Regierungskrise in Grossbritannien: Ringen um Johnsons Nachfolge


Die neusten Entwicklungen

Boris Johnson hat den Parteivorsitz niedergelegt und will als britischer Premierminister zurücktreten, sobald ein Nachfolger gefunden ist. Anfang September soll das Land voraussichtlich einen neuen Regierungschef haben. Die wichtigsten Antworten dazu.

Noch ist Boris Johnson Regierungschef. In ein paar Wochen wird jedoch ein neuer Premierminister durch diese Tür schreiten.

Imago / Vudi Xhymshiti

Die neusten Entwicklungen:

  • In einer ersten Wahlrunde sind am Mittwochabend (13. 7.) zwei konservative Abgeordnete aus dem Rennen um die Nachfolge von Premierminister Boris Johnson ausgeschieden. Sowohl der frühere Aussenminister Jeremy Hunt als auch der aktuelle Finanzminister Nadim Zahawi haben das nötige Minimum an 30 Stimmen nicht erreicht, erklärte Sir Graham Brady, der Präsident des 1922-Committees der Konservativen am Mittwoch. Beide Kandidaten gelten als politische Schwergewichte in der Partei. Die Parlamentarier der Torys haben in geheimer Wahl je eine Stimme an einen Kandidaten aus einem Feld von acht Personen abgeben können. Die nächste Wahlrunde mit sechs Kandidaten ist für Donnerstagnachmittag angesetzt. Der Kandidat mit den wenigsten Stimmen wird dabei ausscheiden.
  • Am Mittwochnachmittag (13. 7.) sind die Abgeordneten der Torys zu einer ersten Abstimmungsrunde zusammengekommen. In geheimer Abstimmung haben die gut 350 konservativen Parlamentarier aus einem Kandidatenfeld von acht potenziellen Nachfolgern für das Amt des Premierministers ihre Stimme abgeben können. Das Resultat der ersten Abstimmungsrunde wird um 18 Uhr (MESZ) erwartet. Der Kandidat mit den wenigsten Stimmen scheidet aus.
  • Die britische Regierung wird am Montag (18. 7.) eine Vertrauensabstimmung über sich selbst abhalten. Das berichtete die BBC am Mittwoch (13. 7.). Ein Versuch der oppositionellen Labour-Partei, eine solche Abstimmung herbeizuführen, war abgelehnt worden, nachdem die Minister gegen den Wortlaut des Antrags protestiert hatten. Boris Johnson hatte erklärt, dass er zurücktreten werde, sobald die Konservative Partei einen neuen Regierungschef gewählt habe, aber die Labour-Partei wollte ihn per Misstrauensvotum zwingen, sofort zurückzutreten. Die Regierung blockierte den Versuch mit der Begründung, Johnson solle bei einem entsprechenden Votum unberücksichtigt gelassen werden.

Was ist passiert?

Grossbritannien befindet sich in einer Regierungskrise. Am Donnerstag, 7. Juli, erklärte Boris Johnson, dass er den Parteivorsitz niederlege. Damit ist Johnson in Kürze auch sein Amt als Premierminister los. Zuvor hatten sich die Rücktritte seiner Kabinettsmitglieder und anderer hochrangiger Tory-Politiker überschlagen: Über 50 Minister, Staatssekretäre und weitere Angestellte haben ihre Rücktritte eingereicht:


Wie geht es nun weiter?

Bereits kurz nach der Ankündigung Johnsons, als Parteichef der Torys zurückzutreten, haben mehrere Abgeordnete der Konservativen erklärt, die Nachfolge als Parteichef und damit auch als zukünftiger Premierminister antreten zu wollen. Bis zum 5. September, dem Ende der parlamentarischen Sommerpause in Grossbritannien, soll ein neuer Parteichef feststehen, der dann auch die Nachfolge als neuer Premierminister antreten wird. Diese Person wird jedoch nicht durch Neuwahlen ins Amt gewählt, sondern durch eine parteiinterne Ausmarchung entschieden.

