Michel Friedman sagt, was Jude sein in Deutschland heisst

Sein neues Buch «Fremd» erzählt davon, was es heisst, Jude zu sein in Deutschland. Im Gespräch äussert er Zweifel an der deutschen Erinnerungskultur.

«Die Erinnerung an den Holocaust ist nie zu einem Teil des deutschen Selbstverständnisses geworden»: Michel Friedman.

Sven Simon / Imago

Herr Friedman, was ist los in Deutschland? An der Documenta 15 wurden Kunstwerke mit antisemitischen Inhalten gezeigt. Der Palästinenserpräsident Mahmud Abbas warf im Kanzleramt dem Staat Israel vor, einen «Holocaust» zu betreiben, und der Bundeskanzler sass daneben und schwieg. Können Sie mir das erklären?

Michel Friedman: Die Documenta war ein Skandal der Hilflosigkeit . . .

Das war doch nicht einfach nur Hilflosigkeit . . .

Hilflosigkeit! Das heisst nicht, dass es entschuldbar wäre. Es war absolut unentschuldbar. Die Verantwortlichen haben bewiesen, dass sie nichts, aber wirklich nichts umgesetzt haben aus den Lehren über den Holocaust. Denn beim Holocaust geht es ja nicht nur um den Endpunkt der Gewalt. Über Auschwitz sind sich fast alle einig, das hätte nicht sein dürfen, es war der Ort der Bestialität, der Barbarei, der Zerstörungsphantasien, übrigens nicht nur von Sadisten, Mördern und Psychopathen. Für unsere Gegenwart kann man viel lernen von den Anfangspunkten, die zu solchen Endpunkten führen. Hätte es keine Anfangspunkte gegeben, hätte es auch kein Ende gegeben, kein Auschwitz.

Lässt sich das vergleichen?

Nein. Aber die Mechanismen sind die gleichen. Auch bei der Documenta gab es viele Anfangspunkte, bei denen man hätte sagen müssen: Stopp! Aber niemand hat Stopp gesagt. Dann schaukelt sich das langsam hoch, man gewöhnt sich daran, es kommt zu einer Klimax, und am Ende fragen sich alle: Was ist da eigentlich los gewesen? Die Documenta ist übrigens nicht der erste und nicht der letzte Tiefpunkt, den wir erleben werden.

Das frage ich Sie. In Ihrem neuen Buch «Fremd» schildern Sie, was es bedeutet, nach dem Krieg als Jude in Deutschland aufzuwachsen. Also, was ist los?

Das, was seit Jahrzehnten los ist. Alle sagen: Wehret den Anfängen! Die wenigsten tun etwas.

Der Documenta-Skandal war ein institutionelles Versagen. Die Sache mit Scholz nicht.

Sicher, Sie haben recht. Die Documenta ist harmlos im Vergleich zu dem, was mit Abbas und Scholz passiert ist. Wenn neben dem Kanzler der Bundesrepublik Deutschland, der jahrein, jahraus auf Gedenkveranstaltungen auftritt und davor warnt, den Holocaust zu relativieren – wenn diesem Kanzler Abbas sagt, in Israel finde ein «fünfzigfacher Holocaust» statt, dann muss es einen historischen und politischen Reflex geben, zu sagen: Stopp! Stattdessen sagt Scholz – nichts.

Was hätte er sagen sollen?

Es geht nicht darum, Empörung zu zeigen. Solchen gefährlichen Unsinn kann man inhaltlich widerlegen. Scholz hätte sagen können: Herr Abbas, wir müssen inhaltlich reden. Haben die Israeli wie die deutschen Nazis Gaskammern gebaut? Wird in Israel ein Beschluss umgesetzt, alle Palästinenser zu vernichten, wie bei der Wannseekonferenz zur Vernichtung der Juden? Da geht es nicht um Moral oder Empörung, sondern darum, dass eine historische Behauptung aufgestellt wird, die nicht nur unerhört, sondern auch inhaltlich falsch ist.

