Optimistisch werden: Geht das mit einem Kurs?

Eine optimistische Grundeinstellung kann man nicht nur lernen, sondern sogar studieren – in einem Seminar an der Eliteuniversität Yale. Unser Autor hat sich mal angemeldet.

Was ist Glück? Normalerweise leicht zu beantworten: Glück läuft so nebenher. Ein Abfallprodukt des dösig dahinstreichenden Alltags. Du schaust vom Computerbildschirm auf, guckst in die Kastanie vorm Fenster, siehst einen Mückenschwarm in der Sonne tanzen, und plötzlich bist du glücklich.

Glück, wo bist du?

Will sich das Glück mal nicht einstellen, bestellt man noch einen Grünkohl-Kiwi-Smoothie und checkt sein Instagram. Zerstreuung gibt’s genug. Aber in diesen seltsamen Corona-Zeiten funktioniert Ablenkung nicht so gut. Immer noch nicht. Und nach Monaten der Kontaktbeschränkungen ist man vielleicht auch etwas komisch geworden. Es droht Soziophobie. Viele von uns sind immer noch zurückgeworfen auf sich selbst. Und was man da so sieht, muss einem nicht gefallen. Geht mir wenigstens so. Also beschließe ich, mich aufs Wesentliche zu konzentrieren: aus der Pandemie lernen. Diese verdammte Ausnahmezeit soll wenigstens für irgendwas gut gewesen sein. Bausparer-Mentalität: Nichts im Leben darf umsonst gewesen sein. Jede Erfahrung soll Zins und Zinseszins abwerfen.

Mein Plan: Ich will die Glücksproduktion systematisieren. Es muss doch möglich sein, ein Konzept in dieses Lottospiel reinzukriegen. Gibt es. Und dann auch noch aus den Forschungslaboren einer der weltbesten Universitäten: 2018 entwickelte die Verhaltenspsychologin Laurie Santos für die amerikanische Eliteuniversität Yale einen Kurs, der alle wissenschaftlichen Erkenntnisse über die Entstehung von Glück zusammenführen sollte. Jahr für Jahr litten immer mehr Yale-Studenten unter Depressionen. Laurie Santos’ Kurs “The Science of Well-Being” wollte gegensteuern. Ihr Glücksseminar entwickelte sich schnell zum erfolgreichsten Lernangebot in der 300-jährigen Geschichte von Yale – und die Onlineversion mit aufgezeichneten Vorlesungen während der Pandemie zu einem internationalen Bestseller des E-Learnings. “Science of Well-Being”: exakt das, was ich jetzt brauche.

Schon bin ich angemeldet

Und augenblicklich überzeugt: Laurie Santos ist genau die Richtige für den Job. Die Psychologieprofessorin weiß, wie man Vertrauen schafft: Für die Aufzeichnung der Lehrstücke hat sie ein Dutzend ihrer jungen Erstsemester zu sich in ihr Apartment auf dem Yale-Campus eingeladen. Dort thront sie in einem bequemen Sessel mit aufmunterndem Blümchenpolster, hinter sich ein Respekt einflößender Kamin. Alles wirkt so heimelig und freundlich, dass ich beschließe, Professor Santos von nun an einfach Laurie zu nennen. Mein Karma-Coach.

Zuerst zertrümmert Laurie all die falschen Glücksvorstellungen ihrer jungen Studenten. Goldman Sachs, JP Morgan, Google, Facebook – alles, was der gewöhnliche Yale-Student so anstrebt, ist sinnlos. Überhaupt: Erfolg, Geld, Auto, Haus, Traumhochzeit, perfekter Körper, gute Noten: der ganze amerikanische Traum – für die Katz. Macht alles nicht glücklich. Die Zahlen sprächen eine deutliche Sprache: Verheiratete Paare sind nicht glücklicher als unverheiratete. Gute Note, schlechte Note – kaum messbare Unterschiede auf der Glücksskala. Auch Geld hilft nur bedingt. Sind die Grundbedürfnisse erst einmal gedeckt, steigern zusätzliche Dollar nicht mehr das Wohlbefinden. 75 000 Dollar Jahreseinkommen sind Glücksgrenze. Für jede Behauptung zitiert Laurie eine Studie. Das Glück ist in Kernspin und Brainscan erforscht. Ergebnis: Nicht einmal eine Nasen-OP lohnt sich. Nach nur wenigen Wochen verpufft der Effekt.

Leider muss man sagen, dass unser Bewusstsein denkbar schlecht ausgerüstet ist für nachhaltiges Glücksempfinden. Exakt vier strukturelle Psychodefekte hindern uns daran, ein erfülltes Leben zu führen.

Unser Bewusstsein ist ein Alleskönner? Fehlanzeige!

