Psychologie: Warum wir eine neue Zeitkultur brauchen

Wer hat eigentlich an der Uhr gedreht, dass wir so oft so gehetzt durchs Leben gehen? Ach was, rennen! Muss das so sein, geht das nicht anders? Ein Plädoyer für eine neue Zeitkultur.

Sehr, sehr oft gleicht mein Leben den Trommelwirbeln in Maurice Ravels “Bolero”. Rattatatat, rattatatatt, rattatattt, im scheppernden Rhythmus, immer weiter, die Spannung steigt. Und noch eine Runde drehen mit sich zuspitzendem Stakkato, zuverlässig, total auf den Punkt, und von Mal zu Mal atemloser.

Im Alltags-Chaos

Nur noch schnell die Mails checken, diesen Auftrag zusagen, jene Deadline einhalten, mit den Kindern Pythagoras verstehen, mir etwas Witziges fürs Abendessen überlegen, drei Freundinnen auf WhatsApp antworten, einen Liebeskummer geradebiegen, noch eine kleine Meditation einschieben, durchatmen, kurz runterkommen, dann weiter. Vielleicht schaffe ich es noch, heute Abend 20 Seiten zu lesen? Ich verwechsle die Anfänge der zehn Romane, die neben meinem Bett liegen. Ach, und wohin könnten wir im Herbst reisen? Herzklopfen, Anspannung, atmen, ich probiere ein kurzes Ommm. Nebenan brüllen die Nachbarskinder, ihre Stimmen mischen sich mit den Punkten auf meiner To-do-Liste, die in meinem Kopf quengeln, dass sie immer noch nicht abgehakt sind.

Als mich im Frühling wilder Kummer überkam, weil ich mich ewig mit keiner lieben Freundin mehr verabredet, niemanden ausgiebig geküsst, seit Lichtjahren keine Rolling-Stones-Platte aufgelegt hatte und sogar haderte, ob ich es zeitlich schaffen würde, auf die große Demonstration gegen den Ukraine-Krieg zu gehen, wusste ich: Hier läuft etwas katastrophal schief. Da stieß ich auf den britischen Wissenschaftsjournalisten Oliver Burkeman. Von ihm ist gerade das Buch “4000 Wochen” auf Deutsch erschienen, und es ist, vorsichtig ausgedrückt, ein Werk, das einem spektakulär bis erschütternd um die Ohren fliegt. Burkeman, Kolumnist, akribischer Rechercheur, Familienvater, ging es bis zuletzt wie den allermeisten von uns: überquellende Postfächer, Arbeiten bis zum Umfallen, hohe Ansprüche ans Vatersein, an den Beruf. “Ich war ein Produktivitätsfreak. Das ist einer, der mit Leidenschaft Punkte von seiner Aufgabenliste streicht, sich schicke Notizbücher kauft und sein Leben in dem Glauben vergeudet, den Kampf mit der Zeit ein für alle Mal zu gewinnen. Unendlich traurig.”

Fast schockiert stellte Burkeman fest: Im Grunde verhackstücken wir unsere erwachsene Lebenszeit komplett, indem wir sie verbissen bis brutal unter Kontrolle zu kriegen versuchen. Doch, Achtung!, “es wird nie der Tag kommen, an dem die E-Mail-Flut eingedämmt ist, die To-do-Listen nicht mehr länger werden, man allen Verpflichtungen im Beruf und im Privatleben nachkommt, einem niemand mehr böse ist, weil man eine Frist verpasst oder einen Fehler gemacht hat – und man sich als voll optimierter Mensch endlich den Dingen zuwenden kann, um die es im Leben eigentlich geht. Geben wir uns geschlagen: Nichts davon wird jemals eintreten.” Burkemans Buch heißt deshalb “4000 Wochen”, weil das die Spanne ist, die ein Leben pi mal Daumen dauert. Eine Zahl, bei der die meisten von uns zusammenzucken: 4000 Wochen klingen nach nicht viel. Der englische Untertitel lautet “time management for mortals” – Zeitmanagement für Sterbliche. Burkeman hat dieses unangenehme Wort gewählt, um uns ziemlich konkret mit dem Tod vor Augen rumzufuchteln. Denn “je mehr wir unsere Endlichkeit akzeptieren, desto sinnvoller und freudvoller wird das Leben”.

