Viel Andrang in den Long-Covid-Sprechstunden

Verschiedene Zürcher Spitäler haben im letzten Jahr Long-Covid-Sprechstunden initiiert. Ein Besuch.

Raluca Margareta Szeremi soll beim Riechtest am Unispital Zürich verschiedene Gerüche unterscheiden. Die Stifte mit den Proben ähneln Filzstiften.

Karin Hofer / NZZ

Wenn sie Fisch isst, schmeckt sie Fisch, Essig schmeckt nach Essig, Pfeffer nach Pfeffer. Probiert sie jedoch ein Stück Torte, schmeckt sie gar nichts; egal, ob die Torte mit Erdbeeren, Rhabarber oder Aprikosen bestückt ist. Auch Karotten und Kartoffeln schmecken für sie gleich. «Es ist mühsam, dass ich Geschmacksrichtungen und Gerüche nicht mehr richtig einordnen kann», erzählt Raluca Margareta Szeremi, die im Januar 2021 an Covid-19 erkrankt war.

Der Hausarzt hat sie, weil sie auch ein Jahr danach unter verschiedenen Symptomen leidet, an die Long-Covid-Sprechstunde des Universitätsspitals Zürich (USZ) überwiesen. Dort hat man unter anderem ihre Lungenfunktion abgeklärt, und nun wurde die 64-Jährige zum Geruchstest aufgeboten. Dieser fiel ernüchternd aus.

Szeremi erhielt eine Anleitung, wie sie während der folgenden Monate selbständig ein sogenanntes Riechtraining mit ätherischen Ölen durchführen kann. Und in einigen Wochen hat sie einen Kontrolltermin bei einem Arzt bekommen.

Die Patientin erhofft sich viel vom Riechtraining. Sie sagt, sie werde die Übungen während der nächsten Monate konsequent zweimal täglich durchführen und an Eukalyptus-, Nelken-, Zitronen- und Rosenöl riechen.

Die Mitarbeiterin eines Altersheims fühlt sich im Alltag eingeschränkt: «Essen macht keinen Spass mehr. Mir fehlt aber auch ein Frühwarnsystem; Rauch und Feuer würde ich momentan nicht riechen», sagt sie, und zudem wisse sie morgens nie, wie viel Parfum es vertrage. Mit Galgenhumor fügt sie an: «Ich will ja nicht, dass die Bewohner umkippen, wenn ich ins Zimmer komme.»

Viel Andrang in der Riechsprechstunde

Die Long-Covid-Sprechstunde am USZ ist wie analoge Angebote an anderen Spitälern interdisziplinär organisiert. Die Spezialsprechstunden sind nach rund einem Jahr ihres Bestehens ein Erfolg und ein Misserfolg zugleich: Sie haben regen Zulauf, was wiederum bedeutet, dass es viele Betroffene gibt.

Michael Soyka gehört zu einem Netzwerk von Spezialärzten, die sich am Unispital in verschiedenen Abteilungen um Long-Covid-Betroffene kümmern; er ist Leitender Arzt an der Klinik für Ohren-Nasen-, Hals- und Gesichtschirurgie. «Die Riechsprechstunde an unserer Klinik wurde in den letzten Monaten überrannt», hält er fest. Die Nachfrage sei mindestens fünfmal so gross wie vor der Pandemie. Geruchssinnstörungen seien an sich nichts Neues, sagt er; sie könnten auch durch andere Erkrankungen oder als Folge von Unfällen auftreten.

«Auffallend viele Long-Covid-Patientinnen und -Patienten leiden unter Fehlwahrnehmungen», sagt Soyka und nennt ein paar Beispiele: «Esswaren schmecken aus unerfindlichen Gründen nach Fäkalien, der Kaffee schmeckt plötzlich fremd, oder der Partner, die Partnerin riecht anders als früher.»

Der Arzt sagt, er behandle teilweise Patienten, die seit über einem Jahr betroffen seien. «Wir hoffen immer noch, dass sich die Störung mit der Zeit normalisiert. Das würde dem Verlauf nach anderen Viruserkrankungen entsprechen. Eine Garantie dafür gibt es nicht; uns fehlt mit dem Coronavirus die Erfahrung.»

