Wie forensische Fehler Leben ruinieren

Schuldig oder nicht? Bei der wissenschaftlichen Untersuchung von Tatorten passieren häufig Fehler, die ein Leben ruinieren können. Wie das von Charles Fain: Er sass 18 Jahre unschuldig hinter Gittern.

Illustration Simon Tanner / NZZ

Der riesige Frühstücksraum eines Hotels am Rande von Boise im US-Gliedstaat Idaho. Viel Beige, wenig Tageslicht. An einem der Tische sitzt eine Handvoll Männer – wie jeden Freitag vor der Arbeit. Sie lesen aus einem Apostelbrief, jeder ein Stück, dann reichen sie die Bibel dem Nächsten, und nachher diskutieren sie kaffeeschlürfend, was Paulus wohl gemeint hat.

Charles Fain hat Jesus in der Todeszelle gefunden; oder der «Ewigkeitszelle», wie er sie selbst nennt. Er spricht mit leiser, heiser-knurriger Stimme. Denn, so sagt der schmale Mann mit länglichem Gesicht und dünnem grauem Bart: «Hätten sie mich hingerichtet, hätte ich das ewige Leben erlangt.» Und dann wäre Charles Fain für ein Verbrechen gestorben, das er gar nicht begangen hat.

Es gab viele Fälle wie den von Charles Fain, vor allem in den USA. Das zeigte der Bericht, den das United States President’s Council of Science and Technology (PCAST) im September 2016 vorgelegt hat. Die Wissenschafter schätzen, dass in den USA mindestens ein Prozent der Gefängnisinsassen für Verbrechen einsitzen, die sie gar nicht begangen haben – das sind mindestens 20 000 Menschen. Ursache dafür sind Fehler von Forensikern, aber auch die unsachgemässe Gewichtung wissenschaftlicher Beweise durch die Justiz.

Forensiker sind manchmal voreingenommen

Ausgerechnet die Menschen, die mit höchster Präzision Beweise sammeln, sichern und interpretieren sollen, stecken hinter vielen dieser Schicksale: Forensiker, die bei der Auswertung der Spuren Fehler gemacht haben. Und das betrifft klassische Spuren wie Bisse oder Geschosse, aber auch den vermeintlich unfehlbaren DNA-Fingerabdruck.

Und obendrein kommen oft genug Menschen ins Gefängnis, weil Ermittler und Forensiker voreingenommen waren und sich von ihrer Wahrnehmung auf eine falsche Spur bringen liessen.

Am 24. Februar 1982 finden Polizisten in der Nähe des Städtchens Nampa in Idaho die Leiche eines Mädchens. Jemand hatte die Neunjährige einige Tage zuvor auf ihrem Weg zur Schule entführt, vergewaltigt und ermordet. «Zu dieser Zeit schlief ich in einem Wohnwagen hinter dem Haus meines Vaters», sagt Charles Fain. In Redmond, Oregon, knapp 800 Kilometer entfernt.

Bevor die Polizei auf Fain als Verdächtigen kommt, tappt sie anderthalb Monate lang im Dunkeln. Der Druck, einen Täter zu finden, wächst ins Unermessliche. Irgendwann gehen die Polizisten der Spur mit dem Auto nach. Ein Mädchen hatte ein Auto Baujahr Ende sechziger, Anfang siebziger Jahre gesehen. Weil Charles Fain so einen Wagen hat, laden die Ermittler den damals 34-Jährigen vor, befragen ihn und nehmen Haarproben.

Fains Schuhabdrücke passen zum Täter

Der Haarsachverständige kommt zu dem Ergebnis: Fains Haare sind identisch mit denen, die auf der Leiche gesichert wurden. Endlich ein Verdächtiger. «Ich war ihre einzige Hoffnung», glaubt Charles Fain. Es braucht natürlich mehr als ein paar Haare, um jemanden als Täter festzunageln.

