Wahlen in Istanbul: Kampf zwischen der Opposition und Erdogan – News

Am Ostersonntag sind türkische Lokalwahlen und besonders viel steht dabei in Istanbul auf dem Spiel. In der Wirtschaftsmetropole regiert seit fünf Jahren die grösste Oppositionspartei, die säkulare CHP. Doch Erdogan rechnet sich Chancen aus, das symbolträchtige Rathaus, in dem einst seine eigene politische Karriere begann, für seine islamisch-konservative Partei AKP zurückzuholen.

Darum geht es bei diesen Lokalwahlen


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Am 31. März 2024 hält die Türkei kommunale Wahlen ab, Wahlberechtigte wählen in über 80 Provinzen, in knapp 1000 Landkreisen und 390 Gemeinden. Sie wählen ihre Bürgermeisterinnen und Vertreter in den Stadt- und Gemeindeparlamenten sowie Landräte. Zur Wahl berechtigt sind knapp 62 Millionen. Unter ihnen dürfen über eine Million junge Menschen erstmals ihre Stimme abgeben.

Rund ein Fünftel dieser Menschen wohnt und wählt in Istanbul. Die 16-Millionen-Stadt erarbeitet rund einen Drittel der türkischen Wirtschaftskraft. Vor fünf Jahren gelang es der CHP als bedeutendste Oppositionspartei, Erdogan und seiner AKP das Rathaus von Istanbul zu entreissen. Seither leitet Ekrem Imamoglu die Geschicke am Bosporus.

Das sieht der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan nicht gerne. Er will die Stadt, wo er einst selber Bürgermeister war, wieder in den Händen seiner Partei sehen und hat Murat Kurum als Bürgermeisterkandidaten ins Rennen ums politische Amt nominiert, den ehemaligen Städtebauminister der Türkei.

Entscheidend bei diesem Kampf um Istanbul werden auch junge Erwachsene sein, denn die Bevölkerung in der Türkei ist im Vergleich zu vielen Ländern in Europa deutlich jünger. Sie bilden also eine wichtige Wählergruppe für beide Parteien, die um die Macht in Istanbul ringen. Kadiköy ist ein beliebtes Ausgehviertel bei säkularen Jungen.

Ich gehe trotzdem wählen, aber es wird für mich eher ein nüchterner Gang zur Wahlurne.

Der Stadtteil liegt auf der asiatischen Seite von Istanbul. Es gibt viele Bars und in einigen Kneipen spielen Live-Bands fast jeden Abend. Hier in Kadiköy könnten sich Menschen mit alternativen Lebensweisen noch ausdrücken, sagt die 27-jährige Begüm. Die Stimmung bei ihr und ihren Freundinnen und Freunden ist an diesem Abend ausgelassen.

Anhaltende Katerstimmung bei säkularen Wählenden

Begüm sagt, sie sei an diesem Abend gut gelaunt, doch wenn sie an die Lokalwahlen denkt, kommt ihre ganze Enttäuschung wieder hoch. Letztes Jahr im Mai, bei den Präsidentschaftswahlen, wurde Erdogan im Amt bestätigt: «Damals hatte ich so sehr auf einen politischen Wandel und das Ende des AKP-Regimes gehofft und ich verfolgte jede kleinste Entwicklung. Nach der Niederlage für die Opposition waren wir alle am Boden zerstört.»

Deshalb sei sie im Hinblick auf die Lokalwahlen auch nicht sehr hoffnungsvoll. «Ich gehe trotzdem wählen, aber es wird für mich eher ein nüchterner Gang zur Wahlurne. Ich empfinde diese Lokalwahl eher als eine unangenehme Pflicht», sagt die junge Ärztin. Es geht ihr darum, ihre Weltanschauung zu verteidigen und Istanbul nicht kampflos der Präsidentenpartei AKP zu überlassen.

Begüm geht es aber auch darum, Ekrem Imamoglu für die Zukunft zu stärken. Wenn er als Stadtpräsident von der CHP das Rathaus von Istanbul behalten kann, wird er auch national als wichtigster Gegenspieler Erdogans unausweichlich und es steigen entsprechend die Chancen der Opposition auch bei den Präsidentschaftswahlen in vier Jahren, so das Kalkül von Begüm.

Wahlverzicht wegen Ankaras langem Arm

Wählen oder nicht, da gehen an diesem Barabend die Meinungen auseinander. Neben Begüm sitzt Muhammed und stellt gerade sein Bier ab. Der Computer-Ingenieur weiss noch nicht, ob er an der Wahl teilnehmen wird: «Seit der Wahlniederlage bei den türkischen Präsidentschaftswahlen letztes Jahr denke ich, dass ich mit meiner Stimme eh nichts ändern kann.» Deshalb werde er vielleicht auch gar nicht erst wählen gehen, sagt der 30-Jährige.

In der Runde sitzt auch Cihan. Der 30-Jährige erklärt, warum auch er die Hoffnung verloren hat und keinen Sinn mehr darin sieht, seine Stimme abzugeben: «Die AKP hat so viel Macht, dass sie immer wieder in die politischen Geschäfte von lokalen Verwaltungen eingreift. So innovativ Imamoglu auch sein will, ohne die Mittel aus Ankara kann er nicht viel anrichten. Und diese werden ihm regelmässig verwehrt.» Cihan will erst am Wahlsonntag entscheiden, ob er wählen geht.

Schon entschieden hat sich Sena. Die Personal-Trainerin will nicht wählen – auch wenn sie sich selbst als «politisch sehr engagiert» bezeichnet. Die 28-Jährige versucht immer wieder an politischen Kundgebungen teilzunehmen: «Ich konnte weder an der Pride der LGBTQ-Community, noch an den Demos zum Weltfrauentag am 8. März auf der Strasse feiern, obwohl die CHP in Istanbul an der Macht ist. Die AKP-Regierung weiss solche Anlässe immer irgendwie zu unterbinden.»

