Michelle Bolsonaro: Evangelikale entscheiden Brasilien-Wahl

Bruna Prado / AP

Dank den Stimmen der Evangelikalen wurde der Rechtspopulist Jair Messias Bolsonaro 2018 Präsident. Nun sind sie seine letzte Hoffnung, um eine Niederlage gegen den in Umfragen führenden linken Ex-Präsidenten Lula da Silva zu verhindern.

«Kommen die Gerechten an die Macht, dann freut sich das Volk. Herrscht der Frevler, dann stöhnt es», das liest Pastor Marcelo Coelho Cunha aus dem Buch der Sprichwörter vor. Dann wendet er sich an Lula. Brasilien leide unter Bolsonaro, «aber niemals war es glücklicher als während Ihrer Amtszeit, Präsident Lula!». Die mit 2000 Lula-Anhängern prallgefüllte Sporthalle in São Gonçalo jubelt.

Die Millionenstadt, von Rio de Janeiro durch die Guanabara-Bucht getrennt, ist «chapa quente»: ein heisses Pflaster, ein sozialer Brennpunkt, dominiert von Drogenbanden. Nirgendwo sonst in Brasilien gibt es im Verhältnis so viele evangelikale Kirchen. Bei den Präsidentschaftswahlen 2018 gewann der Rechtspopulist Jair Messias Bolsonaro hier mit 67 Prozent. Lulas Arbeiterpartei (PT) hat es in São Gonçalo dagegen noch nie geschafft, die Bürgermeisterwahlen zu gewinnen.

Evangelikale Gegenoffensive

Jesus und links würden durchaus zusammenpassen, erklären junge Männer bei Lulas Treffen mit den Evangelikalen Anfang September. Sie tragen Hemden im Rot der Arbeiterpartei mit aufgedrucktem Jesusbild. Movimento Jesus Libertador (Bewegung Jesus der Erlöser) nennt sich die Initiative. Sie wendet sich gegen die auf Whatsapp und Telegram verbreiteten Fake News von Bolsonaro, wonach Lula die Tempel schliessen, Abtreibungen legalisieren und den Kommunismus einführen werde.

Jugendliche der Bewegung Jesus der Erlöser (Movimento Jesus Libertador) feiern Ex-Präsident Lula da Silva in São Gonçalo.

Jugendliche der Bewegung Jesus der Erlöser (Movimento Jesus Libertador) feiern Ex-Präsident Lula da Silva in São Gonçalo.

Pilar Olivares / Reuters

Zur Gegenoffensive gehört auch ein extra produziertes Video: «Für Lula zu stimmen, ist keine Sünde!» Dann singt die zwanzig Jahre alte Missionarin Suelen Costa die flotte Gospelnummer «Sobrevivi» (Ich habe überlebt), und die Hände in der Halle strecken sich gen Himmel. «Präsident Lula, Gott ist mit Ihnen!», ruft die Missionarin und bittet den 76-Jährigen zum Tänzchen. Lula stapft hüftsteif herbei. Durch die katholische Arbeiterbewegung geprägt, scheint er bei den bunten Rhythmen und der lauten Extrovertiertheit der Evangelikalen ein wenig zu fremdeln.

Dann redet Lula über die eigene Kindheit in Armut. Und natürlich über die Sozialprogramme seiner Amtszeit von 2003 bis 2010. Damit kann er hier punkten. Die grosse Mehrheit der Evangelikalen ist dunkelhäutig und arm und hatte von Lulas Politik profitiert. Doch über Gott sagt der Ex-Präsident jetzt fast nichts. Religion sei Privatsache, der Staat müsse lediglich die Religionsfreiheit garantieren, mahnt er. Dann will er gehen. Doch ein Pastor hält ihn zurück. Man müsse noch beten. Die Pastoren strecken die Hände in die Höhe und nehmen Lula in ihre Mitte.