Täglich neue Patienten

Unter einer postinfektiösen Geruchssinnstörung leidet auch eine weitere Patientin, die sagt: «Wein schmeckt nach nichts, und wenn ich Fleisch esse, ist es, als würde ich in ein Stück Karton beissen.» Die 58-Jährige sitzt an einem Donnerstagnachmittag in der Long-Covid-Sprechstunde am Stadtspital Zürich Waid. Sie ist zum ersten Mal da. Nach zweimaliger Impfung erkrankte sie im November 2021 und ist seither, wie sie sagt, «nicht mehr ich selbst».

Die Spezialsprechstunde am Waidspital ist ebenfalls sehr gefragt. Seit dem letzten Frühling wurden rund 150 Patientinnen und Patienten behandelt: 50 Fälle konnten vorläufig abgeschlossen werden, rund 50 andere Patienten wurden weitervermittelt, beispielsweise an Ambulatorien in der Nähe ihres Wohnorts. Und bei 50 Personen läuft die Behandlung noch. Weitere kommen täglich dazu; die Wartezeit beträgt momentan vier bis sechs Wochen.

Riecht der Apfel auch tatsächlich nach Apfel? Das Vorgehen in der Riechsprechstunde folgt einer Systematik, damit später Vergleiche möglich sind.

Riecht der Apfel auch tatsächlich nach Apfel? Das Vorgehen in der Riechsprechstunde folgt einer Systematik, damit später Vergleiche möglich sind.

Karin Hofer / NZZ

«Ich fühle mich, als wäre ich in einem anderen Körper. Nichts ist mehr so wie vorher. Ich habe Angst, dass es so bleibt», erzählt die 58-jährige Frau, die alles, was sie dem Arzt Stefan Christen erzählen will, aufgeschrieben hat. Die Liste der Long-Covid- oder Post-Covid-Symptome, unter denen sie leidet, ist lang: Müdigkeit und Erschöpfung, Muskelschmerzen, Bauchkrämpfe, Wortfindungsstörungen und Vergesslichkeit.

«Seit der Erkrankung bin ich scheinbar um vierzig Jahre gealtert», sagt die Patientin, die wieder hundert Prozent arbeitet. Jeden Tag gehe sie für eine halbe Stunde aufs Laufband, erzählt sie. Sie sei vorher immer fit gewesen und habe auf ihren Körper geachtet. «Ich kann den jetzigen Zustand nicht akzeptieren.» Sie räumt zwar ein, dass einige Beschwerden kontinuierlich besser geworden seien. Immer wieder aber gebe es Rückschläge.

Die Energie im Alltag einteilen

Stefan Christen, stellvertretender Chefarzt der Klinik Innere Medizin im Waidspital, sitzt der Patientin gegenüber und hört aufmerksam zu. Er hat einen Fragebogen vor sich und stellt gezielte Fragen nach typischen Long-Covid-Symptomen. Dazu gehören nicht nur körperliche, sondern auch seelische Beschwerden, etwa Angst, Freudlosigkeit, Suizidgedanken. Die Patientin wehrt auf die Nachfrage des Arztes hin ab. Sie sagt, dafür habe sie gar keine Zeit, sie müsse ja arbeiten.

Christen ermuntert sie, mit ihrer Energie haushälterisch umzugehen, und er erwähnt die Sprechstunden der Ergotherapeuten, die auch Trainings für ein besseres Energiemanagement anbieten. Mit individuell angepassten Strategien lernen die Patienten, ihre Reserven im Alltag einzuteilen.

Bevor er sie verabschiedet, verspricht Stefan Christen der Patientin, dass er auch noch ihre Blutwerte genau anschauen und sich bei ihr melden werde. Die Frau scheint ein wenig beruhigt zu sein.