Keine Erfahrung als Minister, dafür aber ein erfahrener Aussenpolitiker. Tom Tugendhat wird von vielen als ruhige, unverbrauchte und kompetente Alternative zu langjährigen Parteigranden angesehen.

Keine Erfahrung als Minister, dafür aber ein erfahrener Aussenpolitiker. Tom Tugendhat wird von vielen als ruhige, unverbrauchte und kompetente Alternative zu langjährigen Parteigranden angesehen.

Toby Melville / Reuters

Welche Kandidaten stehen zur Wahl?

Sechs Kandidaten stehen sich in der zweiten Runde gegenüber:

  • Rishi Sunak, ehemaliger Schatzkanzler
  • Tom Tugendhat, Präsident der aussenpolitischen Kommission
  • Penny Mordaunt, Staatssekretärin für Aussenhandel
  • Liz Truss, Aussenministerin
  • Suella Braverman, Generalanwältin
  • Kemi Badenoch, Staatssekretärin für Gleichstellungsfragen

Ausgeschiedene Kandidaten:

  • Jeremy Hunt, früherer Aussenminister (ausgeschieden in der ersten Runde)
  • Nadim Zahawi, Schatzkanzler (ausgeschieden in der ersten Runde)
  • Sajid Javid, ehemaliger Gesundheitsminister (Kandidatur zuvor zurückgezogen)
  • Rehman Chishti, Staatssekretär im Aussenministerium (Kandidatur zuvor zurückgezogen)
  • Grant Shapps, Verkehrsminister (Kandidatur zuvor zurückgezogen)

Überraschend nicht kandidiert haben:

  • Ben Wallace, Verteidigungsminister
  • Priti Patel, Innenministerin

Was sind die zentralen Wahlversprechen der Kandidaten?

Im Rennen haben sich die Kandidaten gegenseitig mit Versprechungen überboten. Zahawi etwa stellte neben Steuersenkungen und drastischen Budgetkürzungen von Ministerien den Bau von 100 Schulen in Aussicht. Auch andere Kandidaten erklärten, drastische Steuersenkungen oder höhere Verteidigungsausgaben würden zu ihrem zentralen Programm gehören.

Einen etwas anderen Ton schlug nur Sunak an. Er erklärte, er wolle an die Tradition von Ex-Premierministerin Margaret Thatcher anknüpfen und Steuern «verantwortungsvoll» senken. «Man muss zuerst verdienen, was man ausgibt», sagte er. Kaum angesprochen wurden bisher der Klimawandel, die Inflation und die immer stärker werdende Armut in Grossbritannien.

Wie funktioniert die Wahl des neuen Premierministers?

In Grossbritannien ist der jeweilige Parteichef der wählerstärksten Partei automatisch Premierminister – vorausgesetzt, er kann eine Regierung bilden. Im Normalfall geschieht dies durch die Parlamentswahl, die alle fünf Jahre stattfindet. Wird, wie in der gegenwärtigen Situation, jedoch der Parteichef der regierenden Partei in einer laufenden Legislatur ausgetauscht, finden keine Neuwahlen statt. Es sind zuerst die Parlamentarier der Partei und danach die Parteimitglieder, die den neuen Parteichef und damit den nächsten Premierminister wählen.

Der ehemalige britische Finanzminister Rishi Sunak, hier beim Verlassen der Downing Street 11, der offiziellen Residenz des Schatzkanzlers, gilt als möglicher Favorit im Rennen um das Amt des Premierministers.

Der ehemalige britische Finanzminister Rishi Sunak, hier beim Verlassen der Downing Street 11, der offiziellen Residenz des Schatzkanzlers, gilt als möglicher Favorit im Rennen um das Amt des Premierministers.

Imago / Tayfun Salci

In der Suche um einen Johnson-Nachfolger hatten zuerst elf Politiker ihre Kandidatur bekanntgegeben. Um die Kandidatur jedoch beim einflussreichen 1922-Committee der Konservativen Partei, das die Wahl organisiert, einreichen zu können, ist die Unterstützung von 20 Abgeordneten notwendig. Am Ende der Bewerbungsfrist am Dienstag, 12. Juli, um 18 Uhr britischer Zeit waren daher noch acht Personen im Rennen. Drei Kandidaten hatten zuvor von sich aus ihren Rückzug erklärt und ihre Unterstützung anderen Kandidaten zugesprochen.