Seit dem Frühjahr führt Lula die Umfragen deutlich an. Nur bei den Evangelikalen lag Bolsonaro stets vorne. Anfang September, als dessen Vorsprung auf 6,6 Millionen Stimmen angewachsen ist, zieht Lulas Team die Reissleine. Denn gelänge es Bolsonaro, Lula dank den evangelikalen Stimmen in die Stichwahl am 30. Oktober zu zwingen, wäre das Rennen plötzlich wieder offen. Rasch druckt man Flyer mit Bibelsprüchen und setzt das Treffen mit evangelikalen Pastoren in São Gonçalo an. Jetzt auch noch zu beten, schadet da sicherlich nicht.

Das von Gott auserwählte Ehepaar

Der Grund für Lulas Sorgen trägt ein grünes Samtkleid und eine brave Kurzhaarfrisur. Am 24. Juli rockt Michelle Bolsonaro die Sporthalle neben Rios weltberühmtem Maracanã-Stadion. 33 Mal erwähnt sie in 12 Minuten «Gott» oder «den Herrn». Ihr Ehemann Jair Messias steht mit seinem stets gequält wirkenden Gesicht im Hintergrund. Es ist der Auftakt seines Wahlkampfs, doch der Star ist die 40-jährige Michelle. «Heute können wir mit Stolz sagen, dass wir Brasilianer sind. Ein heiliges Land sind wir, ein von Gott erwähltes Land», erklärt sie.

First Lady Michelle ist der Star bei Bolsonaros Kampagnenstart im Juli: «Heute können wir mit Stolz sagen, dass wir Brasilianer sind.»

First Lady Michelle ist der Star bei Bolsonaros Kampagnenstart im Juli: «Heute können wir mit Stolz sagen, dass wir Brasilianer sind.»

Ricardo Moraes / Reuters

Anfang August steht das Präsidentenpaar dann in einer Baptistengemeinde im Gliedstaat Minas Gerais. «Ich bin auf einer von Gott bestimmten Mission», sagt Bolsonaro knapp und reicht das Mikrofon an Michelle weiter. Man befinde sich in einem Krieg Gut gegen Böse, legt die First Lady los. Und Gott habe ausgerechnet sie beide dafür rekrutiert. «Wer sind wir schon, er ein einfacher Abgeordneter und ich eine Hausfrau. Aber Gott hat wohl etwas Besonderes in uns gesehen.» Ihrem Ehemann Jair Messias rollen die Tränen übers Gesicht.

Gott verlangt viel von dem Ehepaar. Die andere Seite trachte ihnen nach dem Leben, wie 2018, als ihr Mann eine Messerattacke erlitten habe. «Aber wir sind stark, denn Gott ist mit uns.» Dass Bolsonaro damals kurz vor der Wahl die Attacke überlebte, ist für die Evangelikalen der Beweis, dass Gott ihn, der nicht umsonst mit dem zweiten Vornamen Messias heisst, für eine ganz spezielle Mission auserkoren hat. Bolsonaro, der Katholik ist, hatte sich erst im Mai 2016 von einem evangelikalen Pastor im Jordan taufen lassen, als Startschuss seiner damaligen Präsidentschaftskampagne. Bei den Wahlen stimmten dann zwei Drittel der Evangelikalen für ihn. Es waren die entscheidenden Stimmen.

Den Evangelikalen wichtige Wahlversprechen wie das Ende der Adoption von Kindern durch gleichgeschlechtliche Paare sowie die Verlegung des Sitzes der brasilianischen Botschaft in Israel von Tel Aviv nach Jerusalem konnte er nicht umsetzen. Doch Ende 2021 brachte er mit dem presbyterianischen Pastor André Mendonça einen evangelikalen Richter ans Oberste Gericht. In einem Video sieht man Michelle deswegen vor Freude hüpfen; dann stösst sie plötzlich unverständliche Laute aus. Sie rede «in Zungen», in nur Gott verständlicher Sprache, heisst es.

«Jesus Christus auf dem Präsidentenstuhl»

Wird Bolsonaro wiedergewählt, kann er zwei weitere Supreme-Court-Sitze mit evangelikalen Richtern besetzen und wie sein Idol Donald Trump das Gericht auf Jahrzehnte prägen. Damit hätte der Ex-Militär so viel für die Evangelikalen getan wie kein anderer Präsident zuvor.

