Tausende leben in Mailand auf der Strasse

In Mailand gibt es Tausende, die auf der Strasse leben. Jedes Schicksal ist einmalig. Und trotzdem reicht es nicht, die einzelnen Geschichten zu erzählen.

Nach einer Reportage über einen Slum in Afrika begann der italienische Schriftsteller Giorgio Fontana in Mailand als Freiwilliger in der Obdachlosenhilfe zu arbeiten.

Roberto Gandola / Opale / Laif

T.s neue Zähne

Ich kenne T. seit ein paar Jahren, seit ich mich als Freiwilliger um Obdachlose in Mailand kümmere. T. spricht eine Mischung aus Italienisch und Rumänisch, was die Verständigung nicht ganz einfach macht. Ausserdem leidet er an psychischen Problemen. Er ist um die sechzig, seine Geschichte lässt sich kaum entwirren – wir wissen, dass er verheiratet war, einen Sohn hat und als Lastwagenfahrer arbeitete. Seit einiger Zeit schläft er vor einem geschlossenen Kiosk. Wie kam er dahin? So viel wir auch mit ihm reden, die Frage bleibt unbeantwortet. Klar, er hat seine Stelle verloren, vermutlich hat eine Krankheit alles noch verschlimmert, und die Sprachbarriere hat für den Rest gesorgt. Er verbringt seine Tage damit, seinen Schlafplatz sauber zu halten, Zigaretten zu schnorren, im Viertel herumzustreunen und mit sich selber zu reden. Menschen wie ihm hat unsere Gesellschaft wenig zu bieten.

Der Präsident unserer Organisation hat ihn vor ein paar Tagen zum Zahnarzt begleitet, da er ein neues Gebiss erhalten sollte. Wir hoffen, dass er es dieses Mal auch wirklich benutzt und nicht aus Versehen zerbricht, wie es zuletzt geschehen ist. Auf dem Rückweg hätte T. sich auch noch um die Verlängerung seines Reisepasses bemühen sollen, aber er wollte nicht ins rumänische Konsulat gehen. Der Präsident hat ihn ermahnt, denn im Juli muss er das Visum erneuern, es half nichts. Warum? Keine Ahnung.

Man könnte T. für einen typischen Fall halten. Aber ich möchte das Adjektiv vermeiden. Die Einschätzung «typisch» entspringt einem oberflächlichen Blick und klischierten Bildern, die selbst in unseren NGO-Kreisen verbreitet sind: Ein Obdachloser ist demnach ein etwas seltsamer Mann, der mal hier und mal dort schläft, einen langen Bart hat und eine Weinflasche mit sich herumträgt. Der Gemeinplatz löscht die Komplexität des einzelnen Lebens aus.

Wir besuchen die Obdachlosen regelmässig abends, wir versorgen sie mit Essen, warmen Getränken und sauberen Kleidern. Es erlaubt uns, ein Vertrauensverhältnis aufzubauen und ihre Bedürfnisse besser zu verstehen. Im Winter halten wir ein wachsames Auge auf ihre Schlafplätze. Man kann in Mailand wie anderswo vor Kälte sterben. Doch auf der Strasse stirbt man zu allen Jahreszeiten an Krankheiten oder durch Gewalt.

Gründe und Ursachen

Die zwei Jahre der Pandemie haben alle Formen der Marginalisierung verschärft, mit schweren sozialen und psychischen Auswirkungen. Doch wie sehr traf es erst jene, denen etwas Elementares wie ein Dach über dem Kopf fehlte. Im ersten totalen Lockdown zwischen März und Juni 2020 gingen die Obdachlosen vollkommen vergessen. Während die Devise galt «Bleibt zu Hause», hatten sie kein Zuhause (einige wurden deswegen sogar gebüsst). Hilfswerke wie unseres gerieten in Schwierigkeiten und stellten ihre Tätigkeit ein. Es waren extrem schmerzhafte Zeiten.

Allein in Mailand zählt man mehrere tausend Obdachlose. Genaue Zahlen gibt es nicht, aber sie steigen seit der Pandemie – hauptsächlich als Folge der Arbeitslosigkeit –, und sie werden weiter zunehmen, auch wegen der Flüchtlinge, für die in den Aufnahmezentren nicht ausreichend Unterkünfte bereitstehen.