Einigkeit über Istanbuls grösste Probleme

Tatsächlich liegen die politischen Kompetenzen der lokalen Verwaltungen wie hier in Istanbul mehr im Konkreten, beispielsweise Bauvorhaben im öffentlichen Verkehr wie Metros oder bezahlbarer Wohnbau. Es sind Themen, die die meisten Menschen hier in Istanbul umtreiben – egal, ob sie dem Imamoglu-Lager angehören oder dem Erdogan-Lager. Das bestätigen auch der 27-jährige Mohammed und die 23-jährige Mervenur.

Beide haben sich auf dem stillgelegten Flughafen im europäischen Teil von Istanbul eingefunden, der heute für politische Versammlungen benutzt wird. Auch wenn Staatspräsident Erdogan hier spricht, ist das Publikum nicht so zahlreich erschienen wie vor einem Jahr, als es um seine Wiederwahl als Präsident ging. Nun ist Erdogan auf Stimmenfang für Murat Kurum, seinen Kandidaten fürs Istanbuler Bürgermeisteramt.

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Präsident Erdogan hätte die Wahlen in der türkischen Wirtschaftsmetropole nutzen können, um einen starken Nachfolger aufzubauen. Selcuk Bayraktar wäre so ein Mann, von dem viele annehmen, dass er Erdogan einst beerben könnte. Erdogans Schwiegersohn, ein brillanter Ingenieur und Rüstungsunternehmer, Kopf des türkischen Kampfdrohnenprogramms.

Stattdessen wählte Erdogan einen Kandidaten für Istanbul ohne Profil. Murat Kurum heisst der Mann, der die Revanche schaffen und das Rathaus der Bosporus-Metropole zurückholen soll. Erdogan bleibt also bei seiner Linie: Er setzt auf Politiker ohne Ausstrahlung, die seine Vorgaben loyal umsetzen und nicht über sich hinauswachsen und schon gar nicht über Erdogan, so der Istanbuler Politologe Berk Esen. «Kurum ist wie der Prototyp eines erdoganschen Apparatchiks», so Esen weiter.

Der Kandidat hatte eine wichtige Position im öffentlichen Wohnbau und war dann Städtebauminister. Daran soll er jetzt in Istanbul anknüpfen. Doch er ist ein schlechter Redner und er begann die Kampagne erst noch mit einer Reihe von Patzern. Selbst der Versuch der Erdogan-treuen Staatsmedien, ihn als Menschen erfahrbar zu machen, scheiterte. Im grossen Fernsehinterview antwortete Kurum einsilbig und gab kaum etwas von sich Preis. 

Ist der Kampf um Istanbul also schon gelaufen?

Berk Esen warnt vor zu schnellen Schlüssen. Erdogans Partei investiere sehr viel Geld in diese Istanbuler Stadtpräsidentenwahl und Kurum finde doch langsam in seine Rolle als der Kandidat, der nirgends aneckt.

Erdogans Anhängerinnen und Anhänger täuschen sich auch nicht im Absender. Allen ist klar: Kurum wäre nur der Statthalter. Die Fäden zieht Erdogan, der Staatspräsident. Aus der Hauptstadt Ankara kommen auch die Milliarden, die Istanbul voranbringen können. Oder nicht.

Erdogan drohte im Wahlkampf offen. Nur jene Städte und Gemeinden, die auf Linie mit dem Staat seien, könnten auf die volle Unterstützung Ankaras zählen.

Analyse von Philipp Scholkmann, Auslandredaktion.

Murat Kurum werde der neue Bürgermeister von Istanbul, hofft Mohammed. Er ist im Vorstand der jungen AKP für den Istanbuler Stadtteil von Üsküdar – also im jungen Flügel von Erdogans Regierungspartei: «Wir stehen hinter Murat Kurum, weil wir überzeugt sind, dass nur er diese lokalpolitischen Probleme lösen kann.» Mervenur stimmt ihm zu.

Weltanschauungen prägen Ringen um Istanbul

Sie ist Reporterin für einen Youtube-Kanal und erklärt, warum Murat Kurum für sie der bessere Bürgermeister wäre als Imamoglu und es geht ihr dabei gar nicht um die Person: «Wer auch immer für die AKP die Geschicke von Istanbul unter der Leitung von Präsident Erdogan leitet, muss sowieso ein guter Bürgermeister werden.»

Wir stehen hinter Murat Kurum, weil wir überzeugt sind, dass nur er diese lokalpolitischen Probleme lösen kann.

Weil er unter Erdogan gar nicht anders könne und gut arbeiten müsse, erläutert die 23-Jährige. Ihre Schlussfolgerung daraus: «Deshalb ist Kurum von der AKP besser als Imamoglu von der CHP.» Dass Murat Kurum also als Statthalter von Erdogan fungieren würde, darin sehen viele aus dem AKP-Lager nur Vorteile.

Denn wer Kurum wählt, wählt auch Erdogan – und zugleich die Ressourcen des erdoganschen Staatspparats sowie seine Weltanschauung. Das sagt auch eine Wählerin an der Wahlveranstaltung am stillgelegten Flughafen: «Seit Erdogan, Gott sei Dank unser Anführer, das Land führt, ergeht es uns immer besser. Wenn es jemand richten kann, dann Erdogan. Er hat es mit seinen Visionen bisher gerichtet und er wird es auch in Zukunft richten.»

Rendez-Vous, 25. März 2024, 12:30 Uhr

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