Ist das genug?

Das wäre schon sehr viel. Abbas wäre entlarvt gewesen. Und Scholz hätte zusätzlich sagen müssen: «Wenn Sie in der Bundesrepublik solche Dinge behaupten, dann sind Sie jedenfalls im Bundeskanzleramt unerwünscht.»

Wie erklären Sie sich, dass das nicht geschehen ist? Das Gedenken an den Holocaust gehört zur DNA Deutschlands. Das Land pflegt eine Erinnerungskultur.

Einspruch: Deutschland hat diese Erinnerungskultur nicht. Die Voraussetzung dafür wäre, dass das kommunikative Gedächtnis, also die Weitergabe innerhalb von drei Generationen, stattgefunden hätte. Stattdessen wurde in den meisten Familien geschwiegen. Die Erinnerungskultur ist in Wirklichkeit, mit Ausnahmen, ein schwarzes, leeres Loch. Es gibt eine offiziell verordnete Erinnerungskultur, aber nicht eine gelebte.

In Ihrem Buch erzählen Sie auf sehr persönliche und zugleich exemplarische Weise, wie Sie als Kind in den 1960er Jahren nach Deutschland gekommen sind. In ein Deutschland, das den Krieg vergessen wollte. Heute gibt es in Deutschland Gedenkstätten, Erinnerungsveranstaltungen, Mahnmäler und Museen, die ans «Dritte Reich» und an den Holocaust erinnern.

Ja, aber es ist nicht gelungen, das Erinnern an den Holocaust zu einem Teil der deutschen Identität und des deutschen Selbstverständnisses zu machen. Das sehen sie allein schon daran, dass nur noch knapp 60 Prozent der Jugendlichen überhaupt wissen, was Auschwitz ist. Deshalb reagierten die meisten Deutschen gar nicht auf das, was Scholz versäumt hat. Zu viele Menschen wissen nicht mehr, was war. Oder wollten es nie wissen. Die Sehnsucht nach einem Schlussstrich ist enorm. Was bis 1945 geschehen ist, haben sie mit einer weissen Tapete überklebt. Sogar die Mörderinnen und Mörder waren brave Bundesrepublikaner geworden. Alle haben in erster Linie sich selbst geschützt. Wenn der eine begonnen hätte, etwas zu sagen, hätte der andere auch begonnen. Und davor hatten alle Angst.

Angst vor der Erinnerung?

Ja, nehmen Sie das Beispiel von Oskar Schindler . . .

. . . der deutsche Unternehmer, der während des Zweiten Weltkriegs jüdische Zwangsarbeiter bei sich beschäftigte und sie damit vor der Ermordung in den Vernichtungslagern bewahrte . . .

. . . meine Eltern überlebten nur dank seiner Hilfe. Oskar Schindler war einer, der etwas getan hat. Aber er wurde in den sechziger Jahren in Frankfurt beschimpft als «Judenfreund» und «Verräter». Dabei müsste Deutschland solche Menschen auf Händen tragen, um der Welt zu zeigen: Wir waren nicht alle so. Das Gegenteil war der Fall.

Oskar Schindler gehört zu den grossen Gestalten des Widerstands.

Ja, heute. Aber in den sechziger, siebziger Jahren war er für die Deutschen ein Störenfried. Und es ist auch klar, warum. Sehen Sie, wenn es um die Nazizeit ging, sagten die Eltern meiner Freunde und meine Lehrer damals zu mir: «Michel, wir hätten ja gern etwas getan, aber was hätten wir denn tun können?» Schindler war ein Beweis dafür, wie feige diese Entschuldigung war. Sein Verhalten zeigte: Man konnte etwas tun. Wenn die Leute 1939, 1938, 1937 oder 1933 etwas getan hätten, dann hätte es Auschwitz nie gegeben. Aber sie haben nichts getan, aus welchen Gründen auch immer. Deswegen vertraue ich der «Erinnerungskultur» nicht.

Darüber gibt es doch in Deutschland einen Konsens.