Am Mittwochabend (13. 7.) stand der erste Wahlgang an. Die Abgeordneten der Partei geben ihre Stimme einem der Kandidaten. Um es überhaupt eine Runde weiter schaffen zu können, sind mindestens 30 Stimmen notwendig. Der Kandidat mit den wenigsten Stimmen scheidet aus. In verschiedenen Abstimmungsrunden, die sich über mehrere Tage erstrecken, wird das Kandidatenfeld in jeweils geheimer Wahl so auf zwei Kandidaten reduziert. Dieser Prozess sollte spätestens am Freitag, 22. Juli, abgeschlossen sein.

Die zwei verbleibenden Kandidaten treten dann gegeneinander an und werden nach einem kurzen, aber intensiven Wahlkampf von gut einem Monat von den rund 160 000 Parteimitgliedern der Konservativen Partei in einer Urabstimmung per Briefwahl zum neuen Parteichef und damit zum nächsten Premierminister des Landes gewählt. Das Resultat soll am Montag, 5. September, bekanntgegeben werden – dem Ende der parlamentarischen Sommerpause. Zu diesem Zeitpunkt soll dann auch Premierminister Boris Johnson seinen Posten räumen und die Schlüssel zur Downing Street 10, dem britischen Regierungssitz, an seinen Nachfolger übergeben. Der neue Premierminister übernimmt das Amt direkt. Er muss keine vorgezogenen Neuwahlen ausrufen, hat aber die Befugnis, dies zu tun.

Zentrale Wohnung mit Katze sucht Nachmieter: Am 5. September zieht ein neuer Premierminister in die Downing Street 10 ein.

Zentrale Wohnung mit Katze sucht Nachmieter: Am 5. September zieht ein neuer Premierminister in die Downing Street 10 ein.

Toby Melville / Reuters

Ein Bewohner der Downing Street bleibt übrigens auch bei einem Premierministerwechsel weiter an der Adresse wohnen: Larry the Cat, also Larry die Katze. Der «Chief Mouser of the Cabinet Office», so sein offizieller Titel, übersetzt etwa Chef-Mausjäger des Kabinetts, ist seit seiner Festanstellung als Mausjäger im Februar 2011 faktisch der einzige permanente Bewohner der Downing Street – Larry bleibt, Premierminister jedoch kommen und gehen.

Warum dürfen nur die Parteimitglieder entscheiden, nicht aber alle Wahlberechtigten des Landes?

Der Grund dafür ist einfach. Im Gegensatz etwa zu den USA oder Frankreich hat Grossbritannien kein Präsidialsystem. Die Bevölkerung wählt alle fünf Jahre ein neues Parlament. Jede Partei, ob grosse staatstragende oder kleine regionale, stellt pro Wahlkreis einen Kandidaten. Auch der Premierminister stellt sich in seinem Wahlkreis zur Wiederwahl. Denn er ist, wie auch sein gesamtes Kabinett, ein Abgeordneter eines Wahlkreises. Natürlich spielen der Erfolg und der Ruf eines Premierministers eine wichtige Rolle in der Wahl. Skandale und Misserfolge können schnell eine Wahlniederlage bedeuten.

Trotzdem: In erster Linie wählen die Britinnen und Briten nicht einen neuen Premierminister, sondern ihren Abgeordneten des jeweiligen Wahlkreises. Der Parteichef mit den meisten Abgeordneten im Parlament erhält dann von Queen Elizabeth II. den Auftrag zur Regierungsbildung und wird dadurch Premierminister.

Genau aus diesem Grund darf bei einer Neubesetzung des Postens des Parteichefs auch nicht die gesamte Stimmbevölkerung entscheiden, sondern nur die Mitglieder der Partei. Theoretisch hätte der neue Premierminister aber die Möglichkeit, Neuwahlen auszurufen, um sich bei einem Wahlsieg dadurch eine breitere Basis zu verschaffen. Dies passierte etwa 2019, als Boris Johnson durch parteiinterne Wahl die Nachfolge von Theresa May angetreten hatte. Durch einen Wahlsieg und eine Mehrheit von über 80 Abgeordneten im Parlament sicherte sich Johnson so eine Basis, von der aus er das Land führen konnte.

