Ich komme nach Hause. Im Treppenhaus treffe ich meinen Nachbarn. “Nati ist heute Abend nicht da”, sagt er zu mir, “Lust auf ein Glas Wein?”. “Klar!”, sage ich und begleite ihn in seine Wohnung. Zum Weintrinken kommen wir allerdings nicht …
Sexfantasien: Lass! Sie! Zu!
NIEMALS würde ich in Wirklichkeit mit meinem Nachbarn ins Bett steigen und damit meine Nachbarin hintergehen, niemals. Doch in meiner Vorstellung, das gebe ich zu, habe ich es schon getan.
Als Menschen haben wir sie alle, diese wunderbare Zauberkraft namens Fantasie. Sie gibt uns die Möglichkeit, Szenarien zu erschaffen und durchzuspielen, ohne dass sie in der Realität stattfinden müssen. Das wiederum hat nicht nur Vorteile für Herausforderungen wie Zukunftsplanung, Entscheidungsfindung und die Vorbereitung auf Bewerbungsgespräche. Im besten Fall können wir mithilfe unserer Vorstellungskraft sogar unsere Sehnsüchte befrieden.
“Unser Gehirn unterscheidet weniger zwischen gedachten und gemachten Erfahrungen, als man vielleicht vermuten würde, was zum Beispiel auch in der Hypnose einer der großen Wirkmechanismen ist”, so die Hamburger Sexualwissenschaftlerin und -therapeutin Anja Drews. Stellen wir uns etwas mit vollem Einsatz vor, können wir damit im Idealfall auch unsere Gefühle und Emotionen triggern. Und dann ist es fast, als hätten wir unsere Vorstellung wirklich erlebt – nur dass wir unserer Nachbarin gegenüber kein schlechtes Gewissen haben müssen …
Sexfantasien: Wofür sind sie gut?
Abgesehen davon, dass wir mithilfe unserer Fantasie auf Wünsche und Sehnsüchte eingehen können, ohne diese in Wirklichkeit und mit all ihren Konsequenzen durchleben zu müssen, sprechen noch weitere Argumente dafür, Sexfantasien zuzulassen. Um nur drei zu nennen …
1. Sexfantasien steigern unsere Lust.
“Manche Paare, mit denen ich arbeite, tauschen sexuelle Fantasien miteinander aus oder entwickeln gemeinsame und nutzen sie so als Quelle ihrer Lust”, sagt Anja Drews. Unsere Fantasien können uns, etwa als Element beim Vorspiel, dabei helfen, in Stimmung zu kommen sowie unsere Auf- und Erregung zu steigern. Manche Menschen brauchen sich z. B. nur vorzustellen, sie würden beim Sex beobachtet oder es könnte jemand hereinplatzen, und schon schießt ihr Adrenalinspiegel in die Höhe und sie sind so richtig heiß. Andere wiederum malen sich aus, sie hätten einen achtarmigen Tintenfisch im Bett … Egal, was wir uns im einzelnen vorstellen, Sexfantasien können unser sexuelles Erlebnis um einiges prickelnder machen und bereichern.
2. Sexfantasien lösen Blockaden.
Wer beim Sex dazu neigt zu verkrampfen und Probleme hat, sich fallen zu lassen, oder sich schwer damit tut, die eigene Komfortzone zu verlassen und etwas Neues auszuprobieren, kann solche Blockaden oftmals etwas lockern oder sogar lösen, indem er seine Fantasien bewusster zulässt und weiterspinnt. Eigentlich logisch: Sexuelle Hemmungen und Scham entstehen schließlich vorwiegend durch gewisse Vorstellungen in unserem Kopf, also können wir dort auch ansetzen, um sie abzubauen.
