Energieminister eine entsprechend grosse Sichtbarkeit haben. Das ist Medienkonjunktur.

Meinen Sie nicht, das hat auch etwas mit dem politischen Profil der Grünen und ihren Inhalten zu tun? Der Erfolg der grünen Minister ist ja nicht nur an ihre Posten geknüpft.

Es ist der FDP noch vor wenigen Wochen vorgeworfen worden, dass wir zu viel unseres Programms umsetzten und den Koalitionsvertrag übermässig geprägt hätten. Jetzt kommt wieder eine Phase, in der das Gegenteil behauptet wird. Solche Erzählzyklen sind uns gut bekannt. Schauen Sie allein auf die letzte Legislaturperiode, da gab es für die FDP auch Schwankungen in den Meinungsumfragen, das Ergebnis der Bundestagswahl aber war sehr erfreulich – und das ist entscheidend.

Es gab aber nicht nur schlechte Umfragewerte. Die FDP musste auch bei den jüngsten Landtagswahlen herbe Verluste hinnehmen.

Das stimmt. Und das will ich auch nicht schönreden. Allerdings gab es bei den Landtagswahlen aufgrund spezifischer Umstände vor Ort auch jeweils sehr schwierige Bedingungen.

Was kann die FDP besser machen?

Die FDP wird im Laufe dieser Legislaturperiode deutlich sichtbarer werden. Die Menschen werden erkennen, dass es ohne die FDP keine Steuerentlastungen geben würde. Der Finanzminister wird zeigen, dass wir die Schuldenbremse 2023 wieder ohne Ausnahmeregelung einhalten können. Die Bürgerrechte im digitalen Raum werden gewahrt, und Grundrechten und Rechtsstaat werden auch unter Corona-Bedingungen Geltung verschafft. Bildung und Digitalisierung werden Fortschritte machen. Das werden sehr viele Menschen schätzen.

¨Zur Person

Marco Buschmann – Bundesminister der Justiz

1977 in Gelsenkirchen geboren, trat Buschmann schon 1994 in die FDP ein. Der Jurist war zunächst als Anwalt tätig, bevor er 2014 Bundesgeschäftsführer der FDP wurde. 2016 folgte seine Promotion zum Dr. iur. an der Universität Köln. Von 2017 bis 2021 war er Erster Parlamentarischer Geschäftsführer der FDP. Buschmann gehört zu den Initiatoren für eine Reform des Wahlrechts sowie der Verfassungsklage gegen den Berliner Mietendeckel. Nach der Bundestagswahl im vergangenen Herbst wurde er Bundesjustizminister im Kabinett von Bundeskanzler Scholz.

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