wenn Eltern ihre Kinder selber unterrichten

Ein Besuch bei einer Familie im Aargau zeigt: Mit Abschottung hat Unterricht zu Hause wenig, mit eigenen Wegen, Freude an Kindern und Versagensängsten hingegen sehr viel zu tun.

«Wann gehen wir in den Wald?» Ronja muss sich noch etwas gedulden. Die Sechsjährige hat schon recht viel gemacht an diesem Montagvormittag Ende Januar. Zum Beispiel Buchstaben schreiben in ihrem Übungsheft. M, M, M. Ufe, abe, ufe, abe. Und dann N, N, N.

«Ufe, abe, ufe», wiederholt das Mädchen, nachdem ihm seine Mutter am Esszimmertisch in ihrem Haus im aargauischen Oberlunkhofen gezeigt hat, wie man ein grosses N schreibt. Sie muss auch kleine m schreiben, obwohl das bei dieser Aufgabe gar nicht vorgesehen ist. Und kleine n, n, n.

Ronja summt zufrieden vor sich hin, während sich die Zeilen vor ihr langsam füllen. «Das machst du super!» Ufe, abe, ufe. «Jetzt wirst du wieder kleiner mit den Buchstaben. Irgendwann sollten sie so aussehen.» Véronique Reich, die Mutter, die ihre Tochter seit kurzem selber unterrichtet, zeigt auf die Vorlage im Heft. Da stehen die M und N schön grade.

Die 41-Jährige hat sich ein Ziel gesetzt: Im Sommer soll Ronja lesen können. Dabei wäre die Kleine eigentlich noch im Kindergarten – wenn ihre Eltern sie nach den Weihnachtsferien nicht rausgenommen hätten.

Die sechsjährige Ronja beim Zahlen-Schreiben am Esszimmertisch in Oberlunkhofen. Véronique Reich, die Mutter, die gleichzeitig Ronjas «Lehrerin» ist, schaut zu und hilft bei Bedarf.

Die sechsjährige Ronja beim Zahlen-Schreiben am Esszimmertisch in Oberlunkhofen. Véronique Reich, die Mutter, die gleichzeitig Ronjas «Lehrerin» ist, schaut zu und hilft bei Bedarf.

Ein Trend in der Pandemie?

Véronique Reich und ihr Mann Martin haben sich für Homeschooling entschieden: ein Konzept, das während der Corona-Pandemie für viele Schlagzeilen und bei den meisten Leserinnen und Fernsehzuschauern vermutlich für noch mehr Skepsis sorgte – ein typisches Phänomen bei Schulformen, die für Aussenstehende schwer nachzuvollziehen sind, weil sie komisch wirken.

Die eigenen Kinder auf Dauer zu Hause unterrichten? Ohne Lehrerstudium? Die Meinungen der meisten Eltern und Schulvertreter scheinen gemacht: die armen Kinder! Das kann nicht gut sein für ihre Entwicklung, so ganz ohne Klassenkameraden, in der Isolation des elterlichen Unterrichts daheim.

Erst recht in der Pandemie, als Primarschüler vom einen Tag auf den anderen aus der Schule genommen wurden, weil ihre Eltern sie vor einer Ansteckung bewahren wollten. Oder aus Protest gegen die Maskenpflicht. Viele Medien schrieben gar von einem «Trend» zu Homeschooling, der sich im Zuge von Fernunterricht und dem zermürbenden Kampf gegen das Virus an den Schulen eingestellt habe.

Das gefällt nicht allen. Im Aargau, dem Kanton mit den liberalsten Homeschooling-Bestimmungen der Deutschschweiz, gab es im Herbst einen Vorstoss der SP und der Grünen im Parlament, der die Schraube deutlich anziehen wollte: Abmeldungen aus dem Kindergarten oder der Primarschule nur noch per Semesterende – und vor allem sollte ein Elternteil künftig eine pädagogische Ausbildung vorweisen müssen, um die eigenen Kinder selber daheim unterrichten zu dürfen.