3. Sexfantasien inspirieren.
Manchmal können uns Sexfantasien inspirieren und Ideen für die Praxis geben, auch wenn wir sie in Wirklichkeit gar nicht eins zu eins ausleben möchten. Beispiel Vergewaltigungsfantasie: Natürlich möchte niemand vergewaltigt werden, doch einige Frauen haben diese Fantasie. Oft spielt bei Betroffenen dann das Gefühl der Angst eine große Rolle. Angst hat auf uns eine ähnliche Wirkung wie Erregung, daher kann sie Lust und sexuelles Erleben intensivieren. Wer also häufiger Vergewaltigungsfantasien oder Ähnliches hat, könnte vielleicht einmal Bondage, Spanking oder andere Spielarten von BDSM mit seinem Sexpartner ausprobieren. Nicht, dass das etwas mit Vergewaltigung zu tun hätte! Doch womöglich triggern solche Praktiken jene Angst, die einem in der Fantasie als reizvoll erschien …
Die häufigsten Sexfantasien von Männern und Frauen
Natürlich gibt es zum Thema Sexfantasien zahlreiche Umfragen und Statistiken, denn seien wir ehrlich: Wer möchte nicht gerne wissen, was in anderer Leute Köpfen vorgeht, gerade in Bezug auf Sex …? Klar quetschen Psychologen und Sexforscher ihre Probanden dazu aus! Allerdings müssen wir, wenn wir uns die Ergebnisse solcher Studien anschauen, immer im Hinterkopf behalten: Was Befragte über ihr Sexleben sagen und was sie wirklich denken und hinter verschlossenen Türen treiben, sind zwei verschiedene Paar Handschellen. Außerdem: “Sexuelle Fantasien sind individuell, konkret und oft sehr differenziert”, so die Sexualtherapeutin. “Im Grunde haben somit keine zwei Menschen genau die gleiche Fantasie.”
Insofern gilt für die folgenden Top 5 Sexfantasien von Männern und Frauen: Sie werden bei Befragungen zwar am häufigsten genannt bzw. ausgewählt, aber was sich wirklich und ganz genau in den Köpfen der Befragten abspielt, bleibt ihr Geheimnis …
Die 5 häufigsten Sexfantasien von Männern
- Flotter Dreier (Sex mit zwei Frauen)
- Sex mit einer Domina
- Anderen beim Sex zusehen
- Von anderen beim Sex beobachtet werden
- Sexpartner dominieren
Die 5 häufigsten Sexfantasien von Frauen
- Dreier oder Gruppensex (ggfs. mit doppelter Penetration)
- Sex mit einem Fremden
- Sex mit einer Frau
- Sex in der Öffentlichkeit
- Softe Gewalt
Sexfantasien: Wie gehe ich damit um?
Die wichtigste Frage zum Umgang mit Sexfantasien haben wir ja bereits beantwortet: Sie überhaupt erst einmal zuzulassen, ist definitiv sinnvoll und richtig! Denn abgesehen von den Vorteilen, die uns das bringen kann, birgt das Unterdrücken und Ignorieren von Fantasien genau wie von Gefühlen immer die Gefahr, dass sie uns eines Tages überrumpeln und unsere Freiheit in unseren Entscheidungen und unserem Tun beeinträchtigen. Doch es gibt noch mindestens zwei weitere wichtige Fragen zum Thema Sexfantasien …
1. Soll ich meine Sexfantasien mit meinem Partner teilen?
Sorry! Aber diese Frage pauschal zu beantworten, wäre sinnlos und falsch, so Anja Drews. “Es kann die Beziehung bereichern, sich miteinander über seine Fantasien auszutauschen”, sagt die Expertin. “Doch genauso kann es Eifersucht schüren, unangenehm sein und eine Mauer zwischen den Beteiligten errichten.”
Je nach Fantasie und Partner müssen wir wohl oder übel selbst entscheiden, wie wir vorgehen. Wahrscheinlich würde ich meinem Freund z. B. nicht davon erzählen, dass ich mir schon vorgestellt habe, mit unserem Nachbarn zu schlafen (ups …!). Dass ich in meiner Fantasie wiederum hin und wieder Sex mit Joaquin Phoenix habe, könnte ich mir vorstellen, ihm zu erzählen, wüsste allerdings nicht, was uns das bringen würde. Geht es allerdings um eine Fantasie, die ich tatsächlich gerne ausprobieren möchte, z. B. Bondage, erzähle ich meinem Partner natürlich davon und frage, wie er dazu steht.
