Warten auf Afrikas neuen Messias

Sophie Garcia / Hans Lucas

Thomas Sankara, der 1987 ermordete Präsident von Burkina Faso, wird in Afrika verehrt wie ein Messias. Ein Besuch bei Jüngern, Verwandten und jemandem, der ungern über ihn spricht.

Serge Bayala hat den Ort, an dem sein Held ermordet wurde, unzählige Male besucht, und nun steht er wieder da, die Arme hinter dem Rücken verschränkt, und schaut auf das flache Backsteingebäude. Vor ihm an der Fassade hängt ein Porträt von Thomas Sankara, darunter liegt ein Bund weisser Plastikrosen.

«Jedes Mal, wenn ich hier stehe», sagt Serge Bayala, «denke ich an die Chance, die wir verloren haben, als die grösste Figur Afrikas feige niedergestreckt wurde.»

Serge Bayala ist Soziologe, Gymnasiallehrer und einer der bekanntesten Sankaristen in Burkina Faso. So nennen sich in dem Sahel-Staat jene, die sich dem Erbe von Thomas Sankara verpflichtet fühlen. Sie vertreten eine politische Ideologie, vielleicht sogar eher eine Religion – und Serge Bayala ist deren treuster Apostel. Ein Apostel, der Dreadlocks und Adiletten trägt.

«Hier wurde einem Volk der Traum vom Fortschritt geraubt», sagt Bayala. Er spricht mit langen Pausen, so als koste es ihn Kraft. «Doch Sankaras Blut hat Afrikas Erde befruchtet. Aus ihr werden neue Sankaras spriessen.»

Serge Bayala.

Serge Bayala.

Das ehemalige Regierungsgebäude, in dem Thomas Sankara getötet wurde.

Das ehemalige Regierungsgebäude, in dem Thomas Sankara getötet wurde.

Es gibt kaum eine historische Figur in Afrika, die so verehrt wird wie Thomas Sankara. Sankara war Revolutionär, Panafrikanist und während vier Jahren Präsident von Burkina Faso. Er war jung und fotogen, er trug schmale Uniformen und hatte ein breites Lachen. Er stiess zahllose Reformen an und machte ein unbekanntes Land zum Ideal vieler Afrikaner. Dann wurde er ermordet.

Am 15. Oktober 1987 stürmten Männer mit Maschinengewehren das ehemalige Regierungsgebäude in Ouagadougou, vor dem Serge Bayala steht. Sie erschossen dreizehn Männer, die dort eine Sitzung abhielten. Einer der Getöteten war Thomas Sankara, er war 37 Jahre alt. «Sie suchen mich», soll Sankara gesagt haben, als draussen erste Schüsse fielen. Dann hob er die Hände und ging auf die Attentäter zu. So schilderte es später der einzige Überlebende.

Thomas Sankara sei Afrikas Che Guevara gewesen, heisst es oft. Doch seine vielen Verehrer erzählen seine Geschichte als die eines Mannes, der sich für sein Land und seine Ideale opferte. Als die eines Messias, der irgendwann zurückkommen wird, um Burkina Faso und Afrika in eine bessere Zukunft zu führen.

Doch ein Messias kommt selten zurück. Und ob von Thomas Sankara mehr geblieben ist als Nostalgie, ist unklar.

Zwei Fahrräder, 800 Dollar Vermögen

Wie so viele in diesem Land sind Thomas Sankaras Brüder gerade am Warten. Darauf, dass ein Land wiederaufgebaut wird. Und ein Haus. Sie sitzen vor dem Elternhaus in Ouagadougou, oder vor dem, was davon übrig ist. Das Haus liegt weniger als zehn Fussminuten vom Ort der Ermordung Sankaras entfernt, und gerade liegt es in Trümmern. Es wird totalsaniert. In ein paar Monaten soll der Wiederaufbau fertig sein.

Zwischen Backsteinen, Holzplatten und einem Zementmischer sitzen Pascal und Valentin Sankara. Pascal Sankara lebt in den USA, er ist zum ersten Mal seit langem wieder in Burkina Faso. Valentin Sankara hat sein ganzes Leben hier verbracht.

Valentin Sankara, jüngerer Bruder.

Valentin Sankara, jüngerer Bruder.

An der Avenue Thomas Sankara in Ouagadougou.

An der Avenue Thomas Sankara in Ouagadougou.

«Das Haus sieht aus, als ob Terroristen darüber hinweg wären», sagt Pascal Sankara.