Homeschooling-Regeln: Aargau und Bern sind liberal, Zürich und Basel-Stadt dagegen streng

R. Sc. · Die Homeschooling-Regeln in der Schweiz sind von Kanton zu Kanton verschieden. Neben dem Aargau gilt auch Bern als liberal: Nicht-Lehrerinnen dürfen ihre Kinder ebenfalls selber unterrichten, sie müssen sich aber von einer pädagogisch ausgebildeten Person anleiten lassen. Bis man von der Bildungs- und Kulturdirektion eine Bewilligung bekommt, kann es drei bis sechs Monate dauern.

Zürich ist vergleichsweise strikt: Wer seine Kinder länger als ein Jahr zu Hause unterrichten will, muss über eine abgeschlossene Lehrerausbildung verfügen. Es gibt auch freischaffende Lehrer, die ihre Dienste anbieten. In Basel-Stadt ist Homeschooling «nur in begründeten Ausnahmefällen» erlaubt, wie es auf der Website der Erziehungsdirektion heisst.

Im Online-Forum des Vereins Bildung zu Hause finden sich viele Angebote für Homeschooling-Familien, zum Beispiel gemeinsame Exkursionen ans Paul-Scherrer-Institut in Villigen.

Man wolle nicht mehr als «Einwanderungskanton» gelten für Homeschooling-Familien, argumentierten die Befürworter. Die Zahl privat geschulter Kinder habe sich in zehn Jahren mehr als verzehnfacht (von 44 auf 573, das entspricht 0,7 Prozent aller Kindergärtler, Primar- und Sekundarschüler im ganzen Kanton). Französisch, Englisch, «neue Fächer wie Natur und Technik usw.»: Die Anforderungen in der Primarschule seien gestiegen. Da brauche es eine gute Ausbildung, um den Schulstoff adäquat vermitteln zu können, hiess es in der Debatte im Grossen Rat.

Die Vorlage wurde zuerst deutlich abgeschwächt – und von der bürgerlichen Mehrheit am Ende trotzdem abgelehnt. Nicht-Lehrerinnen und -Lehrer dürfen ihre Kinder also weiterhin selber unterrichten, wenn sie das wollen.

«Ich will es selber machen, Mama!»

Véronique Reich hat die Verschärfungsdebatte im Parlament gar nicht mitbekommen. Sie gehört aber auch nicht zu jenen, die ihre Kinder plötzlich daheim behalten wollen, schon gar nicht aus Angst vor dem Coronavirus, das im Winter noch immer sein Unwesen trieb an Schulen und Kindergärten. Sie sagt: «Ich beschäftige mich schon seit zwei Jahren mit Homeschooling. Aber bis jetzt hat mir der Mut gefehlt, das durchzuziehen.»

Véronique arbeitet als Wanderköchin, das heisst, sie beliefert Firmen und Partys mit hausgemachten Häppchen, Apéros und kompletten Menus. Sie hat das KV gemacht und im Detailhandel, in der Gastronomie und in mehreren Büros gearbeitet. Samstags oder sonntags ist sie am Empfang einer psychiatrischen Klinik im Einsatz.

Ihr Mann hat Kunst studiert und arbeitet in einer Schreinerei. Seit Ronja nicht mehr in den Kindergarten geht, hat er sein Pensum reduziert – damit sich seine Frau freitags und am Wochenende auf ihre Aufträge konzentrieren kann. Und weil Véronique und Martin Reich ihr Kind gemeinsam unterrichten wollen. Auch wenn der grösste Teil der Arbeit bei der Mutter liegt.

Véronique Reich und ihr Mann Martin halten jeden Tag fest, was sie mit ihrer Tochter gemacht haben im Homeschooling.

Véronique Reich und ihr Mann Martin halten jeden Tag fest, was sie mit ihrer Tochter gemacht haben im Homeschooling.

Das zeigt sich bereits beim Morgenritual an diesem Montag: Noch vor der ersten «Schulstunde» um 9 Uhr am Esszimmertisch haben Ronja und Véronique einen Teig gemacht für ein Schlangenbrot, das sie später über dem Feuer braten wollen: drei Deziliter Wasser, Hefe, zwei Esslöffel Olivenöl, zwei Kaffeelöffel Salz. Und dann 500 Gramm Mehl in die Schüssel.

