Wer hat Angst vor Finanzminister Alain Berset?

Für viele Bürgerliche ist es eine Horrorvorstellung: die Bundeskasse in sozialdemokratischer Hand. Tatsächlich übernähme Berset mit einem Wechsel ins Finanzdepartement eine Machtzentrale. Die Geldschleusen würde er aber kaum öffnen.

Bei linken Parlamentariern löst ein möglicher Wechsel von Alain Berset ins Finanzdepartement keine Begeisterung aus.

Peter Klaunzer / Keystone

Ein Gespenst geht um in Bern. Das Gespenst eines roten Finanzdepartements. Bürgerliche Politiker tun sich mit der Vorstellung schwer: Alain Berset könnte am 9. Dezember das Bundesratszimmer als designierter Finanzminister verlassen. Dass der Sozialdemokrat auf das Finanzdepartement (EFD) schielen soll, wird schon länger kolportiert. Unplausibel ist das nicht. Berset ist zwar ursprünglich Politologe. Für seine Dissertation sattelte er allerdings auf Wirtschaftswissenschaften um. Eine gewisse Affinität zu finanzpolitischen Themen scheint vorhanden.

Es ist für Berset eine der letzten Chancen auf einen Departementswechsel. Mit seinen 50 Jahren ist er zwar noch weit weg vom Rentenalter. Als amtsältester Bundesrat dürfte er trotzdem nicht mehr ewig in der Regierung bleiben. Berset wird als erster Bundesrat sein Wunschdepartement nennen können. So will es das Anciennitätsprinzip. Das heisst aber noch nichts. Die bürgerlichen Kollegen können ihm den Weg ins EFD kraft ihrer Mehrheit versperren. Das käme allerdings einem Affront gleich. Ob man diesen in Kauf nehmen soll, darüber gehen im bürgerlichen Lager die Meinungen auseinander.

Ein «Ego-Projekt» Bersets

Mehrere Finanzpolitiker aus der SVP und der FDP warnen im Gespräch eindringlich davor, das EFD der SP zu überlassen. Ein linker Finanzminister würde die Geldschleusen öffnen, sagen sie sinngemäss. Die Warnung richtet sich aber primär ans Publikum des Berner Polittheaters. Unter der Bedingung, dass ihr Name nicht in der Zeitung steht, tönt alles halb so dramatisch: Ja, ein Finanzminister sei nicht allmächtig. Gewiss, «für einen Linken» sei Berset ziemlich vernünftig. Und ja, es habe auch gute SP-Finanzminister gegeben. Fast unweigerlich folgt eine Lobeshymne auf Otto Stich. Doch eben: Berset sei kein Stich.

Bei linken Parlamentariern löst die Aussicht auf einen Wechsel Bersets ins EFD keine Euphorie aus. Der politische Spielraum im Departement sei seit der Einführung der Schuldenbremse klein geworden, heisst es. Ein SP-Finanzminister wäre fast schon ein «verlorener Bundesrat». Manche würden Berset einen Wechsel ins EFD persönlich übelnehmen. Eine Nationalrätin spricht von einem «Ego-Projekt». Wegen des Rücktritts von SP-Bundesrätin Simonetta Sommaruga lande wohl das wichtige Umwelt- und Verkehrsdepartement (Uvek) in bürgerlichen Händen. Priorität habe nun, dass wenigstens das Innendepartement unter linker Kontrolle bleibe.

Solche Aussagen sind mit Vorsicht zu geniessen. Wenn es um die Verteilung der Departemente geht, wird hemmungslos gelogen und taktiert. Sollte die SP einem Wechsel Bersets ins EFD etwas abgewinnen können, wäre es töricht, dies durchblicken zu lassen. Das würde den Abwehrreflex im bürgerlichen Lager nur verstärken. Es ist durchaus denkbar, dass linke Politiker den Einfluss des Finanzministers wider besseres Wissen kleinreden.

«Persönlichkeit ist wichtiger als Partei»

Doch wirkt sich das Parteibüchlein überhaupt stark auf die Arbeit eines Finanzministers aus? «Eher nein», sagt Peter Siegenthaler. Seine Einschätzung hat Gewicht. Er gilt als EFD-Chefbeamter alter Schule. Bis zu seiner Pensionierung im Jahr 2010 war er Direktor der Eidgenössischen Finanzverwaltung (EFV). Obwohl er als Sozialdemokrat der «falschen» Partei angehört, hört man auch im bürgerlichen Lager fast nur Lob über ihn. Siegenthaler sagt: «Die Persönlichkeit ist wichtiger als die Parteizugehörigkeit.» Die einfache Gleichung «links gleich sorglos im Umgang mit den Finanzen» treffe sicher nicht zu. Und ein Finanzminister werde mit der Zeit stark geprägt durch die Aufgabe des Departements.

Peter Siegenthaler, ehemaliger Direktor der eidgenössischen Finanzverwaltung.

Peter Siegenthaler, ehemaliger Direktor der eidgenössischen Finanzverwaltung.