«Als ob Putin angegriffen hätte», sagt Valentin Sankara.

Thomas Sankara wurde 1949 geboren, als drittes von elf Kindern und als erster Sohn. Burkina Faso war eine französische Kolonie und hiess Obervolta. Sankaras Familie war katholisch, der Vater Gendarm. Sankara wollte erst Priester werden, dann Soldat. Es waren bewegte Zeiten. 1960 wurde Obervolta unabhängig. Der junge Sankara gehörte zu einer Generation junger Offiziere, die die Studentenrevolten um 1968 verfolgten, Lenin lasen und entschlossen waren, ihr Land in eine bessere Zukunft zu führen.

Thomas Sankara las mehr als die meisten und war entschlossener. Er stieg rasch auf durch die Ränge, wurde 1981 Informationsminister, 1983 Premierminister. Als die Regierung ihn inhaftieren liess, weil er zu beliebt und somit gefährlich wurde, putschten seine Verbündeten. Sankara wurde Präsident, er war 33.

Viele führen Sankara heute als Beispiel dafür an, dass es so etwas wie den «guten Putsch» gibt. Seine Präsidentschaft wird oft in Zahlen und Anekdoten erzählt.

Die Zahlen. Sankara goss die knappen Mittel des Staates um in Richtung Gesundheit, Bildung und Ernährungssicherheit. Er erschloss in einem Bewässerungsprojekt allein 24 000 Hektaren für die Getreideproduktion. Diese wuchs während seiner Präsidentschaft um jährlich 14 Prozent. Er liess 1984 innerhalb von zwei Wochen mehr als 2 Millionen Kinder gegen Meningitis und Gelbfieber impfen. Er liess innerhalb eines Jahres 7500 Gesundheitszentren bauen. Die Alphabetisierungsrate stieg in seinen vier Regierungsjahren von 13 Prozent auf 73 Prozent.

Die Anekdoten. Sankara liess die Mercedes-Limousinen der Regierung verkaufen und ersetzte sie durch winzige Renaults. Er stellte Regierungsbeamte wegen Korruption und Steuerhinterziehung vor Tribunale. Er fuhr mit dem Fahrrad durch die Hauptstadt und stoppte manchmal, um mit Passanten zu plaudern. Er verpasste Obervolta einen neuen Namen: Burkina Faso, «das Land der Aufrechten».

Eine Anekdote mit Zahlen. Sankara deklarierte seinen Besitz einmal so: zwei Fahrräder, 800 Dollar auf einem Bankkonto, monatliches Einkommen 350 Dollar.

Abwarten und Bier trinken

Wenig ist übrig von Sankaras Erbe. Die meistzitierte Zahl zu Burkina Faso ist im Moment diese: 2 Millionen Menschen im Land sind vertrieben, das ist ein Zehntel der Bevölkerung. Burkina Faso ist das Zentrum der Sahel-Krise, einer der schwersten Krisen weltweit. Jihadistische Banden terrorisieren weite Teile des Landes, die Regierung hat die Kontrolle über fast die Hälfte des Staatsgebiets verloren. Zweimal haben Militärs in diesem Jahr erfolgreich geputscht.

«Wenn ich in den USA Radio höre und sie über Burkina reden, sind es immer schlechte Nachrichten», sagt Pascal Sankara. «Es ist nicht mehr mein Land. Die Preise sind hoch, die Meinungsfreiheit eingeschränkt. Früher tranken wir Bier und sagten der Regierung, wie beschissen sie sei. Es war ein Land der Freiheit.»

Valentin Sankara sitzt daneben und schweigt. Die Sankaras halten es wie früher. Sie trinken Bier. Und warten wie alle anderen darauf, dass einer wie ihr Bruder erscheint.

Dabei ist der Bruder überall in Ouagadougou. Sein Gesicht ist auf T-Shirts und Plakate gedruckt, es ist auf Hauswände gemalt. Es gibt eine Thomas-Sankara-Universität, ein Thomas-Sankara-Gymnasium, eine Thomas-Sankara-Gedenkstätte am Ort seines Todes. Deren Sekretär ist Serge Bayala, der Apostel in Adiletten.

Thomas Sankaras Mythos ist so mächtig, weil er jung starb und nicht verknöcherte wie andere afrikanische Politiker seiner Generation; zum Beispiel der ugandische Präsident Yoweri Museveni, der 1986 einen Guerillakrieg gewann, einen Autokraten verjagte – und dann selber einer wurde.