Ich habe mich intensiver mit Obdachlosigkeit zu beschäftigen begonnen, nachdem ich 2018 zusammen mit zwei Freunden einen afrikanischen Slum besucht hatte, um darüber eine Comic-Reportage zu publizieren. Ich erinnere mich, wie unangemessen, angesichts der extremen Armut, uns diese Form der Dokumentation vorkam. Nachdem wir ihr bedrückendes Leben porträtiert hatten, glaubten wir, diesen Menschen in einem moralischen Sinne etwas schuldig zu sein: Wir durften nicht nur von ihnen erzählen, wir mussten selber tätig werden.

Aber wieso gerade Obdachlose? Weil sich in ihren Erfahrungen mehrere gesellschaftliche Verwerfungen summieren, die mich umtreiben: die ökonomische Ungleichheit; die Vorstellung, Armut sei immer selbstverschuldet; die Idee vom Stadtraum, der nicht allen gleichermassen zustehe; die Angst vor dem Elend und dem Anderssein; die Einsamkeit und der Mangel an Privatsphäre (wer auf der Strasse lebt, steht unter der Beobachtung von allen).

Indessen verspüre ich seit kurzem eine gewisse Niedergeschlagenheit. Der Zweck unserer Organisation besteht nicht in übertriebener Hilfeleistung, wir verteilen keine Almosen. Wir wollen den Obdachlosen dazu verhelfen, dass sie wieder die Kontrolle über ihr eigenes Leben gewinnen, indem sie etwa auf die Sozialdienste der Stadt zugehen; sie sollen wieder Ansprüche entwickeln, Pläne machen können.

Und doch, wie oft können wir sagen, dass es uns gelungen sei? Es ist, als wollte man das Meer mit einem Löffel ausschöpfen, nur zu rasch überwältigt mich ein Gefühl der Vergeblichkeit.

Vielleicht haben meine Schwierigkeiten auch mit den Geschichten zu tun.

Keiner ist eine Insel

Die Geschichten sind fundamental. Sie helfen uns zu verstehen, was Obdachlosigkeit bedeutet: Sie ist ein hoffentlich vorübergehender Lebensumstand und keine unabänderliche Identität. Ausserdem lassen uns die Geschichten die Einzigartigkeit jedes Einzelnen begreifen.

Wer hätte zum Beispiel je gedacht, dass G., ein vierzigjähriger Bäcker, arbeitslos, der hinter einer Tankstelle schläft, seinerseits als Freiwilliger tätig sein würde, bis er wieder eine Stelle findet? «So vielen Menschen geht es schlecht», erklärt er mir eines Abends, nachdem er mich um frische Socken gebeten hatte. Er hat eine Schwester in der Stadt, die es aus Stolz und Feingefühl vorzieht, über ihn nicht mehr zu sagen als: «Ach, weisst du, er hat gerade eine schwierige Zeit.»

M., eine vierzigjährige Ukrainerin mit einer Leidenschaft für die Politik, perfekt zweisprachig, eine zwanghafte Sammlerin – auf ihrer Schlafbank häufen sich Kleider, Hygieneprodukte, Essbeutel –, liebte immer die Plaudereien. Häufig sprach sie von zukünftigen Projekten: eine Aufenthaltserlaubnis zu erhalten, als Altenpflegerin zu arbeiten. Vor bald zwei Monaten kehrte sie zurück in ihr Land, um bei ihrer Mutter zu sein, und fand sich plötzlich im Krieg wieder.

A. ist Ägypter. Während zehn Jahren arbeitete er als Kellner, dann hat er die Stelle verloren. Da er seinen Verdienst an seine Familie nach Hause geschickt hatte, blieben ihm keine Ersparnisse. Auch weil ihm sein ehemaliger Arbeitgeber die Abfindung nach der Entlassung verweigert hatte. Und während sich das juristische Verfahren in die Länge zieht, versucht er sich selber zu helfen und schläft mit ein paar Landsleuten im Schutz von Kartonschachteln. Er gibt nicht auf, und manchmal spricht er davon, nach Ägypten zurückzukehren.

V. lebt seit vielen Jahren auf der Strasse. Tagsüber schläft er oder schlägt die Zeit tot bei McDonald’s, wo sie ihm erlauben, sein Handy wieder aufzuladen. Gerade streitet er sich mit seinem Nachbarn. Er beschuldigt ihn, er klaue ihm die Lebensmittel und lärme nachts herum. Schwierig zu begreifen, wer recht hat. Beide sind zermürbt von der Kälte, vom Leben unter einer Brücke, von der Langeweile, vom Dreck.