«Jetzt kannst du ein bisschen rühren. Und jetzt gut kneten . . . Schwierig, mit dem all dem Teig an den Fingern, gell? Soll ich mal?» Die Mutter will vorwärtsmachen. Ronja hingegen möchte den Teig selber ins Ziel bringen. In ihrem eigenen Tempo, vielleicht noch etwas verträumt. Sie sagt zwar: «Ich will es selber machen, Mama!» Doch dann setzt sich die Chefin durch. Zack – fertig geknetet, der Teig kommt in eine Tupperware. Schliesslich stehen heute nicht nur Buchstaben, sondern auch Zahlen auf dem Programm.

Véronique Reich sagt: «Sie braucht noch etwas Zeit.» Und nein, sie wolle Ronja nicht beschützen vor der «bösen Welt» da draussen. Aber im Kindergarten sei es immer so laut gewesen. «Da war so viel Hektik.» Das kleine Mädchen, das noch seine beiden Plüschmäuschen mit an den Esszimmertisch bringt, sei noch nicht angekommen.

Und überhaupt: diese Mütter, die überall herumerzählten, was ihr Kind schon alles könne. Dieser Druck, die Drohung mit dem «Ernst des Lebens», der angeblich in der ersten Klasse beginne. Wenn Kinder wegen vermeintlicher «Defizite» zu «Problemkindern» gemacht würden. Dieses Verbissene. «Ich will mich dem nicht aussetzen. Das ist nicht schön!», ärgert sich die Mutter. Sie nimmt die Schulbildung ihrer Tochter lieber selbst in die Hand.

Kontrollbesuch der Schule zu Hause

Was hat sich verändert, seit Ronja nicht mehr in den Kindergarten geht?

«Es ist entspannter», antwortet Véronique. «Es macht mehr Freude.» M und N, dann ein paar Rechenübungen im Zahlenheft: «Bei plus kommt etwas dazu, bei minus kommt was weg. Wie viele Rundumeli sind es in diesem Bild? . . . Hey, supi!» Véronique Reich schaut Ronja zu, lässt sie in Ruhe nachdenken, zählen mit den Fingern, Zahlen hinschreiben, auch wenn nicht alle auf Anhieb stimmen. «Man darf Fehler machen», sagt die Mutter.

Homeschooling bietet viele Freiheiten, so fühlt es sich zumindest an. Der Unterricht zu Hause lässt sich gut mit anderen Aktivitäten kombinieren. Nach einer knappen Stunde am Esszimmertisch gehen Ronja und Véronique hinaus in den nahen Wald. Frische Luft gehört bei den Reichs dazu – jeden Tag.

Ausserdem kann man das Gelernte in der Natur vertiefen: Man kann zum Beispiel Tannenzapfen sammeln, verschieden grosse Häufchen damit machen und dann Zahlen und zählen üben. Und sie später mit nach Hause nehmen und gemeinsam versuchen, die Zapfen den richtigen Tannenarten zuzuordnen.

Oder Vögel beobachten und ihre Namen aufschreiben auf einem Stück Papier. Und dann vergleichen mit dem Poster mit einheimischen Vogelarten, das bei Ronja im Zimmer hängt. Das kann auch nach einem Spaziergang am Wochenende sein, wenn keine «Schule» ist.

Mutter und Tochter gehen jeden Tag raus in die Natur – egal, bei welchem Wetter. Zum Beispiel zum Tannenzapfen Sammeln, um Zahlen und Zählen zu üben mit ihnen.

Mutter und Tochter gehen jeden Tag raus in die Natur – egal, bei welchem Wetter. Zum Beispiel zum Tannenzapfen Sammeln, um Zahlen und Zählen zu üben mit ihnen.