Konsens? Millionen von Wählerinnen und Wählern in diesem Land wählen die AfD. Das zeigt, dass genau das, was Sie sagen, nicht ausreichend stattgefunden hat. Deswegen bin ich skeptisch.

Die AfD hat Exponenten, die fremdenfeindlich sind. Aber das heisst noch lange nicht, dass alle, die sie wählen, diese Ansichten teilen. Viele AfD-Wähler sind Protestwähler.

Protestwähler? Was für ein Entlastungsbedürfnis. Demokratie setzt bei allen Parteien voraus, dass die mündigen Wählerinnen und Wähler wissen, was sie wählen. Nur bei der AfD nicht. Warum? Mündige Wähler wissen, was sie wählen, also auch bei der AfD, die als einziges Programm den Hass hat, die Zerstörung der Demokratie und die Sehnsucht nach einem autoritären Modell.

Wie soll man als Demokrat darauf reagieren?

Indem man darauf reagiert! Also mit Antidemokraten streitet. In Deutschland haben wir rund 15 Prozent AfD-Wähler. Dass die so laut tönen, dass man meint, es seien viel mehr, liegt nicht einfach nur daran, dass die so laut sind. Es liegt daran, dass die anderen 85 Prozent so leise sind. Müde, fett und eigentlich gelangweilt von der Demokratie.

Über kaum etwas wird zurzeit so heftig diskutiert wie über Gleichstellung und Diskriminierung.

Ja, und bald achtzig Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg haben wir noch immer Rechtsterrorismus, Anschläge auf jüdische Einrichtungen, auf Unterkünfte von Asylbewerbern, auch hier in Frankfurt.

Es gibt Extremismus. Verübt von Kriminellen, die für ihre Taten verfolgt, vor Gericht gestellt und bestraft werden. Aber es ist nicht so, dass das gesellschaftlich akzeptiert wäre.

Wirklich? Wie viele verbale strafrechtlich auch zu verfolgende Taten werden nicht geahndet? Die meisten Verfahren werden eingestellt. Erst in den letzten Jahren, vor allem seit der Regierungspräsident Walter Lübcke von Rechtsterroristen ermordet wurde, gibt es eine deutliche Veränderung. Bis dahin, Stichwort NSU, waren die Reaktionen darauf erbärmlich. Politikerinnen und Politiker sagten oft: Wir schämen uns, das darf nicht geschehen, nie wieder, wehret den Anfängen! Anfänge? Wir sind mittendrin. Kurze Zwischenfrage: Gilt das nicht auch für die Schweiz? Die Reaktionen sind ritualisiert. Solange wir darüber reden, dass Minderheiten angegriffen werden, haben wir nichts verstanden. Das Grundgesetz stellt die Würde des Menschen über alles. Wenn ein Anschlag auf eine Synagoge verübt wird, dann ist das ein Anschlag auf Menschen, auf uns alle. Ein Anschlag auf die Demokratie, der Artikel 1 des Grundgesetzes wird mit Füssen getreten.

Wie meinen Sie das?

Die greifen ja nicht nur Juden und Minderheiten an. Es geht ihnen um sehr viel mehr. Verbrechen wie die NSU-Morde oder der Mord an Walter Lübcke zeigen, dass es den Rechtsradikalen darum geht, den Staat als Ganzes anzugreifen. Sie wollen den Staat destabilisieren.

In Ihrem Buch reden Sie auch von den Bedrohungen, die Sie als Jude in Deutschland spüren. Sie erzählen in einer aufs Äusserste verknappten Form Ihre Geschichte, die Geschichte Ihrer Eltern in einem Land, in dem Sie leben, aber nie heimisch werden können.

