Schnellcheck Quali-Blamage: So wird die EM ein Debakel

Wenn selbst der 65. der Welt eine Nummer zu groß ist: Nordmazedonien zeigt, wie mit kompakter Verteidigung und zielstrebigem Konterspiel das DFB-Team einfach zu besiegen ist. Jogi Löws Mannschaft findet null offensive Lösungen, eine Blamage im Sommer bahnt sich an.

Was ist in der Schauinsland-Reisen-Arena passiert?

Drei Siege aus drei WM-Qualifikationsspielen sollten her. Das erste Spiel gegen Island gewann die deutsche Fußball-Nationalmannschaft deutlich. Es folgte ein knapper Erfolg über Rumänien, bei dem das Team etliche Chancen liegen ließ. Nun ging es gegen Nordmazedonien. Zum ersten Mal überhaupt. Der 92. Gegner der DFB-Historie wurde auch gleichzeitig zum letzten in einem WM-Qualifikationsspiel für Joachim Löw, soviel war vorher klar.

In seinem 192. Länderspiel wollte der Bundestrainer eine unglaubliche Serie bestätigen: In den 32 WM-Qualispielen zuvor hatte er kein einziges Mal verloren. Die beeindruckende Bilanz: 29 Siege und drei Remis gab es vor den Endrunden in Südafrika 2010, Brasilien 2014, Russland 2018 und nun Katar 2022. Doch, das prophezeite Löw vorher, die große Unbekannte Nordmazedonien “wird für uns ein Kraftakt”, nachdem er sich “intensiv” mit der Mannschaft beschäftigt hatte.

Damit sollte er Recht behalten – aber einen Sieg stellte vor der Partie niemand in Frage. Nur wer das DFB-Team auf die Siegerstraße führen sollte, stand noch nicht fest. Nachdem im ersten Spiel gegen Island Leon Goretzka und Kai Havertz trafen, zeigte gegen Rumänien Serge Gnabry, warum er einer der besten Offensivakteure im DFB-Team ist. 15 Tore in 19 Länderspielen: Nur der legendäre Gerd Müller hatte eine bessere Quote. Seit der WM 2018 sammelte Gnabry in 17 Länderspielen 18 Torbeteiligungen für die Nationalelf. Das sind mindestens 8 Torbeteiligungen mehr als jeder andere Spieler. Die Hintermannschaft sah diesmal leicht verändert aus. Torhüter Marc-Andre ter Stegen bekam eine Chance (Löw: “Eine Pause tut Manuel Neuer sicherlich mal gut.”) und Robin Gosens rückte nach auskurierter Verletzung in die Startelf. Emre Can blieb allerdings auf links hinten, Gosens positionierte Löw vor ihm und stellte überraschend auf eine Dreierkette um. Die Spielführerbinde bekleidete diesmal den Arm von İlkay Gündoğan.

Nach dem Video-Debakel sendete die Mannschaft diesmal wieder einen selbstgemalten Protest für Menschenrechte und gegen Katar. Die Startelf rollte ein Plakat aus, auf dem Stand: “Wir für 30”. Gemeint waren damit die 30 Artikel der Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen. Auf der Tribüne klatschte DFB-Präsident Fritz Keller Beifall.

Dann ging es los – und der Beifall verebbte schnell. Alles kam anders, als Löw und sein Team es sich vorgenommen hatten. Keiner der Kicker führte die DFB-Elf auf die Siegerstraße. Sondern sie verlor blamabel gegen den 65. der Weltrangliste. Kaum Druck, kein Elan, schlechte Verwertung der wenigen Torchancen, Fehler hinten wie vorne: In dieser Form wird es bei der Europameisterschaft im Sommer ganz schwer. Oder eher eine noch größere Blamage. Denn dann warten – bei allem Respekt für starke Nordmazedonier – die Hochkaräter Frankreich und Portugal. Und schließlich waren die Qualispiele zu den letzten ernstzunehmenden Tests vor der EM auserkoren worden. Löws letztes WM-Qualispiel wurde nun aber gleichzeitig das erste, das er verlor. Und die Tabellenführung in der Qualifikation für das Turnier in Katar übernahm Armenien. Der 99. der Weltrangliste.