Zeit ist Geld

Ich stolpere kurz, will nicht an meinen eigenen Tod denken, aber dann knicke ich ein: Lasse ich den Gedanken zu, dass mir gar nicht (mehr) so viel Zeit zur Verfügung steht, wird mir bewusst, was für einen mühseligen Quatsch ich in großem Stil veranstalte.

Doch ein schlechtes Gewissen bringt uns hier nicht weiter. Denn wir sind alle Rädchen in einer gigantischen Maschinerie namens Kapitalismus, die gnadenlos nach vorn schiebt. In Gang setzte sie sich, als im Spätmittelalter die Uhr erfunden wurde, und spätestens mit der Industrialisierung nahm sie Fahrt auf. Damit geschah etwas Fatales: Zeit, die bis dahin frei verfügbar war, oder besser, über deren Vorhandensein man nicht groß nachdachte, wurde durch die Währung Geld ersetzt. Plötzlich war ein “beeil dich, macht schnell” in der Welt, weil jede vergeudete Minute jetzt etwas kostete.

Mitte des 18. Jahrhunderts kam die schreckliche Wendung “time is money” in die Welt, perfekt passend zu einem protestantischen Arbeitsethos, der uns bis heute zu Sklavinnen unerbittlich vorrückender Zeiger macht. Karlheinz Geißler, Deutschlands großer Zeitforscher, sagt schlicht: “Uhren sind Diktatoren.” Der Wissenschaftler, der so wunderbare Ratgeber wie “Time is Honey” oder “Die Uhr kann gehen” verfasst hat, konnte in Schweizer Burn-out-Kliniken gut verdienende Top-Manager sezieren, die “steinreich, aber arbeitsunfähig” ins Grüne starren, stolz darauf sind, das Schlafpensum von Napoleon geschafft zu haben (angeblich vier Stunden!), und aus ihrer luxuriösen Tretmühle nicht herausfinden. Nun könnte man sagen: Was gehen uns solche Schnösel an? Aber letztlich sitzen wir im selben Boot – auch wir pressen aus unserer Zeit alles heraus, haben verlernt, wie köstlich sich Abwarten und Es-mal-laufen-Lassen anfühlen.

Glückseligkeit nur durch Arbeit und Geld?

Die große Tragik dahinter: Wir können Zeit nicht wie ein Wirtschaftsgut verdinglichen, wir selbst sind unsere Zeit. Je kleinkarierter wir sie verwursten, desto mehr klauen wir uns von ihrer Schönheit, aber auch von unserer Existenz.

Viel schlimmer ist das übrigens für diejenigen, die für ihren Einsatz richtig schlecht bezahlt werden: Menschen, die sich in prekären Jobs über Wasser halten müssen und körperlich auslaugen, sind nicht nur oft in ihrer Lebenszeit beschnitten, sie haben auch aus Zeitnot und Erschöpfung kaum Möglichkeiten, selbstbestimmt ihre Zeit zu gestalten. Die Feministin und Publizistin Theresa Bücker mahnt deshalb in ihrem neuen Buch “Alle Zeit” (erscheint Ende Oktober): “Zeit ist ungerecht verteilt, der materielle Wohlstand hat sich nicht in Zeitwohlstand übersetzt. Damit alle Menschen sich frei entfalten können und die gleichen Chancen haben, müssen wir Zeit neu verteilen.”