Bei Charles Fain passt eine vage Täterbeschreibung. Die Ermittler finden bei ihm zudem ein Paar Schuhe, das zu den Abdrücken am Tatort passt. Die Schuhe hatte Fain erst nach der Tat gekauft. Aber die Quittung liegt im Müll. «Fast hätte ich die Schuhe auch schon weggeschmissen, so ausgelatscht waren sie.» Den Ausschlag aber geben vielleicht die Aussagen zweier Männer, die eine Zeitlang mit Fain in einer Zelle sassen. Sie sagen, Fain habe ihnen den Mord offenbart. Die Schlinge zieht sich zu.

Charles Fain ist inzwischen 72 Jahre alt, 18 Jahre seines Lebens sass er für einen angeblichen Kindsmord hinter Gittern. Fain ist tiefgläubig und hat von seinem Entschädigungsgeld als Erstes einen gebrauchten Chevy gekauft.

Charles Fain ist inzwischen 72 Jahre alt, 18 Jahre seines Lebens sass er für einen angeblichen Kindsmord hinter Gittern. Fain ist tiefgläubig und hat von seinem Entschädigungsgeld als Erstes einen gebrauchten Chevy gekauft.

Joachim Budde

Im Prozess glaubt Charles Fain noch, sein Anwalt könne die Lügen entlarven und Irrtümer aufklären. Aber der Verteidiger ist völlig überfordert. Es hilft nicht einmal, dass es eine Zeugin gibt für Fains Alibi. Am 17. Februar 1984 verurteilt das Gericht ihn zum Tode. «Ich sass auf meiner Pritsche und dachte: ‹Ich kann das nicht glauben.›»

Hinter Fällen wie dem von Charles Fain sehen die Autoren des wissenschaftlichen Berichts (PCAST) das Problem, dass Forensiker vor Gericht der Jury sagten: Haare, Kugeln, Bissspuren, Reifen- oder Fussabdrücke vom Tatort brächten einen Angeklagten «mit hoher Wahrscheinlichkeit» mit einem Verbrechen in Verbindung. Das Problem: Wie hoch die Wahrscheinlichkeit tatsächlich war – das wussten sie gar nicht. Denn bis dahin hatte niemand zuverlässig ermittelt, wie häufig zum Beispiel ein vermeintlich charakteristisches Strukturmerkmal an einem Haar in der gesamten Bevölkerung vorkommt. Ihre Aussagen basierten also lediglich auf ihrer eigenen Erfahrung.

Ungültige Aussagen in 95 Prozent der Fälle

Als Folge des PCAST-Berichts haben das US-Justizministerium und das FBI mehr als 3000 Kriminalfälle überprüft, in denen sogenannte Vergleichsspuren, wie beispielsweise Haarvergleiche, eine Rolle spielten. In 95 Prozent der Fälle hätten die Sachverständigen des FBI aus wissenschaftlicher Sicht ungültige Aussagen gemacht. «Solche Mustervergleiche machten Experten ohne die Unterstützung von Computern – also rein nach Gefühl und Erfahrung», sagt Christophe Champod, Forensikprofessor an der Universität Lausanne. Die Ermittler verglichen einfach unter dem Mikroskop bestimmte Strukturmerkmale der Haare. Erst in den letzten Monaten haben neue Studien Daten geliefert, die statistisches Wissen für die Vergleiche liefern.

Und für einige dieser sogenannten Mustervergleiche ist das fehlgeschlagen. Gerade erst hat das National Institute of Standards and Technology der Vereinigten Staaten in einem Preprint konstatiert, dass für Bissspuren weiterhin zu wenig Daten vorlägen. Doch nicht nur das Renommee der Vergleichsspuren bekommt Kratzer.

Serie: Morde unterm Mikroskop

Die Forschung spielt eine immer wichtigere Rolle bei der Verbrechensaufklärung: Virtuelle Autopsie, Gesichtsrekonstruktion, die Untersuchung von Insekten an einer Leiche – all diese Methoden verfeinern sich. Gleichzeitig gibt die Wissenschaft Antworten auf grundsätzliche Fragen: Warum werden manche Menschen gewalttätig? Liegt das Böse in den Genen? Die NZZ widmet sich in einer Serie den Geschichten rund um die Forensik. Die nächste Folge erscheint am 13. November.