Das Ich, um das es im Buch geht, das bin ich. Aber es geht nicht nur um mich, es ist zugleich ein exemplarisches Ich. Ich bin zutiefst überzeugt, dass wir als Fremde auf diese Welt kommen und sie als Fremde wieder verlassen. Das ist eine sehr schwer auszuhaltende Situation. Denn wir sind auf soziale Begegnungen und Bindungen angewiesen. Deshalb versuchen wir, diese Fremdheit loszuwerden, indem wir in «Wirs» gehen, ob das Fussballklubs, Parteien oder was auch immer sind. Und ich stelle in meinem Buch die Frage, welchen Preis das Ich zahlen muss, um in ein Wir eingelassen zu werden. Übrigens ist das nicht nur eine Frage, die sich Minderheiten stellen, sondern jeder Mensch.

Man wird sich selbst entfremdet?

Ja. Aber vor allen Dingen wird man von anderen zum Fremden gemacht. Sehen Sie, ich bin jüdisch und habe bis zum achtzehnten Lebensjahr als Migrant in Deutschland gelebt. Am Anfang konnte ich kein Wort Deutsch. Genauso wie jemand, der heute aus der Ukraine kommt oder aus Syrien gekommen ist. Meine Eltern hatten nach dem Krieg einen Uno-Staatenlosenpass. Wir mussten jedes Jahr auf die Ausländerbehörde. Und wir zitterten jedes Mal davor. Ich weiss, was es heisst, nicht dazuzugehören. Ich weiss, was man zu tun bereit ist, um dazuzugehören. Und ich weiss, wie einem die Mehrheit zu verstehen gibt, dass man nicht dazugehört. Genau das thematisiere ich in meinem Buch.

Heute noch?

Klar rufen einem die Leute nicht mehr «Drecksjude» oder «Kanake» nach. Gefährlich sind aber vor allem die kleinen Stiche, leicht hingeworfene Bemerkungen. Die Menschenverachtung wird in kleinen Dosierungen portioniert. Da hat sich seit fünfzig Jahren nicht viel geändert, in allen Ländern nicht, auch in der Schweiz nicht. Beim Sechstagekrieg 1967, ich war noch ein Kind, hat mich meine Mutter zum Bäcker geschickt, um Brot zu kaufen. Da klopfte mir der Bäcker auf die Schultern und sagte: «Das habt ihr toll gemacht!» Ich hatte keine Ahnung, wovon er sprach und was ich toll gemacht haben soll. Ich hatte ja gar nichts gemacht. Sehen Sie, und diese Dinge sind nicht vorbei. Bei der Finanzkrise 2008 habe ich immer wieder gehört: «Aber jetzt mal ehrlich, Goldman, Sachs, Lehman – das sind doch alles Juden, oder?» Das heisst: Die Legende vom «Weltjudenkapital» ist nach wie vor lebendig. Auf solche Bemerkungen kann man antworten, was man will. Den Schmerz, den sie auslösen, bringt man damit nicht weg. Auch das will ich in meinem Buch zeigen.

Michel Friedman – Fremdsein in Deutschland

rib. · Er ist Rechtsanwalt, Philosoph, Journalist, Autor und Moderator und hat sich als besonders hartnäckiger Interviewer einen Namen gemacht: 1956 in Paris geboren, lebt Michel Friedman seit den sechziger Jahren in Deutschland. Er war stellvertretender Vorsitzender des Zentralrats der Juden in Deutschland, Mitglied des Bundesvorstands der CDU, Herausgeber der Wochenzeitung «Jüdische Allgemeine» und Präsident des Europäischen Jüdischen Kongresses. 2003 trat er von allen Ämtern zurück, nachdem ihm der Besitz von Kokain nachgewiesen worden war. Sein neues Buch «Fremd» erzählt in einer aufs Äusserste reduzierten, poetisch verdichteten Sprache vom Ich Michel Friedman. Und zugleich von einem Ich, das jeder und jede sein könnte. Friedman erzählt vom Kind, das er war, und davon, was es heisst, als Jude in einem Land aufzuwachsen, das nicht an seine Vergangenheit erinnert sein will.

Michel Friedman: Fremd. Berlin-Verlag, Berlin 2022. 176 S., Fr. 31.90.

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