Schema

Deutschland: ter Stegen/FC Barcelona (28 Jahre/25 Länderspiele) – Ginter/Borussia Mönchengladbach (27/38) ab 89. Musiala/Bayern München (18/2), Rüdiger/FC Chelsea (28/40), Can/Borussia Dortmund (27/33), Gosens/Atalanta Bergamo (26/5) ab 56. Younes/Eintracht Frankfurt (27/8) – Kimmich/Bayern München (26/53), Goretzka/Bayern München (26/32) – Sane/Bayern München (25/28), Havertz/FC Chelsea (21/13) ab 56. Werner/FC Chelsea (25/38), Gündogan/Manchester City (30/45) – Gnabry/Bayern München (25/20).

Nordmazedonien: Dimitrievski/Rayo Vallecano (27/40) – Ristovski/Dinamo Zagreb (29/63), Velkovski/HNK Rijeka (25/27), Musliu/Fehervar FC (26/29) – Nikolov/US Lecce (26/32) ab 59. Bejtulai/Tetovo (27/19), Alioski/Leeds United (29/42) ab 90. Ristevski/Ujpest Budapest (30/45) – Bardhi/UD Levante (25/34), Ademi/Dinamo Zagreb (29/23), Elmas/SSC Neapel (21/25) – Pandev/CFC Genua (37/117) ab 90. Stojanovski/FC Chambly (23/8), Trajkovski/RCD Mallorca (28/63) ab. 72. Spirovski/AEK Larnaka (30/39).

Schiedsrichter: Sergej Karassew (Russland)

Tore: 0:1 Pandev (45.+2), 1:1 Gündogan (63., Foulelfmeter), 1:2 Elmas (85.)

Zuschauer: keine

Spielfilm

3. Minute: Das Spiel findet hauptsächlich in der nordmazedonischen Hälfte statt, hinten sichert Antonio Rüdiger ab. Mazedonien steht tief mit Fünferkette, presst aggressiv und lauert auf Konter, die DFB-Elf kann sich noch nicht entfalten.

5. Minute: Gnabry verpasst am Fünfmeterraum einen feinen langen Ball von Ginter nur knapp. Eine erste Halbchance.

9. Minute: Kai Havertz zieht stark in den Strafraum auf rechts und legt in die Mitte zu Leon Goretzka, der völlig humorlos abzieht: Der Ball klatscht lautstark an die Latte. Die erste richtige Chance.

17. Minute: Der deutschen Nationalmannschaft fehlen noch die zündenden Ideen. Viel spielt sich vor dem Strafraum der Nordmazedonier ab, aber wenig darin. Tiefe Läufe hinter die Abwehrreihe bringen die Männer von Jogi Löw hier noch nicht auf den Rasen.

24. Minute: Nordmazedonien setzt sich mal kurz am Strafraum der Deutschen fest. Eine Chance springt dabei zunächst nicht heraus. Bei einem scharfen Ball an den Fünfmeterraum kann Can dann gerade noch klären.

27. Minute: Havertz führt einen Freistoß im Mittelfeld gedankenschnell zu Sané aus, der direkt auf Gnabry passt. Der Torschütze aus dem Rumänien-Spiel dribbelt sich in den Strafraum, scheitert aber mit seinem Flachschuss an Keeper Stole Dimitrievski.

30. Minute: “That’s embarassing” (“Das ist lächerlich”), ruft Sané seinem Gegenspieler zu, als dieser nach einem leichten Kontakt zu Boden geht.

31. Minute: Gosens flankt nach einem tollen langen Diagonalball von Rüdiger in den Strafraum. Goretzka legt überlegt auf Gnabry ab, aber der Stürmer knallt den Ball aus kurzer Entfernung über die Latte. Nur Sekunden danach spielt Rüdiger einen erneuten Flankenwechsel auf Gosens, dessen tolle Direktabnahme Havertz aber vertändelt. Wieder ungenutzte Großchancen!

Altmeister Pandev traf zur Führung.

(Foto: imago images/ULMER Pressebildagentur)

35. Minute: Zu viel Klein-Klein: Gnabry, Kimmich und Gündoğan dribbeln sich im Strafraum fest, ein Abschluss springt nicht heraus.

40. Minute: Auf einmal muss ter Stegen seine Reaktionsschnelligkeit unter Beweis stellen: Ein Freistoß von rechts rauscht an allen im Strafraum vorbei aufs Tor, der Barcelona-Keeper pariert gerade noch so.