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Seit Mitte der 1980er Jahre greifen Ermittlungsbehörden auf den genetischen Fingerabdruck zurück. Findet die Polizei am Tatort Körperzellen, können Genetiker anhand markanter Merkmale im Erbgut ein DNA-Profil erstellen. Das vergleichen sie mit den Profilen von Verdächtigen. Damals eine Revolution.

Auch der DNA-Fingerabdruck ist angreifbar

Zwar wies schon 1989 ein Gericht in New York eine DNA-Spur als Beweismittel ab, weil den Richtern die Datenbasis fehlte. Aber Genetiker holten das schnell nach. Sie untersuchten die Stellen im Erbgut – sogenannte Allele –, die sich für die Analyse eignen, und ermittelten, wie häufig welche Varianten dieser Allele in der Bevölkerung vorkommen.

So etablierte die forensische Forschung den DNA-Fingerabdruck als Goldstandard. Bis heute gilt er vielen als unfehlbar. Doch das trifft nicht für alle DNA-Spuren gleichermassen zu. Je mehr Erbgut von unterschiedlichen Menschen an einem Tatort gefunden wird, desto schwieriger wird die Analyse.

Das zeigt ein weiterer Fall: Am Abend des 15. Februar 1993 brechen in Moultrie im US-Gliedstaat Georgia drei Männer in das Haus einer Frau ein, die wir P. M. nennen. Die Eindringlinge bedrohen die 42-Jährige mit einer Waffe, rauben sie aus und vergewaltigen sie. Einem der Täter fällt dabei die Maske herunter. Zwei Tage später erkennt M. den Anführer der Bande auf einem Foto wieder.

Es ist der 18-jährige Tyrone White. White behauptet, dass er nur Schmiere gestanden habe und die anderen ihn gezwungen hätten mitzumachen. Er verstrickt sich in Widersprüche. Letztlich sind die Beweise erdrückend.

Als Komplizen nennt er einen Kumpel, auf den er sauer ist

Die Ermittler bieten ihm einen Deal an: Wenn er ihnen die Namen seiner Komplizen verrät, lassen sie einige der Anschuldigungen fallen. White nennt unter anderem Kerry Robinson. Die beiden kennen sich aus der Highschool. Robinson sagt später, White sei sauer auf ihn gewesen.

Vor Gericht präsentiert der DNA-Sachverständige der Anklage die Ergebnisse seiner Analyse. Zwei Spuren in der Mischung ordnet er eindeutig M. und Tyrone White zu. Bei White findet der Forensiker elf Gemeinsamkeiten, bei Kerry Robinson lediglich zwei. Dennoch sagt der Sachverständige vor Gericht, er könne «nicht ausschliessen», dass Kerry Robinsons DNA in den Spuren stecke. Den Juroren genügt das, obwohl die Sachverständigen sich vorsichtig ausdrücken: Sie verurteilen Kerry Robinson zu zwanzig Jahren Haft.

Greg Hampikian ist Direktor des Idaho Innocence Project, das falsche Verurteilungen korrigieren und verhindern soll.

Greg Hampikian ist Direktor des Idaho Innocence Project, das falsche Verurteilungen korrigieren und verhindern soll.

PD

Greg Hampikian lehrt an der Boise State University. Ausserdem ist er Direktor des Idaho Innocence Project, das er gegründet hat und das als einziges dieser Projekte in den USA über ein eigenes DNA-Labor verfügt. Der Biologe und Forensiker hat Kerry Robinson jahrelang dabei unterstützt, seine Unschuld zu beweisen.

Wie dünn die Beweislage gegenüber Robinson war, hat Hampikian einmal einem Fernsehteam zu veranschaulichen versucht: Er nahm vier Mitarbeitern eine Speichelprobe ab, bestimmte ihre DNA-Fingerabdrücke und verglich sie mit den Spuren von der Vergewaltigung.

Selbst die Praktikantin hätte es eher gewesen sein können

Nach den Kriterien des Sachverständigen aus dem Prozess hätte Hampikian keinen von ihnen als Täter ausschliessen können. «Eine junge Praktikantin hatte sogar mehr Allele mit der Spur gemein als Kerry Robinson», erinnert sich Hampikian: «Ich wünschte, die Jury hätte das sehen können.»