Keine Freunde: der damalige französische Präsident François Mitterrand und Thomas Sankara 1986 in Burkina Faso.

Keine Freunde: der damalige französische Präsident François Mitterrand und Thomas Sankara 1986 in Burkina Faso.

Patrick Aventurier / Gamma-Rapho / Getty

Sankaras Mythos ist auch so mächtig, weil ihn bisher keiner widerlegt hat. Selbst der amerikanische Historiker Brian Peterson, der eine Biografie verfasst hat, die Sankaras Fehler nicht verschweigt, sagte kürzlich in einem Podcast: «Sein Ruf als integrer Mann ist zutreffend. Es hat in der Geschichte sehr wenige politische Führer gegeben, die ihre Ideen wahrhaftig verkörperten und für sie gestorben sind.»

Sankara bedeute, dass es möglich sei, sagt sein grösster Bewunderer Serge Bayala. Ein guter Führer zu sein auf einem Kontinent, dessen Menschen von ihren Führern allzu oft belogen und beraubt werden.

Keine Revolution ohne Feinde

Einer, der wissen müsste, wie man neue Sankaras produziert, ist der Sozialwissenschafter Basile Guissou. Guissou war während dreier Jahre Minister in Sankaras Regierung, zuerst Umwelt-, dann Aussenminister. Guissou ist gutgelaunt, er trägt Khaki, die Uniform eines ungebeugten Revolutionärs. Er hat sein Büro im Centre Kwame Nkrumah, einem politischen Bildungszentrum, in dem Porträts legendärer afrikanischer Führer in Fluren hängen, in denen es aber so still und leer ist, als ob niemand mehr lernen möchte, wie man ein guter afrikanischer Führer wird.

Die Thomas-Sankara-Gedenkstätte in Ouagadougou.

Die Thomas-Sankara-Gedenkstätte in Ouagadougou.

In den Fluren hängen Porträts afrikanischer Führer, in Basile Guissous Büro eines von Chinas Präsident Xi Jinping.

In den Fluren hängen Porträts afrikanischer Führer, in Basile Guissous Büro eines von Chinas Präsident Xi Jinping.

Was bei der Verehrung von Thomas Sankara oft vergessengeht: Als er starb, war er kein Heiliger. Heiliggesprochen wird man erst später. Sankara starb auch deshalb, weil er sich viele Feinde gemacht hatte.

Basile Guissou war dabei, als die Revolution 1987 von Intrigen und Grabenkämpfen zerstört wurde. Sankara hatte mit dem Tempo seiner Reformen Gewerkschaften, Beamte, Teile der Studierenden und des Militärs gegen sich aufgebracht. Studenten ärgerten sich über Arbeitseinsätze, die sie für die Revolution leisten sollten. Beamte ärgerten sich, dass ihnen Privilegien wie Gratisbenzin gestrichen wurden. Frankreich ärgerte sich über den eigensinnigen Sankara – der damalige Präsident François Mitterrand sagte: Sankara bedeute Ärger. Zwischen 1983 und 1985 strich die ehemalige Kolonialmacht 80 Prozent ihrer Wirtschaftshilfe für Burkina Faso.

Wenn man Basile Guissou fragt, ob sich Thomas Sankaras Revolution zu viele Feinde gemacht habe, beugt er sich weit über seinen Schreibtisch, schielt über die Ränder seiner Brille und sagt: «Glaubst du etwa, es gebe eine Revolution ohne Feinde? Ohne Feinde keine Revolution. Man macht keine Omeletten, ohne Eier zu zerschlagen.»

Doch einer der Gründe dafür, dass kein neuer Sankara erscheint, ist, dass lange nicht alle die Nostalgie teilen. Auch im Fall von Thomas Sankara überdeckt der Mythos eine kompliziertere Realität: Von seiner Revolution ist unter anderem deshalb wenig übrig, weil sie viele Leute vor den Kopf stiess.

Basile Guissou beeindruckt das nicht. Er sagt, Burkina Faso sei im Grunde einfach zu regieren: Es brauche zwei Mahlzeiten am Tag und Bildung für alle, damit das Land vorankomme. Doch was es brauchte, damit das möglich ist, weiss Guissou nicht. Er wartet deshalb wie viele andere darauf, dass ein aussergewöhnlicher Führer auftaucht. Ein neuer Sankara.