Da sind Ausländer und Italiener, freundliche und aggressive Leute, es gibt solche, die einfach in Ruhe gelassen werden wollen oder die schwarz arbeiten, solche, die wenig trinken, und solche, die abstinent sind, da sind Alte und Junge, Impfgegner, einstige Häftlinge und dann auch jene, die eine kleine Rente haben, aber damit nicht umgehen können. Einige trifft man dauerhaft an, andere verschwinden plötzlich wieder. Nicht viel anders also als der Rest der Gesellschaft. Mit dem einzigen Unterschied, dass diese Menschen Traumata erlebt haben, von denen sie sich nicht erholt haben. Weil ihnen die sozialen oder die familiären Netze fehlen, die wir für selbstverständlich halten, die uns jedoch geholfen haben, unsere Talente zu entwickeln und unsere Mängel zu korrigieren. Das alles enthebt keinen der vollen Verantwortung für seine eigenen Entscheidungen. Es geht nur darum, den Einzelfall besser zu verstehen und zugleich den Mythos des totalen Individualismus zu entkräften. Denn in der Tat ist kein Mensch eine Insel.

Aber wie soll einer wieder von der Strasse wegkommen? Ein Fünfzigjähriger, dem ich vor einiger Zeit begegnete, erzählte mir, dass er seit einem Jahr obdachlos sei, nachdem er seine Arbeitsstelle verloren hatte. Er hatte weder schlechte Angewohnheiten noch psychische Probleme, aber auch keine ökonomische oder soziale Basis, um noch einmal von vorne zu beginnen. So geriet er in den bekannten Teufelskreis: Um eine neue Stelle zu finden, müsste er stundenlang im Internet Anzeigen studieren. Das ist aber schwierig, wenn das Geld fehlt für ein Handy-Abo oder für das Internet-Café. Und er müsste sich in guter Verfassung bei potenziellen Arbeitgebern vorstellen können. Das ist wiederum schwierig, wenn man wenig und an der Kälte sowie im Dauerlärm schläft. Ausserdem sind die öffentlichen Duschen rar, und man riskiert, dass einem die Kleider gestohlen werden.

Je schneller man die Hoffnung auf eine Rückkehr in die Normalität verliert, umso mehr fühlt man sich als Opfer, Depression und Drogenmissbrauch sind häufige Folgen. Und nicht selten zieht der Obdachlose gar Unmut auf sich, weil er das Stadtbild störe. Ich vergesse jene Frau nie mehr, die uns bat, wegen eines älteren, sehr ruhigen Mannes etwas zu unternehmen, da er unweit ihres Hauseingangs schlief. «Was meinen Sie mit ‹etwas unternehmen›»?, fragte ich. «Ich weiss nicht, ihn wegschaffen», antwortete sie. Als wäre er ein lästiges Stück städtischer Einrichtung.

Die öffentliche Debatte

Die Geschichten seien fundamental, sagte ich. «Glaubst du etwa, ich sei bloss das, was du von mir gerade siehst?», fragte mich M. an einem Abend vor ein paar Monaten, bevor sie in die Ukraine fuhr. «Ich bin doch nicht hier geboren worden», sagte sie und deutete auf die von Säcken überhäufte Bank. Aber so ist es. Häufig schliessen wir diese Menschen in ein unverrückbares Bild ein und ignorieren ihre Vergangenheit oder ihr Verlangen nach Zukunft.

Und trotzdem besteht ein Risiko. Wer sich zu sehr auf die Einzelschicksale konzentriert, befördert eine Abwertung der Umstände. A. und M. tun uns leid, vielleicht geben wir ihnen bei nächster Gelegenheit ein paar Euro, aber solche Dinge geschehen nun mal. Aber wieso geschehen solche Dinge? Wieso leben in den Industrieländern noch immer so viele Menschen unter solchen Verhältnissen?