Dieser Fehler klingt absurd, hängt aber mit der Art zusammen, wie die Labore in den USA arbeiten. Das haben Greg Hampikian und der Neurowissenschafter Itiel Dror vom Londoner University College in einem Versuch gezeigt: Sie legten Robinsons Daten siebzehn Experten in verschiedenen DNA-Laboren in den USA vor – ohne ihnen zu verraten, woher sie stammen. Nur ein einzelner Experte stimmte dem Originalgutachten zu. Drei hielten den Fall für unklar. Dreizehn Labore schlossen Robinson aus.

«Solche schrecklichen Fehlgutachten entstehen, wenn Leute DNA-Mischungen bewerten, die die Geschichte kennen», sagt Greg Hampikian: «Wenn ihnen gesagte wurde: ‹Wir brauchen belastendes Material, um den Verdächtigen vor Gericht zu bringen. Ist er in der DNA?›»

Ein Ermittler entstaubt eine Gewehrkugel, um Fingerabdrücke zu finden.

Ein Ermittler entstaubt eine Gewehrkugel, um Fingerabdrücke zu finden.

Evelyn Hockstein / Washington Post / Getty

Die psychologische Ursache hinter diesem Phänomen hat der Neurowissenschafter Itiel Dror in zahlreichen Studien untersucht. Beispiel Fingerabdrücke: Dabei vergleichen Forensiker charakteristische Merkmale der Abdrücke: Gabelungen, Wirbel, Punkte oder Unterbrechungen in den Linien auf den Fingerkuppen. Kriminalisten verwenden die Methode bereits seit Ende des 19. Jahrhunderts, und Studien bescheinigen ihr eine gute Fehlerquote.

Die Techniker im Labor sollten nicht zu viel wissen

Itiel Dror hat gezeigt, dass er diese Quote leicht verschlechtern kann. Dazu hat er Fingerabdrücke aus echten Kriminalfällen genommen, die Sachverständige vor Gericht einem Menschen mit hundertprozentiger Sicherheit zugeordnet hatten. Ein paar Monate nach den Verfahren legte er dieselben Fingerabdrücke denselben Sachverständigen erneut vor. «Mehr als die Hälfte erklärte daraufhin: ‹Keine Übereinstimmung›», sagt Dror.

Er ist überzeugt: Die Sachverständigen haben beim zweiten Mal keine Übereinstimmung gesehen, weil sie keine Übereinstimmung erwartet haben. Die Beispiele zeigen: Die Ermittler dürfen den Technikern im Labor nicht zu viel von ihrem Fall erzählen. Manche Informationen sind für die korrekte Auswertung natürlich unerlässlich. Doch anderes vernebelt den Blick.

Itiel Dror ist Neurowissenschafter und arbeitet am Londoner University College. Er sensibilisiert Strafverteidiger auf der ganzen Welt für fehlerhafte Arbeitsweisen in der Forensik.

Itiel Dror ist Neurowissenschafter und arbeitet am Londoner University College. Er sensibilisiert Strafverteidiger auf der ganzen Welt für fehlerhafte Arbeitsweisen in der Forensik.

PD

«Das Gehirn ist keine Kamera», sagt Itiel Dror. Wie der Mensch neue Informationen interpretiert, hänge auch von dem ab, was schon im Gehirn stecke – dem Wissen, aber auch den Erwartungen und Hoffnungen. Fachleute nennen dieses Phänomen einen Bestätigungsfehler. Und es ist nicht auf Fingerabdrücke beschränkt, sagt Dror: «Mir fällt kein Gebiet der Forensik ein, das nicht betroffen wäre.»

Der Wissenschafter hat sich in den letzten fünfzehn Jahren durch so ziemlich alle forensischen Disziplinen gearbeitet und fast überall solche Phänomene wie den Bestätigungsfehler gefunden. Seine Ergebnisse haben übrigens jedes Mal einen Aufschrei verursacht.