Aber nach 35 Jahren Warten hat selbst Basile Guissou leise Zweifel. «Vielleicht», sagt er am Ende, «warten wir auf Godot.»

Blandine Sankara findet die Antwort in der Migros

Doch vielleicht ist es gar nicht nötig, auf Godot zu warten. Vielleicht gibt es eine Form der Revolution, die ohne einen Messias auskommt.

Trifft man Blandine Sankara, wird man zuvor gebeten, nicht zu viel nach ihrem Bruder zu fragen. Sie spreche nicht gern über ihn. Lieber spreche sie über den Garten, den sie eine halbe Stunde nördlich von Ouagadougou bestellt.

Dort sitzt Blandine Sankara dann und isst ein Sandwich mit Avocado von den eigenen Bäumen, während ringsherum Schmetterlinge zwischen Mangobäumen, Papayastauden, Karotten- und Spinatbeeten schweben.

Blandine Sankara in ihrem Garten.

Blandine Sankara in ihrem Garten.

«Yelemani» bedeutet Wandel.

«Yelemani» bedeutet Wandel.

Blandine Sankara hat das Land vor zehn Jahren gekauft. An einer Wand hängen Vorher-nachher-Fotos. Wo einst Wüste war, ist nun eine menschengemachte Oase. Sankara hat die zwei Hektaren so umgestaltet, wie die Jünger ihres Bruders behaupten, dieser habe Burkina Faso umgestaltet. Doch während alle anderen sich nach ihrem Bruder sehnen, pflanzt Blandine Sankara Mais und Bohnen. Im Labor tüftelt sie an Tomatensaucen und Dattelbonbons. Das Projekt heisst Yelemani.

Blandine Sankara ist 17 Jahre jünger als ihr Bruder; als dieser die Revolution machte, war sie Mittelschülerin. Später studierte sie Entwicklung in Genf. Sie schrieb ihre Abschlussarbeit über afrikanische Mangos und die Gründe, warum diese kaum exportiert werden. Dann hatte sie eine Sinnkrise: «Ich habe die Dozenten gefragt: Jetzt habe ich ein Diplom in Entwicklung – was fange ich damit an?»

Sie fand die Antwort an einem unwahrscheinlichen Ort: in einem Schweizer Supermarkt, der Migros. Dort sah sie Fotos von Schweizer Bauern an den Wänden hängen. «Ich sah, wie Bauern wertgeschätzt wurden. Bei uns ist es das Gegenteil: Das Lokale wird verachtet.»

Später, zurück in Burkina Faso, kaufte sie die zwei Hektaren Einöde, später weiteres Land. Es geht ihr nicht ums Gärtnern, es geht ihr um mehr. «Wollen wir in Afrika Öl exportieren, oder wollen wir essen?» sagt sie.

Es ist eines der grossen Themen in Burkina Faso und in Afrika: Ernährungssicherheit. Es war ein Thema in den 1980er Jahren, als grosse Dürren den Sahel und das Horn von Afrika verwüsteten. Es ist noch immer ein Thema. Blandine Sankara sieht sich gerade bestätigt dadurch, dass der Ukraine-Krieg die Preise vielerorts in Afrika hochgetrieben und die Abhängigkeit von Weizenimporten aufgezeigt hat.

Sankaras Garten ist ein politisches Projekt: «Yelemani» bedeutet Wandel. Sie plant, auf dem Gelände eine Bibliothek einzurichten und ein Bildungszentrum, in dem Debatten stattfinden sollen. Sie empfängt Schulklassen. Sie schickt sie dann in die Läden der Umgebung, wo die Kinder nach der Herkunft der Produkte fragen sollen. Sie nennt das: «Das Nachdenken nähren.»

Und wenn Blandine Sankara so erzählt, klingt sie immer stärker wie ihr Bruder. «Wir sollten Vertrauen in uns selber haben, stolz auf uns sein», sagt sie. Doch Blandine Sankara ist eine Sankaristin, die zwar Sankara heisst, sich aber der Heiligenverehrung verweigert. Spricht man sie auf den Bruder an, sagt sie: «Die Revolution war ein Entwicklungsmodell. Sie war nicht an eine Person gebunden.»

Vielleicht ist es das, was Thomas Sankaras Verehrer manchmal vergessen, wenn sie darauf warten, dass der Messias zurückkehrt. Echte Revolutionen wachsen von unten.

Überall Sankara: Graffiti in Ouagadougou.

Überall Sankara: Graffiti in Ouagadougou.

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