Aus dem Schlangenbrot an der Feuerstelle wird jedoch nichts: Es regnet in Strömen an diesem Montag. Ronja und Véronique ziehen unverrichteter Dinge wieder ab. Der nächste Punkt am Esszimmertisch: eine Runde Mikado, mit Gurkenschnitzen und Tsatsiki zur Stärkung. Véronique Reich sagt: «Beim Homeschooling kann man kreativ sein. Wir sind nicht an fixe Zeiten gebunden.»

Die Mutter achtet darauf, dass es der Kleinen nicht zu viel wird. Zwischendurch darf Ronja immer wieder Pause machen und zum Beispiel «TKKG» in ihrem Zimmer hören. Am Nachmittag hat sie frei.

Das klingt recht locker. Doch für private Schulung, wie Homeschooling offiziell genannt wird, gibt es klare Regeln, auch im liberalen Aargau. Bis zur zweiten Primar müssen Kinder mindestens zwei Stunden täglich «strukturierten Unterricht» erhalten. Ab der dritten «Klasse» sind es mindestens drei und in der Oberstufe mindestens vier Stunden pro Tag. So steht es in der Verordnung über die Volksschule, Paragraf 34.

Einzelunterricht ist intensiver als Klassenunterricht, daher die vergleichsweise wenigen «Lektionen» pro Tag. Ausflüge wie der verregnete Spaziergang in den Wald dürfen dieses Mindestmass an Homeschooling-Stunden allerdings nicht ersetzen. Das sei ein verbreitetes Missverständnis, sagt Stefan Schnyder, der stellvertretende Leiter der Schulaufsicht des Kantons.

Für Ronja und Véronique Reich heisst das: Die eine Stunde mit den Buchstaben und Zahlen hätte nicht gereicht an diesem Vormittag. Aber das macht nichts, sie können noch üben. Der Kontrollbesuch von Gemeinde und Kanton steht noch aus: Irgendwann im ersten Homeschooling-Jahr werden sich Vertreter der Schule Oberlunkhofen und der Schulaufsicht ein Bild machen vom Unterricht im Hause Reich.

Erweist sich der Unterricht als ungenügend, kann die Schulleitung verfügen, dass Ronja zurück in den Kindergarten beziehungsweise in die Primarschule muss. Doch das kommt eher sehr selten vor, wie Schnyder bestätigt. Auch die Oberlunkhofer Schulleiterin Diana Wittwer kann sich an keine Probleme erinnern; das Verhältnis mit den (wenigen) Homeschooling-Eltern im Dorf ist offenbar entspannt. Wer sein Kind selber unterrichtet und für dessen schulische Entwicklung somit die alleinige Verantwortung übernimmt, will es richtig machen.

Am Abend ins Kindertheater

Im Dezember haben Véronique und Martin Reich der örtlichen Schulleitung und dem Kanton eine Liste mit 24 Punkten eingereicht, die Ronja bis zum Ende des Schuljahres beherrschen soll. Neben «lesen» und «einfache Mathematik» steht da auch «Uhrzeit lesen», «Pilze züchten», «auf Stelzen laufen» oder «selbständig im Volg Milch, Brot oder sonstige Kleinigkeiten einkaufen» drauf.

Die Lernziele richten sich nach dem Lehrplan 21. Homeschooling soll dasselbe vermitteln wie im Kindergarten und in der Primarschule. Die Liste mit den Lehrmitteln, Kinderbüchern und Hörspielen ist noch länger, mit Geschichten von den Brüdern Grimm über Bücher von Alois Carigiet bis Otfried Preussler. Auf dem Wohnzimmertisch liegt «Mio, mein Mio» von Astrid Lindgren. Véronique Reich sagt: «Wir lesen ihr jeden Tag vor.»

Fortschritte und Projekte von Ronja halten die Eltern in einem Lernportfolio fest, das sie den Behörden vor der Kontrolle ebenfalls vorlegen müssen. Und sie haben der Schulleitung in Oberlunkhofen einen selbstgemachten Stundenplan abgegeben. Dort sind nicht nur die täglichen zwei Stunden «Schulunterricht» verzeichnet, sondern auch «regelmässige Aktivitäten mit anderen Kindern». Schliesslich haben sich die Reichs auch verpflichtet, nicht nur die Sach- und Selbstkompetenz ihrer Tochter, sondern auch Ronjas Sozialkompetenz zu fördern, wie es in der Vereinbarung mit der Schule heisst.

