Warum Langeweile total gut für uns ist

Ob an der Bushaltestelle oder in der Warteschlange: Überall, wo es mal nichts zu tun gibt, holen wir sofort das Handy raus. Warum?

Weil wir es allein mit uns und unseren Gedanken nicht aushalten. Also suchen wir nach Ablenkung – von uns selbst, sozusagen. Die finden wir am schnellsten im Smartphone.

Klingt traurig. Was bringt die sofortige Ablenkung in diesen Momenten?

Es ist eine Art Flucht. Wenn ich dort einfach stehe, warte und nichts tue, habe ich das Gefühl, dass die Zeit unendlich langsam vergeht. Parallel dazu fährt meine Selbstwahrnehmung hoch. Das fühlt sich für viele unangenehm an.

Also schaue ich zur Zeitüberbrückung lieber in meine Mails.

Ja, Sie verlieren sich in der Tätigkeit, haben weder ein Zeit- noch ein Ich-Gefühl. Und schon ist das Warten in Nullkommanichts vorbei.

Sie haben zu Langeweile geforscht, was konnten Sie herausfinden?

Ich benutze die Langeweile als Mittel zum Zweck, zur Erforschung der Zeit. Also habe ich Menschen einfach warten lassen. Sieben Minuten ohne Handy oder andere Ablenkungsmöglichkeiten – in einem total langweiligen Raum.

Das Ergebnis?

Neben persönlichen Eigenschaften haben wir erfragt, wie lange die Leute glaubten, gewartet zu haben. Wir konnten einen klaren Zusammenhang zwischen Langeweile und Zeitwahrnehmung erkennen – und der Persönlichkeit. Für Leute, die emotional selbstkontrolliert sind, also weniger impulsiv, verging die Zeit schneller. Impulsive Menschen empfanden die Situation als unangenehm und überschätzten die Dauer.

Was ist Langeweile überhaupt?

Die besonders intensive Wahrnehmung meiner Selbst und der Zeit bei einem insgesamt negativen Gefühl. Neutral betrachtet heißt Langeweile eigentlich nur, dass ich keinen Input bekomme. Es ist also auch ein Zustand der Null-Aktivität. Nichts passiert. Keine Ablenkung, kein soziales Umfeld.

Warum ist dieses Gefühl trotzdem wichtig?

Weil wir, wie bei allem im Leben, die Abwechslung zwischen Aktivität und Ruhe brauchen. Das ist gesund. Wer tagsüber aktiv ist, sollte abends mal zur Ruhe kommen. Nicht zwangsläufig den ganzen Abend, aber in Momenten.

Dafür müssten wir uns von der ständigen Ablenkung lösen. Sonst kann ein Null-Input-Level ja gar nicht erst entstehen …

Richtig, wir blockieren uns aber quasi ständig selber. Und damit natürlich auch jegliche Selbsterfahrung, weil wir durch ständige Ablenkung gar nicht mehr realisieren, wer wir sind, was wir sind, was wir wollen, was unsere Bedürfnisse sind.

Warum fällt es so schwer, diesen Zustand ohne Input auszuhalten und damit auch die eigenen Gedanken?

Weil wir nicht einfach vom Aktivitätsmodus auf den Ruhemodus umschalten können. Wer nach einem vollen Tag mit lauter Gesprächen, Meetings und Mails nach Hause kommt, ist immer noch voll aktiv. Und plötzlich ist da dieses Nichts. Das kann drückend sein und schwer auszuhalten.

Warum sollte man das dennoch tun?

Nur, wer auch mal durch das Tal der Langeweile geht, regt das Hinterstübchen an und kommt auf frische Gedanken. Allerdings stehen dem Prozess eben erst einmal die schweren Gedanken im Weg.

Das klingt nach dem klassischen Künstler-Klischee: eine Weile auf die weiße Leinwand starren, bis irgendwann der Geistesblitz kommt.

Es betrifft aber uns alle, nicht nur Künstler. Im Alltag wäre es der Moment, wenn Sie nach einem stressigen Tag abends etwas zu essen machen wollen. Sie stehen vorm Supermarktregal und wissen nicht, was sie kaufen sollen. Oftmals braucht es also eine Art der Ruhe, eben auch Langeweile, um wieder zu Ideen zu kommen.

Was kann ich da konkret tun?

Sie können das Runterkommen lernen. Manche Leute gehen zum Beispiel am Ende des Arbeitstages zu Fuß nach Hause. Auch wenn es 30 Minuten oder mehr sind. Andere gehen Joggen, um das Adrenalin rauszupumpen und sich körperlich zu erschöpfen. Auch Meditation oder Yoga können helfen.

Hm. Ist all das nicht auch eine Form der Ablenkung?

Ich würde eher sagen, wir lernen dadurch entspannende Ruhe.

Gelangweilte wirken von außen betrachtet ja schnell, na ja, faul. Aber so, wie Sie es beschreiben, braucht man für Langeweile tatsächlich Selbstdisziplin!