45. Minute + 1: Toooooooooooooor für Nordmazedonien. 0:1 Pandev. Natürlich Goran Pandev, der Rekordnationalspieler. Nordmazedonien kann relativ unbehelligt von links in den Strafraum flanken. Dort behindern sich Goretzka und Gosens gegenseitig, der Ball kommt zum in der Mitte frei wartenden Pandev, der nur noch einschieben braucht. Die kalte Dusche für die DFB-Kicker direkt vor der Pause!

Halbzeit

47. Minute: “Tempo jetzt”, ruft Löw von der Seitenlinie rein. Wie geht seine Mannschaft mit dem Rückstand um?

54. Minute: Die DFB-Elf versucht, den Druck zu erhöhen. Nach wie vor gibt es aber kein Durchkommen.

56. Minute: Löw gefällt nicht, was er sieht, und wechselt doppelt: Timo Werner und Armin Younes kommen für Havertz und Gosens.

63. Minute: Tooooooooooooooor für Deutschland. 1:1. Gündoğan. Werner nimmt links Fahrt auf und spielt zu Goretzka, der direkt weiter auf Sané im Strafraum passt. Der Flügelstürmer geht ins Dribbling und wird nach einer Körpertäuschung gelegt. Dabei nimmt er einen sehr leichten Kontakt aber dankend an, doch die Entscheidung steht und es gibt keinen VAR: Elfmeter. Kapitän Gündoğan übernimmt Verantwortung und verwandelt eiskalt in die Mitte. Das war der erste Torschuss in der zweiten Hälfte.

66. Minute: Nordmazedonien zeigt sich vom Ausgleich nicht gezeichnet und kontert Deutschland aus. Gündoğan kann gerade noch einen Abschluss blocken und zur Ecke klären.

73. Minute: Über Sané und etwas Glück kommt Kimmich in der Nähe des Elfmeterpunktes ziemlich frei an den Ball. Es dauert aber etwas mit dem Abschluss, sein Schuss wird geblockt. Da war mehr drin!

77. Minute: Deutschland im Glück: Nach eine Ecke geht Can klar mit dem Arm zum Ball. Das muss Elfmeter geben, der Pfiff bleibt aber aus. Die Nordmazedonier protestieren vergeblich.

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Timo Werner vergab und wollte sich danach verkriechen.

(Foto: imago images/ULMER Pressebildagentur)

80. Minute: Ausgleichende Gerechtigkeit? Gündoğan bricht endlich mal durch die Abwehrkette und sprintet aufs Tor zu. In der Mitte sieht er den völlig freistehenden Werner, sein Pass kommt an – aber Werner vergibt fast schon kläglich alleine vor dem Torwart.

85. Minute: Tooooooooooooooor für Nordmazedonien. 1:2 Elmas. Eine lange Ballbesitzphase der Nordmazedonier kann die DFB-Elf nicht unterbrechen. In der Mitte ist Eljif Elmas eine gefühlte Ewigkeit frei, weder Kimmich noch Younes fühlen sich für ihn verantwortlich. Der Mittelfeldspieler erhält schließlich einen Rückpass und schießt überlegt ein. Die komplette Mannschaft rastet vor Freude aus!

90. Minute: Geht hier noch mal was? Es gibt sechs Minuten Nachspielzeit.

Die Antwort lautet: nein.

Abpfiff.

Was war gut?

Nordmazedonien. Ganz einfach. Konzentriert, kompakt und gut organisiert ging die Mannschaft über 90 Minuten zu Werke. Dabei agierte sie mit einer positiv aggressiven Emotionalität, mehrere Spieler forderten nach Ballgewinn stets direkt das Spielgerät. Außerdem kommunizierten die Südosteuropäer weitaus lautstärker als die Deutschen auf dem Rasen (“Bravo, bravo”, schallte es immerzu über den Platz) und überzeugten mit Geschick und enge Ballführung. Konter- oder Überzahlchancen der DFB-Elf unterbrachen sie immer wieder geschickt mit kleinen Fouls. Die Disziplin ging dem Team das komplette Spiel über nicht ab.

Was war schlecht?

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Nach dem Tor zum 2:1 kannte die Mannschaft Nordmazedoniens kein Halten mehr.