Ashley Whillans, Assistenzprofessorin an der Harvard Business School, forscht, warum uns das moderne System so viel Zeit klaut. Sie kritisiert: “Wir sind besessen von Arbeit und Geld.” Man habe uns fälschlicherweise eingetrichtert, wenn wir nur genug geleistet und verdient hätten, käme eines Tages die Glückseligkeit. “Doch mit diesem Dogma sind wir einen lausigen Handel eingegangen. Wir werden die kostbare Zeit, die wir dafür eingetauscht haben, nie zurückbekommen.” Die Expertin kommt auf hohe Prozentzahlen von schwer an Zeitdruck “Erkrankten”. Die gesundheitlichen Folgen seien “drastisch. Menschen, die zeitarm sind, sind weniger glücklich, weniger produktiv und weniger entspannt. Sie bewegen sich zu wenig, essen fetter und entwickeln häufiger Herz-Kreislauf-Erkrankungen.” Panisch denke ich an mein konstantes Herzrasen, meinen löcherigen Schlaf – auch ich habe mich längst angesteckt.

Gefährlicher Präsentismus

Dabei verfügen wir paradoxerweise über so viel freie Zeit wie nie zuvor, bloß hätten wir im rasenden Fließband-Modus kollektiv die Fähigkeit verlernt, uns auszuruhen, Zeit zu vertrödeln, zweckfrei, ja, aus reinem Vergnügen nichts zu tun, so Whillans: “Nein, Geschäftigkeit ist das neue Statussymbol.”

Das heißt: Wir sind leider sehr stolz darauf, wenn wir die sind, die am längsten im Büro, im Homeoffice durchhalten oder den schicksten Instagram-Account hochproduktiv befüttern. “Das ist gefährlicher Präsentismus, der auf dem Vormarsch ist. Der übrigens ganz viel mit der dramatisch steigenden Einkommensungleichheit zu tun hat”, so Ashley Whillans. Die nämlich löse eine Unsicherheit in Bezug auf die Zukunft aus, sodass “die, denen es eigentlich gut geht, sich sorgen, wie tief sie abrutschen könnten. Und die, die kaum über die Runden kommen, fürchten, noch weiter zurückzufallen.”

Letzte Woche bin ich einer Bekannten begegnet, die in einem Secondhandladen als Verkäuferin arbeitet. Außerdem ist sie ordentlich gebuchte, freie Grafikerin. Sie erzählte mir strahlend, dass sie die nächsten drei Monate Ferien machen würde, einfach gar nichts machen, all ihre Aufträge abgesagt hätte. “Von was wirst du leben?”, fragte ich gespannt und neidisch. “Ich brauche nicht viel”, sagte sie. Keine Klamotten, kein Zeugs, kein Auto, keine teuren Restaurants; eine kleine Rücklage hätte sie, “falls mal etwas mit den Zähnen” wäre. Ich kam ins Grübeln. Ich bin kein Shopaholic, kein Luxusgirl, aber ich rackere definitiv heftig für einen bestimmten Lifestyle. Ich denke peinlich berührt an überflüssige Pullover, überteuerte Seren, hübsche Tassen, ein unverzichtbares Retreat. Natürlich finde ich es elementar, sich das Leben schön zu machen. Aber plötzlich dämmert mir, dass es eine verdammt schale Rechnung ist, die ich mir vor Augen halten muss: Ich schufte, werte mich wie alle anderen durch meinen Konsum, einen bestimmten Komfort auf, aber unterm Strich bleibt eh keine Zeit, all das zu genießen.

Kein gemeinsamer Kampf für ein besseres Leben

Der Zeitforscher Geißler merkt leise an: “Die Gesellschaft erwartet von uns, jeden Morgen wie eine Maschine auf Kommando hochzufahren.” Das aber könne der menschliche Körper auf Dauer nicht verkraften, denn von Natur aus hat er seit Jahrtausenden seinen eigenen Rhythmus. “Jedes Leben, auch das menschliche, ist auf Dauer nur als rhythmisches Leben möglich. Wo dieses Naturgesetz ignoriert wird, verödet es.”