Die Idee der Obdachlosigkeit übersteigt im Übrigen die schlichte Absenz eines Daches über dem Kopf. In einem verlassenen Schuppen zu schlafen, heisst noch nicht, ein Haus zu haben; dasselbe gilt für jene, die in einer Notschlafstelle Zuflucht suchen oder unter prekären Verhältnissen wohnen müssen. Zu ihnen gehören nicht nur Landstreicher mit langen Bärten, wie sie sich der folkloristische Gemeinplatz imaginiert. Es gibt auch alleinerziehende Mütter mit Söhnen, deren Lebensunterhalt sie bestreiten.

Aufräumen sollte man schliesslich mit der romantisierenden Vorstellung vom Clochard, der sein Los selbst gewählt hat. Soweit ich sehe, hat kaum einer diese Daseinsform aus freien Stücken, einem Ideal zuliebe, angenommen. Denn das Leben auf der Strasse ist hart und hat mit Romantik nichts zu tun. Allenfalls beobachtet man einen Widerstand dagegen, diese Lebensweise aufzugeben – vor lauter Schwäche, aus Gewohnheit oder Misstrauen.

Was mich bewegt

rbl. · Mit diesem Text des italienischen Schriftstellers Giorgio Fontana setzen wir unsere Reihe fort, in der jüngere Stimmen aus der internationalen Literaturszene zu Wort kommen. Die Aufgabe ist so anspruchsvoll wie einfach: Wir bitten die Autorinnen und Autoren, über ein Phänomen zu schreiben, sei es gesellschaftlicher, politischer oder privater Natur, das sie bewegt und geprägt hat oder das sich ihrem Werk auf besondere Weise eingeschrieben hat.

Giorgio Fontana wurde 1981 in Saronno geboren und lebt heute in Mailand. 2007 erschien bei Mondadori sein Romandebüt «Buoni propositi per l’anno nuovo». Mit dem Roman «Per legge superiore», 2011 bei Sellerio erschienen, wurde er über Italien hinaus bekannt. Die Geschichte über einen Staatsanwalt, der in einem Mordfall ermittelt und auf Widersprüche stösst, wurde ins Französische sowie ins Deutsche übersetzt («Im Namen der Gerechtigkeit», 2013, Nagel & Kimche).

Fontana schreibt in den italienischen Tageszeitungen «Corriere della Sera» und «Il Manifesto» und hat auch in der NZZ wiederholt essayistische Beiträge über ganz unterschiedliche Themen veröffentlicht. Seit 2015 verfasst er ausserdem Comics für die italienische Ausgabe von «Mickey Mouse» («Topolino»).

Vielleicht ist es etwas paradox, wenn ausgerechnet ein Schriftsteller die folgende Beobachtung macht, aber dieser Punkt ist mir wichtig: Mit den Geschichten riskieren wir, dass sich die öffentlichen Debatten oder auch die journalistischen Reportagen auf individuelle Erfahrungen der Einzelschicksale beschränken. Und trotzdem können wir nicht aufhören zu erzählen. Denn ohne die Geschichten riskieren wir den gegenteiligen Mangel: abstrakte Daten und Fragen, kein menschlicher Körper, an dem die konkreten, vielfachen Wunden der extremen Armut sichtbar würden. Es ist die Empathie, die den gesellschaftlichen Wandel befördert.

Ein Ausweg könnte tatsächlich die Literatur sein. Gerade einem Roman könnte es gelingen, Kontext und individuelles Schicksal zusammenzubringen – erst recht in Verbindung mit essayistischen Mitteln (wie es Milan Kundera zum Beispiel mit ganz anderen Themen machte). So kehrt die Frage zu mir zurück: Könnte ich einen Roman über einen Obdachlosen schreiben? In all den Jahren habe ich mich mit Existenzen befasst, die mir extrem fremd waren, ausserdem bin ich ein grosser Anhänger der Dokumentation, darum würde ich, rein erzähltechnisch gesehen, keine Schwierigkeiten sehen.

Aber persönliche Gründe würden mich blockieren. Da ich die Menschen und ihr Schicksal aus der Nähe kenne, hätte ich Mühe, mich dem Thema mit den Mitteln der Fiktion zu nähern. Mich von T. oder M. zu literarischen Figuren inspirieren zu lassen, käme mir ihnen gegenüber wie ein Verrat vor. Und auch wenn ich versuchen würde, eine Geschichte von Grund auf zu erfinden, könnte ich mich trotzdem kaum lösen von meinen Erfahrungen.