Ihr Fall wird, wie alle anderen aus der Spezialsprechstunde, in einigen Tagen im Long-Covid-Rapport besprochen werden. An der wöchentlich stattfindenden Sitzung nehmen Ärztinnen und Ärzte, eine Neuropsychologin und je ein Teammitglied der Ergo- und der Physiotherapie teil. Regelmässig sind auch eine Spezialärztin für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde und Mitarbeiterinnen der psychosozialen Spitex dabei.

Nebel im Kopf

Der nächste Patient der Long-Covid-Sprechstunde wird am selben Nachmittag von Elisabeth Weber, der Chefärztin der Klinik Innere Medizin, empfangen. Der Mann wurde dem Waidspital vom Hausarzt zugewiesen, ein übliches Prozedere, wie Weber erklärt. «Wir fokussieren auf Long-Covid-Patienten, die seit mehr als drei Monaten nach der akuten Erkrankung unter Symptomen leiden.»

Die Mitarbeiterin des USZ bereitet die Riechstifte vor und dokumentiert die Ergebnisse des Tests am Computer.

Die Mitarbeiterin des USZ bereitet die Riechstifte vor und dokumentiert die Ergebnisse des Tests am Computer.

Karin Hofer / NZZ

Ihr Patient ist noch nicht vierzig, seit kurzer Zeit Familienvater, steht mitten im Berufsleben, ist sportlich und scheint ganz unbeschwert zu sein. Doch der erste Eindruck täuscht, wie sich herausstellt. Körperlich ist er nach der akuten Infektion im April 2021 zwar wieder auf der Höhe. Beim Sechs-Minuten-Gehtest, den er vor der Sprechstunde bei der Ärztin Weber absolviert hatte, hat er sehr gut abgeschnitten.

Beim Gehtest wurde er angewiesen, während sechs Minuten auf einer ebenen Strecke so schnell wie möglich zu gehen; parallel zur Distanz wurden Puls und Sauerstoffsättigung im Blut gemessen. «Ich weiss, dass ich körperlich belastbar bin», sagt der Mann. «Aber es fühlt sich anders an als früher, das Gefühl ist anders.»

Elisabeth Weber befragt den Patienten systematisch nach seiner Krankengeschichte und nach Beschwerden. Seit der Covid-19-Infektion im April 2021 sei er unglaublich dünnhäutig, erzählt er. Manchmal fühle es sich an, als habe er Nebel im Kopf, er leide auch unter Schwindel. «Mir scheint dann alles ein wenig versetzt», erklärt er. Je länger das Gespräch mit der Ärztin dauert, desto mehr kristallisiert sich heraus, worunter der Patient am meisten leidet.

«Ich spüre manchmal schon am Morgen eine Freudlosigkeit, die es bei mir vorher schlicht nicht gab», erzählt er. Begonnen habe es mit der Covid-19-Infektion. Er führt aus, wie fordernd seine Lebenssituation momentan sei: mit einem kleinen Kind und einem Job, der ihm zwar gefalle, bei dem aber vieles zur Routine geworden sei. Die Tage, die er mit der Tochter verbringe, seien für ihn die schönsten, aber auch die strengsten der Woche. Am Abend sei er jeweils völlig erschöpft.

Die Ärztin erklärt ihm, was er schildere, höre sie oft, in verschiedenen Variationen. Sie empfiehlt ihm ein Training zum besseren Energiemanagement und ein paar Stunden bei einer Psychotherapeutin. Zudem schlägt sie vor, eine Magnetresonanztomografie des Schädels durchzuführen, um allenfalls den Gründen für den Schwindel auf die Spur zu kommen.

«Crashs» verhindern

Nach der Konsultation erklärt Elisabeth Weber, für Long-Covid-Fälle sei es charakteristisch, dass man oft keine körperliche Ursache für Beschwerden finde. Als Internistin mit einer Zusatzausbildung in Psychosomatik plädiert sie dafür, körperliche, psychische und soziale Faktoren gleichwertig zu behandeln: «Denn dass die Patienten leiden, ist offensichtlich.»