(Foto: imago images/Team 2)

“Bei der Chancenauswertung haben wir Verbesserungspotenzial”, sagte Löw vor dem Spiel. Was schon gegen Rumänien problematisch war, sollte sich auch gegen Nordmazedonien bewahrheiten: Vier gute Möglichkeiten ließ die DFB-Elf allein in der ersten Hälfte liegen. Goretzka hatte bei seinem Lattenschuss Pech, Gnabry schloss zu unüberlegt ab, als er den Ball über das Tor jagte. Aber insgesamt spielte sich Löws Team zu wenig Torchancen heraus, gab im ganzen Spiel nur zwei Schüsse auf das Tor ab. Hier muss sich Löw unbedingt etwas einfallen lassen, denn auch wenn Frankreich und Portugal offensiver spielen als Nordmazedonien, ihre Defensiven sind gewiss nicht schlechter. Auch der Elfmeter für Sané, der zum einzigen Tor führte, war eher schmeichelhaft. Diesmal wackelte allerdings auch die Defensive wieder, als wäre noch 2020: Bei beiden Gegentoren gab es klare Abstimmungsschwierigkeiten, Löws Umstellung auf die Dreierkette glückte nicht.

Die Mannschaft fand nur selten ein Mittel gegen die tiefe und eng und kompakt stehende Defensive des Gegners und hatte am Ende noch Glück, dass ein klarer Handelfmeter (Emre Can) nicht gepfiffen wurde. Wenn dann führten Einzelaktionen oder Flanken zu Möglichkeiten, auskombiniert wurden die Nordmazedonier nie. Wenn so etwas nur gegen Island gelingt, dann wissen die EM-Gegner bereits, wie sie die Deutschen schlagen können. Tiefe Läufe hinter die Abwehrreihe, Läufe bis zur Grundlinie, brachten die Männer von Jogi Löw fast gar nicht auf den Rasen (Ausnahme: Gosens zweimal). Hier stellte sich auch die Frage, warum der Bundestrainer nicht schon vor dem Spiel an der Aufstellung gewerkelt hatte und etwa Younes und Werner nicht von Beginn an brachte. Allein schon wegen ihrer Frische.

Denn, so erklärte der Bundestrainer vor Anpfiff: “Gestern hatten einige schwere Beine.” Das war schon ab Mitte der ersten Hälfte sichtbar. Bereits da hätte man reagieren können. Das Passtempo verflachte, vor allem Kimmich ging unter und kam nicht zur Entfaltung. Sané ging kaum tief, auch weil er diesmal über rechts kam. Die Mannschaft wirkte müde, etwas schlapp, genervt und behäbig. Die vielzitierten “Basics” (Intensität, Tempo, Zielstrebigkeit), die Löw unbedingt “festigen” wollte, brachte die Nationalelf nur ganz am Anfang beider Halbzeiten mal auf den Platz. Der Bundestrainer hatte extra gewarnt, man müsse “die Konzentration hochhalten auch im dritten Spiel”. Davon war aber fast gar nichts zu sehen.

Das sagten die Beteiligten

Joachim Löw: “Wir sind riesig enttäuscht nach diesem Spiel, nach dieser Niederlage. Wir haben nicht zu unserem Spiel gefunden. Es war ein Rückschlag. Wir hatten nicht das Tempospiel, nicht die schnellen Ballpassagen. Es gab viele Abspielfehler. Wir haben keine Mittel gegen tief stehende Nordmazedonier gefunden. Wir sind zudem in Konter gelaufen und hatten dabei keinen Zugriff.”

“Wir hatten nicht die Dynamik und Spritzigkeit. Man hatte das Gefühl, dass eine gewisse Müdigkeit vorhanden ist. Das Problem war, dass die einzelnen Spieler zu lange am Ball waren. Das ging zu langsam. Wir werden uns in den nächsten Tagen und Wochen intensiv Gedanken machen. Wir werden noch einmal alles überprüfen.”

İlkay Gündoğan: “Fakt ist, dass das nicht passieren darf. Gefühlt waren sie zweimal vor unserem Tor und haben zweimal getroffen, das ging zu leicht. Wir hatten Chancen und haben nur ein Tor erzielt. Wir sahen bei beiden Gegentoren nicht gut aus. Zweimal steht ein Mann in der Mitte völlig frei. Das ist nicht unser Anspruch, und es ist nicht zu erklären. Ich verlasse die Mannschaft mit keinem guten Gefühl. Umso mehr tut es weh, dass zwei Monate nicht viel passieren wird. Wir müssen bis Ende Mai in Topform kommen und uns auf das Turnier vorbereiten.”

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