Wo ich als Freiwilliger maximal pragmatisch handeln kann, verlangt die literarische Erfindung eine gewisse Unbekümmertheit und vor allem grosse Freiheit. Die Realität, mit der ich konfrontiert werde, ist zu hart, gleichsam zu real bis zu dem Punkt, dass sie den schöpferischen Prozess blockiert. Ich weiss, es mag seltsam klingen, doch gerade in einem historischen Moment, wo das Verlangen nach «wahren Geschichten» in der Literatur gross ist, könnte ich über Obdachlose nur eine Reportage schreiben, aber keinen Roman.

Zu den Wurzeln gehen

Und auch wenn ich mir ganz intuitiv den Blick des Schriftstellers verbiete, so stelle ich mir doch hin und wieder die Frage, wie ich selber mit dem Leben auf der Strasse zurechtkäme. Sicher sehr schlecht. Allein schon eine Erkältung zu kurieren, wäre erschreckend kompliziert, nicht zu reden von der Schwierigkeit, Musik zu hören oder gar eine sexuell aktive Beziehung zu haben (wieso sollte einem Obdachlosen nicht auch ein Verlangen danach zustehen?).

Vermutlich würde ich dem Alkohol verfallen oder in eine Depression abstürzen, von welcher ich übrigens auch dank einer materiellen Absicherung geheilt werden konnte. Leider ist die Rede davon, im geregelten Leben wieder Tritt zu fassen, häufig nicht mehr als nur leeres Gerede. Wie sollte einer auch Erwartungen und Energien bewahren, wenn er über Monate hinter einem Gestrüpp in der Kälte schlafen muss, ignoriert oder gar misshandelt?

Kehren wir zum Ausgangspunkt zurück: Der Unterschied zwischen uns und den Obdachlosen liegt in der Möglichkeit, ohne katastrophale Folgen Fehler zu begehen. Ich konnte mich irren und das Versehen beheben – sie nicht. Und ich wiederhole: Das löscht die Freiheit und die Verantwortlichkeit für eigene Entscheidungen nicht aus. Aber Heuchelei wäre es, den Kontext der extremen Armut nicht sehen zu wollen.

Die Leistungen der Hilfsorganisationen stossen an Grenzen: Sie können und dürfen nicht an die Stelle politischer Entscheidungen treten. Doch ohne unsere Hilfen blieben manche für Tage ohne Essen, sie riskierten eine Unterkühlung oder hätten keine Kenntnisse ihrer Rechte (was nichts mit Barmherzigkeit zu tun hat). Gemäss jüngsten Zahlen des nationalen Statistikamtes leben Millionen von Menschen in Verhältnissen absoluter Armut, und etwa 500 000 haben kein festes Zuhause. Ein Nachtasyl ist meistens keine längerfristige Lösung: Oft sind die Häuser baufällig, überfüllt, Diebstahl und Schlägereien an der Tagesordnung. Da ziehen viele die Strasse vor.

Effizienter wären Projekte wie «Housing first», wo die Wohnung nicht erst als Prämie nach einer Bewährungsfrist winkt, sondern sofort angeboten wird – verbunden mit der Aussicht, wieder Eigenverantwortung übernehmen zu können. Es ginge darum, die Nothilfe-Logik zu durchbrechen, die immer zu einem entmündigenden Paternalismus führt und Möglichkeiten zur Verhaltensänderung verbaut. Denn es handelt sich ja nicht um eine Notsituation wie nach einem Erdbeben oder einer Naturkatastrophe; es ist eine auf bittere Weise alltäglich gewordene Realität.

Derweil setzen wir unsere nächtlichen Gänge mit unseren kleinen Hilfeleistungen fort. G. sucht noch immer Arbeit und findet keine. Das Rote Kreuz steht in Kontakt mit M. in der Ukraine: Sie ist bei ihrer Familie inmitten dieser Tragödie, aber es geht ihr unter den Umständen ordentlich. T. ist höchst zufrieden mit seinen neuen Zähnen, die er stolz vorführt, während er kichernd die nächste Zigarette anzündet. Kürzlich hat er, was den Reisepass betrifft, die Meinung geändert: vielleicht lässt er sich nun doch noch überzeugen, das Konsulat aufzusuchen. Wenn er es sich nicht wieder anders überlegt. Man weiss es nie so genau auf der Strasse.

Aus dem Italienischen von rbl.

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