Könnte man nicht einfach kurzfristig Parteimitglied werden, um doch noch mitentscheiden zu dürfen?

Diese Möglichkeit hat es früher durchaus gegeben. In der Wahl um die Nachfolge von Theresa May (die Boris Johnson gewonnen hat) hat etwa der moderate Tory-Abgeordnete Rory Stewart Freunde, Unterstützer und Bekannte davon überzeugen können, der Konservativen Partei beizutreten, um ihn so in der Spitzenkandidatenwahl unterstützen zu können. Stewart schaffte es dann jedoch nicht in die letzte Runde und schied aus, noch bevor es zur Urwahl durch die Parteimitglieder kam. Die neuen Mitglieder hätten danach nicht gleich sofort wieder austreten können, sondern zuerst eine Jahresgebühr bezahlen müssen.

Die Parteiführung hatte daher bereits zu Beginn des laufenden Wahlkampfs erklärt, dass man die Zahl der Parteieintritte kontrollieren wolle, um so missbräuchliche Eintritte zu verhindern, die nur dazu da seien, um die Wahl zu beeinflussen. Neue Parteimitglieder, die die Jahresgebühr von 25 Pfund bezahlt haben, erhalten so etwa erst nach drei Monaten eine Stimme bei parteiinternen Wahlen und Abstimmungen. Die Zahl der Mitglieder der Partei bewegt sich in der Regel konstant zwischen 150 000 und 160 000 Personen. Viele von ihnen sind eher in fortgeschrittenem Alter und gelten generell als konservativer als gewisse Parlamentarier der Partei.

Was macht Boris Johnson bis zur Wahl seines Nachfolgers?

Nach einer Reihe von Skandalen hatte Boris Johnson keine Möglichkeit mehr, sich an der Macht zu halten. Entsprechend war ein Rücktritt unausweichlich. Jedoch geht der Rücktritt gewissen Politikern, vor allem nach Ansicht der Opposition, zu langsam. Dass Johnson bis Anfang September als geschäftsführender Regierungschef im Amt bleiben soll, ist vielen ein Dorn im Auge. Kritiker fordern weiterhin einen sofortigen Ersatz-Premierminister, der das Amt des Regierungschefs kommissarisch bis Anfang September innehat.

Premierminister Boris Johnson zusammen mit dem kenyanischen Präsidenten Uhuru Kenyatta im Garten des Landsitzes Chequers in der Ortschaft Aylesbury.

Premierminister Boris Johnson zusammen mit dem kenyanischen Präsidenten Uhuru Kenyatta im Garten des Landsitzes Chequers in der Ortschaft Aylesbury.

Wpa Pool / Getty Images

Ob nun ein kommissarischer Ersatz oder Johnson als geschäftsführender Premierminister: Viel wird sich in den kommenden Wochen sowieso nicht tun. Das Parlament verabschiedet sich am 21. Juli für sechs Wochen in die Sommerpause. Abgeordnete, Staatssekretäre und Minister sind in den Ferien. Auch der Premierminister selber wird von den verbleibenden Wochen einen Grossteil nicht mehr an der Downing Street, sondern auf Chequers, dem sich in Staatsbesitz befindenden Landsitz des Premierministers, verbringen.

Neue Gesetze können in der Zwischenzeit daher nur in sehr beschränktem Ausmass erlassen werden. Diverse Tory-Abgeordnete forderten Johnson jedoch wiederholt dazu auf, das Amt des Premierministers sofort ruhen zu lassen. Auch, weil die Partei in Umfragen mittlerweile deutlich hinter der Opposition liegt und sich Johnsons Beliebtheitswerte seit Mitte des vergangenen Jahres ebenso auf Talfahrt befunden haben.

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Brian Smith / Reuters

Mit Agenturmaterial.

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