Am Montagabend besucht das Mädchen jeweils ein Kindertheater in Zürich. Jeden zweiten Dienstagvormittag steht Turnunterricht mit anderen Homeschooling-Kindern an. Mittwochs trifft sich die Sechsjährige mit Freundinnen auf einem Spielplatz oder im Wald. Am Freitagnachmittag hat sie Schwimmunterricht.

Am Donnerstagnachmittag machen Ronja und ihre Mutter seit einigen Wochen regelmässig mit einer Homeschooling-Familie aus einem Nachbardorf ab, zum Beispiel für einen Parcours mit Bälle-Werfen und Unihockey-Slalomkurs draussen. Die Tochter ist 9, der Sohn 6 Jahre alt – zwei neue Freunde für Ronja. Kennengelernt haben sich die beiden Familien über das Online-Forum des Homeschooling-Vereins Bildung zu Hause.

Zwei Tage nach meinem Besuch in Oberlunkhofen probieren Ronja und Véronique Reich zudem den Freiraum Bremgarten aus, einen Treffpunkt für «Familien, die sich für einen offeneren Bildungsweg entschieden haben». So steht es auf der Homepage des Trägervereins, der wegen schlechter Erfahrungen mit Medien nicht mit mir sprechen will. Sie hätten getrommelt, gemalt, getanzt, Spiele gespielt und gesungen mit den anderen Kindern, erzählt Ronja zufrieden, als Véronique Reich sie um vier Uhr abholen kommt. Es bleibt eine einmalige Sache.

Warum Homeschooling?, will ich in Bremgarten von einer weiteren Mutter wissen, einer freischaffenden Künstlerin, die ihre beiden Töchter ebenfalls zu Hause unterrichtet. «Weil wir grosse Freude an Kindern und am Lernen haben. Das ist die schönste Sache überhaupt», antwortet die Frau.

Es klingt sehr überzeugt. Ihre Zehnjährige habe unbedingt Homeschooling machen wollen. Da habe sie sich gesagt: «Dann gebe ich mein Atelier halt auf und male fünf Jahre lang nicht.» Sie habe ihre Kinder auch nicht aus einer Laune heraus aus der Schule genommen. «Es ist ein Prozess.» Man müsse sich damit auseinandersetzen, wie man lehren und lernen wolle.

Diese Fragen stellen sich viele Eltern. Einige entscheiden sich dann tatsächlich für einen anderen Weg. «Als wir vor zehn Jahren angefangen haben, gab es 30 bis 40 Familien in unserem Verein. Jetzt sind es 1000», sagt Patrick Ziegler, Präsident von Bildung zu Hause Schweiz und Vater von fünf Kindern, die bis auf die Jüngste alle daheim unterrichtet werden. Auch bei Zieglers übernimmt die Frau den grössten Teil der privaten Schulung. Er kümmere sich zum Beispiel um Technik und Physik, sagt Ziegler, der als Ingenieur arbeitet.

Christlich-konservative Wurzeln

Der Verein war einst christlich-antietatistisch geprägt. Willi Villiger, Zieglers Vorgänger als Präsident, ein zehnfacher Familienvater, sprach 2019 in einer Sendung des rechtskonservativen Magazins «Schweizerzeit» von einem «übergriffigen» Staat, der die Schulen instrumentalisiere, Kinder früh sexualisiere und Familien zersetze. «Für mich ist die Homeschool-Bewegung ein Rückeroberungsversuch von Familien, die ihre Bildungsideale selber umsetzen wollen», sagte der Mann, der als Sekundarlehrer seinerseits vom Staat ausgebildet worden war und ein ganzes Berufsleben lang bezahlt wurde.

Konservative Homeschooling-Eltern unter sich: Diskussionssendung des Magazins «Schweizerzeit» von 2019.