Keystone

Mit der oft gehörten These, die Verwaltung führe den Bundesrat statt umgekehrt, kann Siegenthaler allerdings wenig anfangen. Falls je ein Chefbeamter den Finanzminister im Griff gehabt habe, dann am ehesten Siegenthaler, sagen Beobachter. Für sein Harmoniebedürfnis war er nicht bekannt – auch nicht im Umgang mit seinen Vorgesetzten. Siegenthaler sagt: «Natürlich gibt es Auseinandersetzungen zwischen der Amtsleitung und der Vorsteherin oder dem Vorsteher.» Es sei wichtig, dass diese offen diskutiert würden und alle Argumente auf dem Tisch lägen. Dabei dürften auch einmal die Fetzen fliegen. Aber es sei der Finanzminister, der in politischen Fragen den Entscheid fälle. «Und diesen muss die Verwaltung auch dann loyal mittragen, wenn sie nicht begeistert ist.»

Der Chef wählt das Menu aus

Beamte im Finanzdepartement teilen Siegenthalers Einschätzung. Und sie sagen: Der politische Einfluss eines Finanzministers sei grösser, als es von aussen den Anschein machen möge. Der Departementschef ist kein Automat, der wertneutral die Einhaltung der Schuldenbremse sicherstellt. Ein Sozialdemokrat dürfte weniger Hemmungen haben, das Budget über höhere Einnahmen ins Gleichgewicht zu bringen, als ein Bürgerlicher. Die Hürden für Steuererhöhungen sind allerdings hoch. Es braucht dazu eine Verfassungsänderung, was wiederum eine Zustimmung von Volk und Ständen erfordert.

In der Praxis spielt die politische Haltung des Finanzministers vor allem bei den Ausgaben eine Rolle. Die Vorschläge, wo der Bund wie viel Geld ausgeben kann und soll, werden von der Verwaltung ausgearbeitet. Auf dem Pult des Finanzministers landet gewissermassen eine Speisekarte. Vieles interessiert ihn nicht, den grössten Teil genehmigt er. Die Beamten können ihren Chef also durchaus lenken. Aber nicht in Bereichen, die dem Finanzminister am Herzen liegen. Hier wählt der Chef das Menu aus. Die Verwaltung weiss zudem um seine Vorlieben. Sie verschwendet ihre Zeit nicht damit, detaillierte Kürzungsvorschläge auszuarbeiten, die beim Departementsvorsteher komplett chancenlos sind.

Macht verleiht dem Finanzminister aber vor allem seine Sonderrolle innerhalb der Regierung. Während die anderen Bundesräte ihr eigenes Gärtchen pflegen, nimmt sein Departement eine Querschnittsfunktion ein. Das EFD kann fast überall mitreden. Formell besitzt der Finanzminister zwar kein Vetorecht; er kann wie alle Bundesräte überstimmt werden. Allerdings trifft die Regierung die meisten Entscheide faktisch gar nicht in den wöchentlichen Sitzungen. Kampfabstimmungen ist selten. Die meisten Entscheide werden im Konsens gefällt. Der Grossteil der Auseinandersetzungen findet ausserhalb des Bundesratszimmers statt.

Machtausübung im Verborgenen

Eine zentrale Rolle spielt das sogenannte Mitberichtsverfahren. Alle wichtigen Geschäfte müssen dieses durchlaufen. Dabei legt das federführende Departement die Karten frühzeitig auf den Tisch. Wenn etwa die Verkehrsministerin Subventionen für die Eisenbahn erhöhen will, stellt sie ihren Antrag schriftlich zur Diskussion. Danach tauschen die Departemente schriftlich, aber auch in informellen Gesprächen, ihre Pro- und Contra-Argumente aus. So werden die Chancen eines Vorhabens ausgelotet, bevor im Bundesrat formell darüber abgestimmt wird. Zeichnet sich heftiger Widerstand ab, wird der Antrag vom federführenden Departement oft stark abgeändert oder landet gar im Papierkorb.

Das Wort des EFD hat im Mitberichtsverfahren ein starkes Gewicht. Es ist fast immer mit von der Partie. Entsprechend kann der Finanzminister die Vorhaben seiner Kollegen bereits in einem frühen Stadium durchwinken, beeinflussen, verzögern oder aufhalten. Der EFD-Vorsteher braucht dafür Fingerspitzengefühl. Auf Geheiss des Chefs à contrecœur eine Stellungnahme zu verfassen, gehört zwar zum Berufsrisiko eines Beamten. Zum Affen macht sich aber niemand gerne. Die zu vertretende Position sollte sachlich einigermassen begründbar sein.

Manchmal kommt es laut einem ehemaligen Beamten zu impliziten Tauschgeschäften: Wenn sich der Finanzminister engagiert für «politisch langweilige», aber aus Sicht der Verwaltung wichtige Anliegen einsetze, werde das geschätzt. Im Gegenzug steige die Motivation innerhalb der Verwaltung, gegenüber anderen Departementen «eher fragwürdige und politisch motivierte Positionen» glaubwürdig zu vertreten. Es sei ein Geben und Nehmen. Kurz: Ein Finanzminister ist nicht allmächtig. Aber mit Geduld und strategischem Geschick kann er einiges bewegen – oder verhindern.