Zuallererst ist unser Bewusstsein insgesamt ein Nichtsnutz. Unsere stärksten Intuitionen sind meist falsch. Das Unterbewusstsein flüstert: Erst mit dieser neuen Micro-Four-Thirds-Kamera wirst du dich restlos selbst verwirklichen können. Leider gelogen. Genau wie es optische Täuschungen gibt, gibt es mentale Trugbilder. Kurzum: Unser Bauchgefühl kann nichts. Zweiter Psychodefekt: Unser Glücksempfinden kennt keinen absoluten Maßstab. Es orientiert sich immer nur an relativen Fixpunkten. Bei Olympia ist der Bronzemedaillengewinner glücklicher als der Silbermedaillenträger. Denn wer auf dem dritten Platz landet, freut sich schlicht darüber, es gerade noch aufs Treppchen geschafft zu haben. Während der Zweitplatzierte dem Sieger das Gold neidet. Dritter Psychodefekt: Wir gewöhnen uns zu schnell ans Glück. Schon der zweite Rolls-Royce verschafft uns weniger Freude als der erste. Die Forschung nennt das bedauerliche Phänomen die “hedonistische Tretmühle”. Vierter Psychodefekt: Wir schätzen die Wirkung zukünftiger Ereignisse falsch ein. Kommende Freud, baldiges Leid – beides überschätzt. Es kommt niemals so schlimm wie gedacht. Allerdings auch niemals so gut.

Aber: Trotz schlechter Ausstattung ist nachhaltiges Glücksempfinden möglich. Denn die Psychologie zeigt, dass wir unser Glück durchaus zumindest teilweise selbst in der Hand haben. Und zwar zu exakt 40 Prozent. Der Rest ist genetische Glücksveranlagung (50) oder hängt von den Ereignissen ab, die auf uns niederprasseln (10). Diese 40 Prozent Glückspotenzial gilt es jetzt konsequent auszuschöpfen.

Was aber genau macht uns nun wirklich glücklich? Laurie macht’s spannend. Damit rückt sie erst in ihrer letzten Videovorlesung heraus. Glücklicherweise ist der Weg zum erfüllten Leben recht übersichtlich. Es gibt nur wenige Pfade zum Glück: Es sind genau fünf.

Die 5 Pfade zum Glück

Erstens: Lass zufällige Freundlichkeit walten. Lächle. Schenke. Hilf. Nichts macht glücklicher. Einerseits hat die Evolution das ziemlich gut eingerichtet. Denn eben diese Freundlichkeit hält unsere Menschenfamilie dann doch immer wieder zusammen. Andererseits hätte sie diesen Geheimpfad vielleicht nicht ganz so böse zuwuchern lassen sollen. Zweitens: Verschaff dir Zeit. Wer sich für mehr Zeit statt für mehr Geld entscheidet, ist glücklicher. Drittens: Kontrolliere dein Bewusstsein. Wer seinem Geist das Vagabundieren abgewöhnt, wird glücklicher. Viertens: Verschaff dir Bewegung. Fünftens: Schlafe mindestens sieben Stunden pro Nacht. Das war’s. Zwei Millionen Jahre Menschheitsgeschichte – heruntergekocht auf fünf Prinzipien. Fertig.

Leider ist eines der tiefsten Glücksgeheimnisse die traurige Erkenntnis, dass es nicht reicht, die Theorie zu kennen. Man muss sie auch noch in Erfahrung umsetzen. Also hat Laurie ihrem Glückskurs noch einen praktischen Teil beigefügt: eine Challenge. Letztes Kapitel des Seminars, das insgesamt auf zehn Wochen angelegt ist. Endspurt.

Ich muss mich einer persönlichen Herausforderung stellen, die alle erlernten Prinzipien zur Geltung bringt. Am besten, sie aktiviert auch noch eine meiner Charakterstärken. Davon gibt’s insgesamt 24. Das hat der Verhaltenspsychologe Martin Seligman herausgefunden, Erfinder der sogenannten Positiven Psychologie, eben jener Schule, die uns durch Umprogrammieren unseres Denkens dem Glück näherbringen will und der auch Laurie im Großen und Ganzen anhängt.

Umprogrammiertes Denken= Glück?

Marxistisch geschulte Kritiker mögen nun einwenden, dass es sich bei solchen Neuprogrammierungen nur um Behelfsstrategien handelt, die uns übersättigten Mitgliedern einer Wohlstandsgesellschaft dabei helfen, kurzfristig die Sinnlosigkeit unserer gebeutelten Existenz zu übertünchen, nur damit wir morgen wieder etwas munterer sinnlosen Überfluss produzieren. Mit Yoga, Joggen und Achtsamkeit gegen den Burnout. Dabei wissen wir doch seit Adorno, dass es kein richtiges im falschen Leben geben kann.

Aber Adorno kann mich jetzt mal. So richtig glücklich wirkte der alte Nörgler sowieso nie. Ich jedenfalls bestimme jetzt mit einem speziell angefertigten Online-Charaktertest meine vier Haupt-Skills. Dazu muss ich etwa 100 Fragen beantworten. Ergebnis: Auf meinen ersten vier Plätzen stehen Neugierde, Kreativität, Humor und Wertschätzung für Schönheit und generelle Spitzenleistungen. Auf den letzten Plätzen: Sozialkompetenz und Teamfähigkeit.