Der Burn-out, die soziale Vereinsamung, Depressionen – mögliche Folgen, weil wir die kostbare Zeit, die uns bleibt, so schmählich missbrauchen. Und ist jeder in seiner eigenen Hast, droht eine Gesellschaft zu desynchronisieren – wir kommen nicht mehr zusammen, aber wir kämpfen auch nicht mehr gemeinsam für ein besseres Leben. Was tatsächlich eine große Gefahr für die Demokratie bedeutet.

Oliver Burkeman benennt noch ein anderes Drama in unserem zerstörerischen Dauerlauf: den Irrglauben, unser Leben müsse spektakulär sein. Wir arbeiten nicht nur wie die Verrückten, sondern müllen die restliche Zeit zusätzlich voll mit schillernden Erlebnissen, unverzichtbaren Reisen, crazy Events: “Das ist der Versuch, die Erfahrungen, die die Welt zu bieten hat, im Eiltempo zu konsumieren, um das Gefühl zu haben, wirklich gelebt zu haben.” Zeitforscher Geißler sagt: “Zeit ist nicht knapp, sondern wir definieren alles als letzte Gelegenheit vor dem Tod.” Aber wir werden nie ankommen, es wird nie genug sein! Deshalb hat auch die Klimaproblematik und unser zerstörerischer Umgang mit dem Planeten unfassbar viel mit unserem Verprassen, unserem Ausreizen von Zeit zu tun. Wir beuten uns aus – und die Welt.

Sich selbst zuerst bezahlen

Plötzlich stelle ich mein Gehetztsein total infrage, mir wird fast schlecht. Und jetzt? Will ich dringend wieder “nüchtern” werden – mir leuchtet total ein, dass meine Abhängigkeit von der “Schnelligkeitssucht” vergleichbar ist mit Alkoholismus, wie die kalifornische Psychotherapeutin Stephanie Brown feststellte: Man weiß, man muss man aufhören, und greift doch immer wieder zum “fast forward”, um sich abzulenken und sich zu betäuben. Burkemans Gegenmittel war es, zu durchschauen, dass das Leben gar nicht spektakulär ist, sondern “nur ziemliches Mittelmaß” und “die meisten von uns höchstwahrscheinlich keine Kerbe im Universum hinterlassen”. Ein ziemlich tröstlicher, befreiender Gedanke, geht mir langsam auf.

Und noch etwas werde ich anders machen: mich in Sachen Zeit ab jetzt immer “zuerst selbst bezahlen”. Die US-Kreativitätstrainerin Jessica Abel fordert, wenn wir auch nur ein bisschen von unserem Leben haben möchten, müssten wir uns Zeit auf die Seite legen – nicht Geld. Wenn uns eine Sache wirklich wichtig sei, “ein Hobby, die Pflege einer Beziehung, der Kampf für etwas”, dann sei unsere einzige Chance, das auch hinzukriegen, “dass man heute etwas davon tut, egal, wie viele andere wichtige Dinge um Aufmerksamkeit buhlen mögen”. Mein Zeit-Konto habe ich schon eröffnet – und jetzt mache ich den Rest des Tages leichten Herzens blau.

Tipps

1. Gehen Sie nie mehr als drei Projekte/Aufgaben/Erledigungen gleichzeitig an. Mehr geht leider nicht!

2. Probieren Sie ein Hobby aus, in dem Sie es auf keinen Fall zur Perfektion bringen möchten. Geben Sie die Hoffnung auf, eines Tages in was auch immer brillant zu sein.

3. Machen Sie sich klar: Wir werden unfassbar viel auf dieser Welt verpassen. Na und?

4. Lassen Sie sich auf das Abenteuer ein, die Superkraft Geduld neu zu üben. Die Erfahrung, dass Probleme vorübergehen oder Dinge sich von allein regeln, fühlt sich unglaublich gut an.

5. Unterstützen Sie die, die wirklich unter Zeitnot leiden. Klingeln Sie bei Ihrem hart arbeitenden Nachbarn, laden Sie ihn auf einen Teller Suppe ein. Fragen Sie die alleinerziehende Mutter, ob sie ihrem Kind bei den Hausaufgaben helfen können.

Brigitte

source site-31