Ein Beschwerdebild, das sich bei Long-Covid-Patienten fast immer zeige, sei das sogenannte Post-Exertional Malaise (PEM). «Nach einer körperlichen oder mentalen Anstrengung kommt es zu einer totalen Erschöpfung und einer Rückkehr weiterer Symptome; typischerweise 24 bis 48 Stunden danach.» Da die Erschöpfung mit Verzögerung auftrete, sei es sinnvoll, Tagebuch zu führen, um künftige «Crashs», Zusammenbrüche, zu vermeiden.

Aufgrund der im vergangenen Jahr gesammelten Erfahrungen stellt Weber fest, dass sich viele Patientinnen und Patienten in ihrem privaten und beruflichen Umfeld nicht ernst genommen fühlten. «Man sieht ihnen nichts an, das macht es schwierig.» Für die Betroffenen hat sie grundsätzlich Hoffnung: «Wir sehen, dass die Symptome bei praktisch allen Patienten mit der Zeit abnehmen.»

Ihre Kollegin, Oberärztin Schirin Frey, empfängt an diesem Nachmittag eine 55-jährige Patientin, die nicht nur unter Erschöpfung, sondern auch unter Kopfweh und Schwindel leidet. Sie war im November 2020 erkrankt. Ihr fällt das Arbeiten schwer, doch die Selbständigerwerbende kämpft sich durch ihren Alltag.

«Ich habe irgendwie das Gefühl, dieses Virus habe mein Gehirn angegriffen», erzählt sie. Zudem berichtet sie von Schwierigkeiten beim Gehen: «Kürzlich lief ich wie eine Watschelente, fast ohne Kraft.» Die Ärztin vereinbart mit ihr, dass sie in der nächsten Zeit gestaffelt mit Physio- und Ergotherapie beginnen wird.

Bei Long-Covid-Patienten sind laut dem Facharzt Michael Soyka auffällig oft Fehlwahrnehmungen vorhanden. Sie riechen zwar etwas, aber nicht das Richtige.

Bei Long-Covid-Patienten sind laut dem Facharzt Michael Soyka auffällig oft Fehlwahrnehmungen vorhanden. Sie riechen zwar etwas, aber nicht das Richtige.

Karin Hofer / NZZ

Im Unispital Zürich wurden seit dem letzten Frühling über 500 Patienten mit Verdacht auf Long Covid behandelt, wie der Leiter der Spezialsprechstunde, der Pneumologe Christian Clarenbach, erklärt. Häufig finde man trotz vertiefter Diagnostik keine kausale Ursache für die manchmal diffusen Beschwerden. Das heisst, dass sich körperlich nichts Eindeutiges nachweisen lässt.

Das sei für die Betroffenen schwierig: «Bei einigen Patienten, bei denen die Störungen seit sechs, neun oder zwölf Monaten anhalten, spürt man, dass sie frustriert sind.» Auch Clarenbach macht die Erfahrung, dass es den meisten Patienten mit der Zeit bessergehe. Die Angst, dass sich Long Covid in «Forever Covid» verwandeln könnte und die Beschwerden lebenslang blieben, sei aber bei vielen präsent.

Markus Hofer ist Chefarzt Allgemeine Pneumologie am Kantonsspital Winterthur und in der dortigen Long-Covid-Sprechstunde engagiert. Das multiprofessionelle Team hat bisher rund 300 Patienten behandelt, vorwiegend solche, die in der akuten Phase nicht stationär im Spital waren. Auch er stellt eine Stigmatisierung fest; viele Betroffene würden nicht ernst genommen. «Das Umfeld will es irgendwann einfach nicht mehr hören.»

Hofer sieht seine Aufgabe unter anderem darin, Patienten dazu zu motivieren, den Alltag bei aller Ungeduld ruhiger anzugehen. Sie sollen sich selber Zeit geben, um gesund zu werden. «Ich sage ihnen, sie sollen sich nur so stark belasten, dass sie es am nächsten Tag nicht merken.» Diesen Ratschlag gebe er übrigens auch allen anderen Menschen.

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