Youtube/Schweizerzeit

Patrick Ziegler betont, dass sein Verein sehr heterogen geworden sei. Religiöse Beweggründe gebe es nur noch selten. Skepsis gegenüber Schulklassen ist jedoch auch bei ihm zu spüren. Das vorgegebene, «kanalisierte» Lernen könne den Wissensdurst beeinträchtigen, sagt der Präsident. Sein Credo: lieber individuell. «Jedes Kind soll da lernen können, wo es sich am wohlsten fühlt», sagt er. Und: Homeschooling sorge für Chancengleichheit – als Alternative für jene, die sich eine Privatschule nicht leisten könnten.

Den Einwand, dass nicht jedes Kind geeignet sei für Homeschooling, kontert Ziegler mit einer Studie von Pro Juventute aus dem vergangenen Jahr. Dort heisst es, dass rund ein Drittel der Kinder und Jugendlichen in der Schweiz sehr gestresst seien, dies unter anderem wegen zu hoher Erwartungen und (Angst vor) Mobbing in der Schule. Ziegler sagt: «Nicht jedes Kind ist geeignet für die Volksschule.»

Glücksfall Co-Learning-Space

Homeschooling kann mehr sein als Unterricht zu Hause. Das zeigt sich bei einem Besuch im Effinger in Bern – einem Co-Working-Space, der sich auch als Co-Learning-Space versteht.

Jonathan Bucher, 15 Jahre alt, trifft sich an diesem Mittwochvormittag im März mit einem Nachhilfelehrer, um die Wahrscheinlichkeitsrechnung noch einmal durchzugehen. Seit er auf der Oberstufe ist, verbringt der Schüler jeweils vier Halbtage die Woche in dem schicken Café. Für Nachhilfestunden, um anderen «Effianern» seine Projekte vorzustellen und jüngere Schüler anzuleiten im Co-Working-Space, aber auch, um im oberen Stock in Ruhe sein Langzeitvorhaben voranzutreiben: Er schreibt einen Fantasy-Roman. Den Rest der Zeit verbringt Jonathan zu Hause, im «klassischen» Homeschooling, wie seine jüngeren Geschwister auch. Wenn er nicht grade Unihockey spielt mit der U-16 der Bern Capitals.

Die anwesenden Lehrer – «Senior-Co-Learner», wie man im Effinger sagt – beschreiben Jonathan als hartnäckigen, sehr eigenständigen, reflektierten jungen Mann, der in den beiden Jahren in dem Co-Working-Space viel gelernt habe, auch persönlich: Er sei offener und selbstsicherer geworden und übernehme Verantwortung, etwa, wenn er erwachsenen Neulingen die Kultur des Miteinanders in dem Café näherbringe.

Jonathan sagt: «Ich werde eine Winzerlehre machen.» Einen Ausbildungsplatz hat er bereits gefunden. Noten oder eine Erklärung, was Homeschooling genau bedeute, habe sein künftiger Lehrmeister nicht verlangt. «Er wollte vor allem sehen, wie ich ticke», erzählt der 15-Jährige. Zweimal zwei Tage mit anpacken in dem Betrieb, dann hatte er die Stelle.

Sein Beispiel ist nicht untypisch. Daten aus der Schweiz gibt es keine, Studien in den USA deuten indes darauf hin, dass Jugendliche aus Homeschooling-Familien gleich gute Chancen haben im Leben wie jene, die an einer öffentlichen Highschool zur Schule gegangen sind. Die meisten Kinder von Willi Villiger studieren oder haben studiert, einer der Söhne war nach Jahren Homeschooling bei der eidgenössischen Matur gar der Beste seines Jahrgangs. Jonathans Schwester will nach der achten «Klasse» die Gymiprüfung probieren.

Véronique Reicht sagt: «Man darf Fehler machen.» Homeschooling sei entspannter als der Kindergarten. «Es macht mehr Freude.»

Véronique Reicht sagt: «Man darf Fehler machen.» Homeschooling sei entspannter als der Kindergarten. «Es macht mehr Freude.»