Wenn ich nun eine meiner dominanten Charakterstärken bewusst auf einen der fünf Glückspfade fokussiere, habe ich beste Chancen, in den Flow zu kommen – eben jenen Zustand, in dem man sich ganz im Moment verliert und der einem auf Dauer das Gefühl gibt, man führe ein erfülltes Leben. Kurz: mein maßgeschneidertes Glücksrezept, wissenschaftlich fundiert.

Von der Theorie in die Praxis

Wohlan. Ich beschließe, freie Zeit nicht mehr bei Facebook zu verdaddeln, sondern in eine neue Erfahrung zu investieren. Ich will die Computersprache Python erlernen. Nebenher will ich noch regelmäßig joggen und meditieren, beides Geheimwaffen im Kampf gegen Sinnlosigkeit. Besonders Meditation. Experimente im Kernspin ergaben, dass meditieren sogar das Gehirn vergrößert. Mehr Hirn durch einfaches Zählen deiner Atemzüge! Das ist besser als die Verwandlung von Wasser zu Wein.

In meinem Glücksoptimierungsprogramm überspringe ich alles, was mit Menschenkontakt zu tun hat. Schließlich stehen alle Sozialkompetenzen in meinem Charakterprofil auf den beiden letzten von 24 Plätzen. Hier würden sich Investitionen gar nicht erst lohnen. Außerdem bin ich kreativ, humorvoll und neugierig. Da muss ich nicht auch noch unter Leute. Also programmiere ich auf Teufel komm raus. Danach joggen. Nichts verschafft mir mehr Glück, als in der fünften Runde jemanden zu überholen, der in der dritten noch an mir vorbeigezogen ist. Natürlich ist das falsches Glück. Neoliberaler Leistungsmist. Also tue ich sofort Buße und trainiere mein Hirn dazu, im Moment zu sein. Mit rotem Kopf starte ich eine Meditation nach Jon Kabat-Zinn. Nicht irgendein Yoga-Schluffi, sondern ein staatlich geprüfter Molekularbiologe. An meinen Geist lasse ich nur promovierte Experten.

Schon bald wird’s stressig. Als ich ausgelaugt auf dem Sofa den vorgeschriebenen sieben Stunden Glücksschlaf noch eine weitere dazuschlage, klingelt das Telefon. Unterdrückte Nummer. Unverschämt. Erbost schiebe ich das Handy zur Seite und stiere in die Kastanie draußen. Sie erscheint mir hässlich. Früher spielten dort Mücken im Sonnenschein. Davon ist nichts zu sehen. Das Telefon hört nicht auf zu klingeln. Hartnäckiger Teufel. Schließlich überwiegt die Neugierde (Platz drei in meinem Charakterprofil nach Seligman), und ich nehme ab. Die Nachbarin von gegenüber. Sie sitzt wegen starken Rheumas im Rollstuhl. Vor Monaten hatte ich ihr Hilfe angeboten, damit sie nicht in den Supermarkt muss. Seitdem hatte ich sie vergessen. War versunken in Glücksoptimierung. Nun kommt sie plötzlich auf mein Angebot zurück. Es gehe allerdings nicht um Einkäufe. Ihr Problem sei das kleine Holzhäuschen vor dem Mietshaus, in dem sie wohnt. Das hat sie sich vor Jahren bauen lassen, um darin ihren Elektrorollstuhl zu parken. Nun verrottet das Holzhaus. Sie will es reparieren. Dazu müsse erst einmal das Dach vermessen werden. Ob ich dabei helfen könne?

Helfen hilft

Mürrisch erhebe ich mich vom Sofa, suche mir Zollstock und Notizbuch und gehe zu ihr rüber. Sie sagt, das Dach sei undicht. Sie untertreibt. Das Dach ist hinüber. Von dem Giebelchen baumeln vier lose Zierlatten. Die möchte sie erneuern. Dann würde es das Dach wieder einige Jahre machen. Das bezweifle ich. Erkläre mich aber bereit, die Latten im Baumarkt zu besorgen und sie später auch anzubringen. Ich hasse Baumärkte. Doch als ich erst einmal dort bin, finde ich es eigentlich ganz schön. Es gibt ganz rührende Insektenhotels. Die Menschen sind auch recht vernünftig. Halten Abstand. Tragen Masken. Vielleicht sind Bastler gar nicht so verkehrt. Als ich mit dem Baumaterial zurückkomme, will die Nachbarin erst einmal einen Plausch halten. Schon steht sie mit zwei eisgekühlten Dosen Mezzo Mix vor der morschen Hütte. Eine davon streckt sie mir entgegen. Auf dem Dosenrand wimmeln zehn Millionen Corona-Viren. Ich lehne dankend ab und sage, ich müsse mich jetzt sehr konzentrieren, um komplizierte statische Berechnungen durchzuführen. Verständnisvoll zieht sie sich in ihre Wohnung zurück.

Ich messe, säge und nagele. Habe ich seit Jahren nicht mehr gemacht. Macht großen Spaß. Die Nachbarin schaut ab und an aus dem Fenster und nickt zufrieden. Vielleicht werde ich mir irgendwann noch den Rest des morschen Holzdachs vornehmen. Aber vorher sollte ich vielleicht mal mit der Nachbarin einen Plausch halten – und zusammen eine Dose Mezzo Mix trinken.

Barbara

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