«Man mag mich eine Fanatikerin schimpfen, eine Verrückte, ich werde trotzdem weiter unseren Gott loben», verspricht Michelle vor der weinenden Baptistengemeinde. «Denn jener Präsidentenpalast, der früher dem Teufel geweiht war, gehört heute Gott, unserem Herrn. Auf dem Präsidentenstuhl sitzt jetzt Jesus Christus!»

«Michelle ist Bolsonaros beste Waffe, denn sie spricht die evangelikale Seele an», sagt der presbyterianische Pastor Antônio Carlos Costa. Die First Lady sehe gut aus und finde als waschechte Evangelikale stets die passenden Worte. Zudem bügelt sie Bolsonaros plumpe Macho-Eskapaden aus: wenn er andeutet, was für ein aufregendes Liebesleben sie hätten, lächelt sie. Lust auf die eigene Frau zu zeigen, werde bei vielen gar als Stärkung der Familie angesehen, erklärt Pastor Costa. «Besser als fremdgehen.»

Familienwerte werden bei den Bolsonaros hochgehalten. Die 27 Jahre jüngere Michelle ist Jair Messias’ dritte Frau, mit ihr hat er eine Tochter. Aus früheren Ehen hat er vier Söhne, die alle ins Visier der Justiz geraten sind. Zuletzt berichteten Medien über ein Geldwäschesystem, mit dem der Clan in den vergangenen Jahrzehnten 107 Immobilien gekauft haben soll. Bei 51 Immobilienkäufen soll Cash in Millionenhöhe geflossen sein. Weil einige Checks ihrem Konto gutgeschrieben wurden, verspottet die Opposition Michelle seither als «Micheque».

Ein Mann betet während des evangelikalen «Marsches für Jesus» im Juli in der Hauptstadt Brasília.

Ein Mann betet während des evangelikalen «Marsches für Jesus» im Juli in der Hauptstadt Brasília.

Ueslei Marcelino / Reuters

100 Prozent Jesus: Rio de Janeiro ist eine Hochburg der evangelikalen Bewegung in Brasilien.

100 Prozent Jesus: Rio de Janeiro ist eine Hochburg der evangelikalen Bewegung in Brasilien.

Ricardo Moraes / Reuters

Evangelikale auf dem Vormarsch

Das Brasilien, in das Jair Messias Bolsonaro 1955 hineingeboren wird, ist noch streng katholisch. In der Provinz regiert die Dreifaltigkeit aus Priester, Bürgermeister und Dorfpolizist. Doch die nun einsetzende Landflucht spült Millionen arme Menschen in die Städte. An den rasch wachsenden Peripherien ist die katholische Kirche nicht mehr präsent. Dafür spriessen überall evangelikale Tempel aus dem Boden. Wer sich berufen fühlt, klemmt sich eine Bibel unter den Arm, eröffnet die eigene Kirche und beginnt zu predigen.

Nicht immer seien diese Prediger bibelfest oder gut gebildet, sagt Pastor Antônio Carlos Costa. Doch während die Menschen in den katholischen Messen einschliefen, mobilisiere sie der evangelikale Kult, sie sängen, tanzten, berichteten aus ihrem Leben, würden Solidarität erfahren und sich gegenseitig trösten. «In den unzähligen kleinen Kirchen predigen Pastoren mit Worten, die die Zuhörer verstehen. Und verbreiten dabei eine klare Botschaft: Christus ist der Erlöser.»

Und diese Botschaft tragen sie in die Gefängnisse, wo Hunderttausende meist schwarze Jugendliche oft ohne Verurteilung einsitzen. Es ist die Hölle auf Erden mit bis zu zehn Gefangenen in einer Einzelzelle. Manche bänden sich an den Gittern fest, um im Stehen zu schlafen, so Costa. Ohne Bibel und Drogen gehe da gar nichts: «Wenn du Marihuana und die Kirchen aus den Gefängnissen abziehst, bricht der Strafvollzug zusammen.»