Je mehr Druck, desto eher ein Geständnis

Um Strafverfolger und Forensiker für solche Fehler zu sensibilisieren, schult Itiel Dror Polizei, Sachverständige und Justiz auf der ganzen Welt. Dabei setzt er auf die Methode, die er Linear Sequential Unmasking nennt: Forensiker sollen zuerst sämtliche Spuren vom Tatort untersuchen und analysieren. Erst danach sollen sie Material von Verdächtigen zu sehen bekommen. Sonst suchen sie in den Spuren nach Beweisen für ein Resultat, das sie bereits kennen.

Und dann entsteht ein Fehlerschneeball, der immer weiter wächst. Denn hat die Polizei vermeintliche Beweise gegen einen Verdächtigen, ist es wahrscheinlicher, dass sie ihn unter Druck setzen. Und je aussichtsloser einem Unschuldigen seine Situation erscheint, desto eher kann es sein, dass er gesteht – um wenigstens dafür ein bisschen Straferlass zu bekommen. Dafür gibt es viele Beispiele.

Und ist das Urteil einmal gefällt, erfordert es enorme Anstrengungen, es zu kippen. «Im Justizsystem wird überhaupt nichts getan, um solche Fehler aufzudecken», sagt auch der Schweizer Christophe Champod, der in vielen Ländern als Sachverständiger vor Gericht aufgetreten ist. Ganz neue Erkenntnisse müssen her, Zeugen zum Beispiel, die bei der Verurteilung noch nicht bekannt waren. Oder neue Techniken, um Spuren auszuwerten. Und dann muss sich ein Gericht überzeugen lassen.

Eine Software rettet Robinson

Kerry Robinson hat das Glück, dass neue Software auf den Markt kommt, die hilft, die DNA aus den schwierigen Mischproben zu analysieren: Probabilistic genotyping. Dabei lässt ein Rechner viele tausend Szenarien durchlaufen und ermittelt, welche zu den Spuren am besten passen.

Greg Hampikian, der Forensiker von der Boise State University, sieht darin einen gewaltigen Fortschritt: «Solange die Vorannahmen korrekt sind, ist das ein grossartiges Tool.» Er speiste die Daten aus dem Robinson-Fall in eine solche Software ein und zeigte: Es ist wahrscheinlicher, dass irgendeine andere Person die DNA-Spuren auf dem Körper des Vergewaltigungsopfers hinterlassen hat als Kerry Robinson. Endlich lässt sich das Gericht überzeugen. Am 8. Januar 2020 kommt Kerry Robinson frei. Nach fast achtzehn Jahren im Gefängnis.

Fehler sind auch in europäischen Laboren passiert. Darum gehört es inzwischen zur guten Praxis, Spuren und Vergleichsmaterial streng zu trennen und Analysen in einem Einbahnsystem zu verarbeiten, so dass so gut wie ausgeschlossen ist, dass Reste von Spuren in die Proben von Verdächtigen gelangen. Regelmässig testen die Labore zudem ihre Arbeit mit sogenannten Ringversuchen.

Sie haben sich nicht eingestanden, sie könnten sich irren

Zwar gibt es auch in Europa vereinzelte Fälle unschuldig Inhaftierter – so kam etwa in Bayern Manfred Genditzki nach dreizehn Jahren Haft frei –, aber Christophe Champod sieht in der Prozessordnung eine hohe Hürde für solche Fehlurteile. Im angelsächsischen Raum bestellen die Parteien eigene Sachverständige, die nur das aussagen sollen, was ihrer Seite nützt. «In den USA herrscht tatsächlich Krieg zwischen Verteidigung und Anklage», sagt Champod.

In so einer Atmosphäre sei es sehr schwer, die Wahrheit ans Licht zu bringen. Demgegenüber beruft in den kontinentaleuropäischen Rechtsordnungen das Gericht die Experten und hält sie an, sowohl be- als auch entlastende Fakten vorzutragen. So kommen Zweifel an Spuren leichter ans Licht. In der Schweiz und anderen europäischen Ländern sei die Qualität der forensischen Labore viel einheitlicher als etwa in den USA.

Aber er werbe dennoch bei seinen Kollegen dafür, ihre Botschaften mit einer gewissen Demut ob der eigenen Fehlbarkeit vorzutragen, sagt Christophe Champod: «Früher haben sich viele Experten gar nicht erst eingestanden, sie könnten sich irren.»