Damit man sie aushält – ja. Man könnte sagen, es ist eine Tugend, Langeweile zu ertragen.

Gibt es eigentlich verschiedene Gefühlsstufen der Ödnis?

Ja, wenn ich beispielsweise in einem emotionalen Zustand festhänge, also zwischen dem Wunsch, etwas Sinnstiftendes zu tun, und der zeitgleichen Unfähigkeit, mich zu bewegen, dann spricht man von einer existenziellen Langeweile. In diesem Zustand fehlt mir der Antrieb. Ich könnte alles machen, joggen oder ins Kino gehen, Freunde anrufen, die Briefmarkensammlung sortieren – doch mir fehlt die Motivation. Ich weiß einfach nichts mit mir anzufangen, und das spüre ich auch.

Und eine andere Stufe wäre?

Die situative Langeweile. Bedeutet: Sie sind in einer konkreten Situation beispielsweise über- oder unterfordert. Wenn Sie plötzlich in einem Seminar zu den mathematischen Grundlagen der Quantenphysik säßen, wären Sie stark überfordert – und bald sehr gelangweilt, weil Sie überhaupt nicht begreifen können, was die da reden. Säßen Sie dagegen in einem Klassenraum bei Mathematik für Erstklässler, wären Sie unterfordert. Auch das führt, Sie ahnen es, zu Langeweile.

Was will mir die Langeweile sagen?

Fast alle Emotionen sind Signale für uns zur Verhaltensänderung, das ist die Funktion dahinter. Wenn wir Angst haben, wollen oder sollten wir vielleicht weglaufen oder etwas vermeiden. Langeweile, gerade die situative, fördert den Handlungstrieb. Sie zeigt, dass irgendwas hier gerade nicht stimmt.

Moment. Langeweile ist ein Gefühl des Nichts, des Stillstands – und will uns dadurch in Aktion bringen?

Genau. In der situativen Langeweile ist das ja auch super: Ich verlasse die Vorlesung zur Quantenphysik. In der existenziellen ist es allerdings etwas komplizierter.

Heißt?

Na ja, Sie können sich ja nicht selbst entfliehen.

Was ist der Unterschied zwischen Langeweile und Muße?

Das sind gegensätzliche Zustände, die trotzdem nah beieinanderliegen. Rein äußerlich betrachtet ist die Muße der Langeweile nämlich sehr ähnlich. Wenn Sie jemanden Löcher in die Luft starren sehen, wissen Sie nicht: Langweilt der sich oder genießt der diesen Zustand. Und genau da liegt der Unterschied: im Gefühl. Das positive Gefühl gehört zur Muße, Sie sind entspannt, genießen die ruhige Zeit, in der nichts passiert, während die Langeweile sich eher schlecht anfühlt.

Warum?

Uns fehlt dann die Resonanz der Welt und der anderen. Es gibt eine Forschung, bei der die Probanden mittels einer App zu willkürlichen Zeiten eintragen müssen, was sie gerade tun, mit wem sie das tun – und wie es ihnen geht, auch in Bezug auf Langeweile. Da wird klar: In sozialen Situationen fühlen sich die Leute besser. Auch die Zeit vergeht schneller. Wenn man alleine ist oder sich alleine fühlt, spürt man die Langeweile eher und intensiver – und damit einher auch all die negativen Gefühle.

Ab wann wird das Gefühl gefährlich für mich?

Ganz wichtig: Wir brauchen immer die Balance. Vorsichtig formuliert ist die Langeweile nämlich ein ganz, ganz kleiner Ausriss der Depression. Patienten mit Depression erleben eine starke Über-Repräsentation des Ichs. Dazu vergeht die Zeit nicht nur langsam, sie stecken sogar richtig in ihr fest.

Laut einer Studie von 2017 sind Männer und jüngere Erwachsene am ehesten gelangweilt. Wie erklären Sie sich das?

Grundsätzlich kann man sagen, dass Frauen etwas sozial kompetenter sind als Männer. Und auch leicht empathischer. Das hilft in Bezug auf Langeweile schon mal weiter, sie grenzen sich weniger ab als Männer.

Was wäre denn, wenn wir uns alle besser langweilen könnten?

Es gäbe mehr Gelassenheit! Da fällt mir ein Zitat des französischen Mathematikers und Philosophen Blaise Pascal ein, der sinngemäß sagte: Das ganze Unglück der Menschen kommt daher, dass sie nicht ruhig in einem Zimmer bleiben können. Wer der Langeweile entfliehen will, neigt zu spontanen, impulsiven Handlungen, die vielleicht nicht so gut sind, oftmals sogar schlecht. Heißt: Wenn wir alle die Langeweile aushalten könnten, wäre die Welt vielleicht eine bessere …

DR. MARC WITTMANN vom Institut für Grenzgebiete der Psychologie hat einige Bücher geschrieben – zur Zeit.