Nichtangriffspakt zwischen Bundesräten

Vor der Schuldenbremse stand der EFD-Vorsteher allerdings oft auf verlorenem Posten. Jedes Mitglied vertritt im Bundesrat in erster Linie die Interessen seines Departements. Dieses Silo-Denken erschwert nicht nur eine kohärente Politik. Es fördert vor allem auch das Prinzip der gegenseitigen Nichteinmischung. Unter den Magistraten gilt das Motto: «Solange du meine Anträge in Ruhe lässt, halte ich mich auch bei Geschäften aus deinem Departement zurück.» Ein guter Finanzminister muss gegen diesen Nichtangriffspakt verstossen. Das liegt in der Natur seiner Rolle.

Wenn ein Kollege Geld für ein Vorhaben fordert, stemmt sich ausser dem EFD-Vorsteher oft niemand dagegen. Die anderen Bundesräte wissen: Schon bald werde ich mich in der gleichen Rolle wie mein Kollege befinden. Solidarisiere ich mich mit dem Finanzminister, riskiere ich eine Retourkutsche. Der EFD-Vorsteher kämpft deshalb häufig aus einer 1-zu-6-Position heraus für gesunde Finanzen. Vor der Einführung der Schuldenbremse war das besonders frustrierend. Der Finanzminister konnte im Wesentlichen Moralpredigten halten und auf ein Einsehen seiner Kollegen hoffen.

Mit der Einführung der Schuldenbremse im Jahr 2003 änderte die Dynamik. Sparpotenzial ortet zwar weiterhin jeder Bundesrat am ehesten in anderen Departementen. Die Ära der kollektiven Verantwortungslosigkeit ist aber vorbei. Alle wissen: Wir können uns zwar gegenseitig die Kuchenstücke streitig machen. Aber es gibt nur einen Kuchen. Die Schuldenbremse muss eingehalten werden. Geht die Rechnung insgesamt nicht auf, hat das Konsequenzen. Welche und für wen, entscheidet massgeblich der Finanzminister. Die Schuldenbremse ist für einen Finanzminister kein Korsett, sondern ein Machtinstrument.

Berset ist kein Stich

Was macht einen guten Finanzminister aus? Es brauche eine gewisse Liebe zum Detail, sagt der ehemalige Chefbeamte Peter Siegenthaler. Gerade in steuerlichen Fragen müsse sich ein EFD-Vorsteher auch mit eher technischen Fragen auseinandersetzen. Wahrscheinlich war dies eine der grössten Stärken des SP-Finanzministers Otto Stich: Es war ihm nicht peinlich, als Pedant dazustehen. Wenn es um seinen Rücktritt geht, wird oft nur sein Ärger über den «überflüssigen» Lötschberg-Tunnel erwähnt. Ein weiterer Grund war aber ein Darlehen des Bundes an die SBB. Der Bundesrat und das Parlament hatten dieses kreativ verbucht, damit es nicht in der Finanzrechnung auftauchte. Für andere war das eine harmlose Schummelei, für Otto Stich war es ein Skandal.

Ein introvertierter Buchhalter wäre allerdings kein geeigneter Finanzminister. Ein EFD-Vorsteher muss sich heute auf dem internationalen Parkett bewegen können. Bekanntlich wurden in den vergangenen Jahrzehnten mehrere Steuerreformen nicht ganz freiwillig angestossen. Sie kamen auf Druck des Auslandes zustande. Die Reaktion auf diesen Druck sei eine Gratwanderung, sagt Siegenthaler: «Einerseits sollte die Schweiz nicht in vorauseilendem Gehorsam einknicken. Anderseits bringt es nichts, an unhaltbaren Positionen festzuhalten, die man später ohnehin preisgeben muss.»

Muss die bürgerliche Schweiz beim Gedanken an einen Finanzminister Alain Berset zittern? Die bisher vier SP-Finanzminister in der Geschichte des Bundesstaates fielen weder besonders ab noch auf. Von der grossen Ausnahme, Otto Stich, war bereits die Rede. Ausgerechnet gegen Ende seiner Amtszeit stieg die Schuldenquote des Bundes steil an. Das ist nur auf den ersten Blick erstaunlich. Es waren vor allem Kriege, Krisen und wirtschaftliche Stagnationsphasen, die historisch für einen Anstieg der Schuldenquote des Bundes sorgten – nicht der Finanzminister. Berset ist kein Stich. Er gilt nicht als «Aktenfresser». Es ist ihm zuzutrauen, dass er für das bürgerliche Lager ein sehr unangenehmer EFD-Vorsteher wäre. Das Öffnen der Geldschleusen bekommt das Parlament aber auch ohne Berset gut hin – trotz bürgerlicher Mehrheit.

Kriege und Krisen sind Treiber der Staatsverschuldung

Schulden des Bundes, in % des BIP

3

Erste und zweite Ölkrise

4

Wachstumsschwäche der 1990er Jahre

5

Schuldenbremse tritt in Kraft

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