Pastor Costa hat vor fünfzehn Jahren die auch in Gefängnissen aktive Menschenrechtsorganisation Rio de Paz (Fluss des Friedens) gegründet. Ihre spektakulären Aktionen kennt man landesweit: Holzkreuze im Sand der Copacabana, die für die Opfer von Gewalt stehen. Bei der inneren Sicherheit habe Lulas PT-Regierung komplett versagt, so Costa. 700 000 Brasilianer wurden während ihrer Amtszeit ermordet, 850 000 inhaftiert. Darauf habe die PT keine Antwort gehabt.

Lula habe so grosse Verdienste bei der Armutsbekämpfung und der Bildung, dass Bolsonaro «nicht in hundert Jahren Ähnliches leisten könnte». Doch über die Evangelikalen wüssten Lula und die Linke nichts. Millionen von Brasilianern fühlten sich vom linken Diskurs zur Identitätspolitik – LGBTIQ+, Feminismus und die Rechte Schwarzer – verletzt und ausgeschlossen. Und dass die PT zu den eigenen Korruptionsskandalen und zu den linken Diktaturen in Kuba und Venezuela schweige, sei nicht hinnehmbar.

Im Namen Gottes: Präsident Jair Messias Bolsonaro im Juli 2022 bei einem evangelikalen Event in Rio de Janeiro.

Im Namen Gottes: Präsident Jair Messias Bolsonaro im Juli 2022 bei einem evangelikalen Event in Rio de Janeiro.

Ricardo Moraes / Reuters

Pfingstkirchen drehen die Fahne nach dem Wind

Als Lula im Jahr 1980 seine Arbeiterpartei gründete, erklärten sich nur 6,6 Prozent der Brasilianer als evangelikal. Heute sind es über 30 Prozent. Geht ihre Expansion so weiter – in den vergangenen zehn Jahren öffneten im Schnitt jeden Tag 21 evangelikale Kirchen –, stellen die Evangelikalen um das Jahr 2032 die Mehrheit. Es gibt Kirchen für alle: die arme, schwarze Bevölkerung der Favelas, die neue Mittelschicht oder das weisse Unternehmertum.

Besonders beliebt sind nach dem Vorbild amerikanischer Fernsehprediger aufgezogene Pfingstkirchen. Ihr radikaler, neoliberaler Konservativismus orientiert sich am amerikanischen Protestantismus der Republikaner. Und er bringt ein Wohlstandsversprechen mit: Du selber – und nicht deine Lebensumstände – entscheidest darüber, ob du arm oder reich bist. Denn Gott hat eine kapitalistische Seele. Zahlst du im Tempel den Kirchenzehnten, belohnt er dich bereits im Diesseits.

Die grossen Pfingstkirchen haben längst in die Politik expandiert und bringen ihre eigenen Leute in den Kongress. Seit 2002 hat sich die evangelikale Fraktion dort verdoppelt und stellt jetzt ein Fünftel der Abgeordneten. Man ist bemüht, stets auf der Gewinnerseite zu sein: 2002 und 2006 unterstützten sie den siegreichen Lula. 2018 verhalfen sie Bolsonaro zum Sieg. Dafür wurden die grosszügigen Steuerbefreiungen für Kirchen weiter ausgebaut, ihre Schulden bei den Sozialabgaben erlassen und der Ankauf von TV-Sendeplätzen erleichtert.

Zudem setzte Bolsonaro all seine Macht ein, um die Kirchen in der Pandemie offen und damit die Spendengelder am Fliessen zu halten. Nun machen die Chefetagen Druck auf die Gläubigen, für Bolsonaro zu stimmen. Für Gegner des Präsidenten werde es dagegen ungemütlich in vielen Gemeinden, sagt Pastor Costa. Er selber hat sein Pastorenamt bei den Baptisten aufgeben müssen. Andere würden sich die offene Kritik an der Vereinnahmung des kirchlichen Raums durch die Politik verkneifen, um nicht ihre Jobs zu verlieren. Die Gospelsängerin, die für Lula sang, beeilte sich klarzustellen, dass sie ihn nicht wählen werde.

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