Die forensische Technik entwickelt sich immer weiter. Heute genügen einzelne Körperzellen für ein brauchbares DNA-Profil. Christophe Champod sieht zwei ganz aktuelle Entwicklungen in der Forensik: Zum einen werden digitale Spuren immer wichtiger. Geräusche, die ein Einbrecher auf der Alexa hinterlässt. Oder sein Smartphone, wenn es sich mit dem WLAN zu verbinden versucht.

«Ich traue der Wissenschaft nicht allzu weit»

Mord und Totschlag sind relativ selten. Weniger schwere Verbrechen – eben zum Beispiel Einbrüche – sind viel häufiger, würden aber weniger gründlich untersucht. Die Ermittler sollten etwa die digitalen Spuren mehr beachten, findet Christophe Champod. Heute betrachteten sie die Spuren und Beweise jedes einzelnen Falls. Künftig sollten sie mehr danach schauen: Haben mehrere Einbrüche Gemeinsamkeiten, ähnliche Spuren? «Das erlaubte der Staatsanwaltschaft, Einbrecher als Serientäter anzuklagen statt für einen einzelnen Einbruch», sagt der Forensiker.

«Ich bin nicht wütend auf das System», sagt Charles Fain, der vermeintliche Kindermörder aus Idaho. «Ich traue der Wissenschaft nicht allzu weit», sagt er: «Schlechte Wissenschaft hat mich hinter Gitter gebracht; gute hat mich wieder rausgeholt.» Nach jahrelangen Mühen hat sein neuer Anwalt erwirkt, die DNA der Haare von der Leiche zu untersuchen. Keine Übereinstimmung. Am 23. August 2001 kam Charles Fain wieder frei – nach achtzehn Jahren.

Haarvergleiche werden auch genutzt, um Opfer von Katastrophen zu identifizieren. Hier untersuchen Forensiker die Haare eines Tsunami-Opfers, um dessen Identität festzustellen.

Haarvergleiche werden auch genutzt, um Opfer von Katastrophen zu identifizieren. Hier untersuchen Forensiker die Haare eines Tsunami-Opfers, um dessen Identität festzustellen.

Xavier Rossi / Gamma-Rapho / Getty

Wie er die Zeit im Gefängnis überstanden hat, ohne verrückt zu werden? Eine Weile lang habe er gehofft und gebangt. «Dann habe ich beschlossen: Ich lasse Gott in meinem Leben arbeiten und sorge mich nicht mehr.»

1,4 Millionen Dollar als Entschädigung

Auch auf der Suche nach dem wahren Täter gibt es nach fast vierzig Jahren Fortschritte: Greg Hampikian liess die DNA aus den Haaren von Genetikern untersuchen, die normalerweise Erbgut etwa von Neandertalern wieder zusammensetzen und mit dem Nobelpreisträger Svante Pääbo zusammenarbeiten. Genealogische Informationen weisen jetzt auf einen Mann hin, der wegen sexueller Gewalt gegen Minderjährige bereits im Gefängnis sitzt.

Auf eine Entschädigung für die Haft musste Fain fast genauso lang warten: Erst im vergangenen Jahr unterzeichnete der Gouverneur von Idaho das Gesetz, das dem inzwischen 72-Jährigen knapp 1,4 Millionen US-Dollar zusprach – als Erstem überhaupt in Idaho.

Charles Fain wollte damit Arztkosten bezahlen, sah sich nach einem Haus um. Als Erstes hat er sich aber ein Auto gekauft: einen gebrauchten Chevy mit 40 000 Meilen auf der Uhr.


Serie: Morde unterm Mikroskop

Die Forschung spielt eine immer wichtigere Rolle bei der Verbrechensaufklärung: Virtuelle Autopsie, Gesichtsrekonstruktion, die Untersuchung von Insekten an einer Leiche – all diese Methoden verfeinern sich. Gleichzeitig gibt die Wissenschaft Antworten auf grundsätzliche Fragen: Warum werden manche Menschen gewalttätig? Liegt das Böse in den Genen? Die NZZ widmet sich in einer Serie den Geschichten rund um die Forensik. Die nächste Folge erscheint am 13. November.

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