Die Volksschule kommt auch im Effinger schlecht weg. Von Beamten ist die Rede, wenn «Senior-Co-Learner» von ehemaligen Lehrerkollegen sprechen, die nach Vorschrift vollziehen würden, was von ihnen verlangt werde. Von einem Unterricht, der darauf ausgerichtet sei, den Stoff durchzupauken, statt die Kinder und Jugendlichen ins Zentrum zu stellen. Von Zucht und Ordnung im Schulzimmer gar, was nahezu verunmögliche, kreativ zu sein und eine Beziehung zu den Schülerinnen und Schülern aufzubauen. All das wolle man hier anders machen – auf Augenhöhe mit Jugendlichen wie Jonathan.

Co-Working-Spaces für Homeschooler ist ein Nischenangebot. Es kann sich aber als Glücksfall erweisen. Etwa dann, wenn das eigene Kind Interessen entwickelt, die zu Hause kaum mehr abgedeckt werden können. Oder wenn Mutter und Teenager sich immer mehr auf die Nerven gehen.

«Ich wusste, das ist genau das Richtige für ihn», sagt Thirza Schneider am Telefon, als sie von ihrem Sohn erzählt, der zwei Jahre jünger ist als Jonathan und ebenfalls ins Co-Learning im Effinger geht. Er mag Informatik und hat schon mehrere Projekte realisiert. Die Homepage der Berner Sektion von Bildung zu Hause etwa hat er gebaut. Im Austausch mit erwachsenen IT-Spezialisten in dem Café lerne er viel mehr als in einem Förderprogramm für Sekundarschüler, an dem er ebenfalls teilnehme, sagt die Mutter.

Schneider führt eine informative Website und bietet auch Beratungen für Eltern an. Sie kennt auch die unschönen Seiten. Zum Beispiel den Anfang («Ich hatte noch nie so viel Angst in meinem Leben wie damals, als wir die älteste Tochter aus der Primarschule genommen haben»), die Reaktionen der Nachbarschaft («Man muss damit rechnen, dass die anderen einen für verrückt halten») oder andere Krisen («Wenn du aufgeben möchtest» lautet der Titel von einem ihrer Blog-Einträge).

Selbstzweifel

Véronique Reich hat manchmal ebenfalls zu kämpfen. Ob ihr die Schule die Lehrmittel der ersten Klasse zur Verfügung stellen wird? Sie sagt zwar: «Jetzt ist jetzt.» Im Moment schauten sie und ihr Mann höchstens bis zum Ende der dritten «Klasse». Doch was ist, wenn der Stoff schwieriger wird in der vierten, fünften, sechsten? Fremdsprachen und Naturwissenschaften kann man im Homeschooling später auch online lernen. Nur keinen Druck aufbauen.

Gleichzeitig ist zu spüren, dass die Mutter sich selber unter Druck setzt. Sie will es richtig machen. Und ihre Tochter zu einem selbständigen Menschen erziehen. «Sie soll widersprechen. Ich will doch keine Miniversion von mir!»

Auch für Ronja ist es nicht immer leicht, daheim statt im Kindergarten zu sein. Ihre Freundinnen dort? «Ich vermisse sie manchmal schon ein bisschen», sagt sie zu mir. «Aber das macht nichts.»

An einem Freitag Ende Februar ist Ronja dabei, Joghurtbecher mit Erde zu füllen, Samen zu verteilen, Fähnchen zu beschriften und in die Erde zu stecken: MELONE. PEPERONI. CHERRYTOMATEN. Ihr Vater Martin schaut zu. «Du musst ein bisschen schöner schreiben.» – Die Antwort kommt prompt: «Sei still, sonst kann ich mich nicht konzentrieren!» Auch Ronja will es richtig machen. Die Becher bleiben vorerst im Wohnzimmer. Im Frühling kommen die Setzlinge in den Garten.

Ronja freut sich schon drauf. Aber auch auf etwas anderes: Am Nachmittag kommt eine Freundin zu Besuch zum Spielen.

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