Wer sich toootal unsicher ist, kann ja dem anderen den Vortritt lassen und ihn einfach mal fragen, wovon er so fantasiert. Oder du erzählst deinem Schatz die Fantasien einer Freundin der Freundin deiner Freundin und schaust, wie er reagiert …
2. Sind meine Fantasien dazu da, sie auszuleben?
Doppeltes Sorry! Aber auch diese Frage lässt sich nicht pauschal beantworten. Mit Sicherheit können wir nur sagen, dass Sexfantasien nicht grundsätzlich und in erster Linie dazu da sind, sie auszuleben – ähnlich wie wir nicht unseren Lebenstraum unbedingt eins zu eins umsetzen müssen, um glücklich zu werden. Bei völlig unrealistischen Fantasien wie Sex mit Außerirdischen ist klar, dass es sich lediglich um Hirngespinste handelt, die uns zusätzlich erregen oder inspirieren können. Bei Vorstellungen wie dem Techtelmechtel mit meinem liierten Nachbarn ist es wiederum schwieriger, zwischen Wunsch und Fantasie zu unterscheiden.
“In solchen Fällen sollte man die Fantasie möglichst konkret inklusive Konsequenzen durchspielen”, rät Anja Drews. Gegebenenfalls kann man auch erste Schritte einleiten, also ich könnte z. B. mal mit meinem Nachbarn flirten, um zu sehen, wie es sich anfühlt. Je nachdem ob sich dabei ein innerer Widerstand meldet oder ob der Reiz unserer Vorstellung größer wird, spüren wir, ob es sich um eine Fantasie oder einen Wunsch handelt.
Sexfantasien: 5 Tipps, sie anzuregen
Du hast gar keine oder nur “langweilige” Sexfantasien, hättest aber gerne welche bzw. abenteuerlichere? Für den Fall haben wir 5 Tipps, die deiner Kreativität auf die Sprünge helfen können.
1. In Bus und Bahn: Handy weg und Augen auf
Statt durch deinen Insta-Feed zu scrollen oder Nachrichten zu schreiben, such dir doch mal in Bus oder Bahn einen der Mitfahrgäste aus und stelle dir vor, wie es wäre, Sex mit ihm zu haben. Wetten, die Fahrt vergeht viel schneller als mit Blick aufs Handy …?
2. Alltagsgegenstände sexualisieren
Wie könntest du einen Kochlöffel an deinem Sexleben teilhaben lassen? Oder eine Fernbedienung? Denk mal drüber nach, dir fällt sicher etwas ein …
3. Lesen
Erotische Geschichten zu lesen regt die Fantasie viel mehr an, als Pornos zu schauen. Falls du also “50 Shades of Grey” bisher nur als Film kennst, weißt du, was du nächstes Wochenende zu tun hast …
4. Offener Austausch
Lad’ dir deine kreativste, verrückteste, offenste Freundin zum Mädelsabend ein und lass sie erzählen, was sie sexuell in ihrer Fantasie so alles erlebt. Falls sie gerade keine Zeit hat: Vielleicht findest du ja Inspiration in unserer Community.
5. Wenn alles möglich wäre …
Um herauszufinden, was die eigenen Träume sind, hilft es manchmal, sich vorzustellen, man wäre die Königin der Welt und hätte genug Geld, um alles zu tun, was man möchte. Oft sind es nämlich die Grenzen der Realität, die uns auch in unserer Fantasie einschränken. Um diese Grenzen im Bereich Sex zu überwinden, kannst du einfach mal versuchen, von der Grundlage auszugehen, alles wäre möglich. Na, wo führt dich dieser Gedanke hin …?
Anja Drews ist diplomierte Sexualpädagogin und -wissenschaftlerin sowie Sexualtherapeutin, systemischer Coach und Hypnotherapeutin. In ihrer Praxis in Hamburg bietet sie Beratung, Therapie und Coaching für Einzelpersonen und Paare an, außerdem sind Online-Sitzungen möglich. Mehr erfährst du auf ihrer Website.