Skifahren im Skizirkus: Wintersport und Klimawandel: Sinn und Unsinn der neuen Giga-Skigebiete
In den Alpen macht sich der Gigantismus breit: Skigebiete werben mit unendlichen Pistenkilometern, immer mehr neue Zusammenschlüsse entstehen. Die Betreiber verteidigen den XXL-Trend – trotz Klimawandel. Doch wem nutzen Skiresorts mit Hunderten Kilometern Piste überhaupt?
Den letzten Lift auf den Gipfel zu verpassen, kann in Ischgl unangenehme Folgen haben. Das Skigebiet erstreckt sich über beide Seiten einer Bergkette an der Grenze zweier Länder: Österreich mit Ischgl und die Schweiz mit Samnaun. Über die Gipfel sind das wenige Kilometer Luftlinie, doch auf der Straße liegt eine Strecke von knapp 80 Kilometern zwischen den beiden Orten.
Blöd also, wenn man auf der falschen Seite strandet. Auch wenn an jedem Lift deutlich der Zeitpunkt der letzten Bergfahrt vermerkt ist: In dem Tiroler Riesenskigebiet mit mehr als 230 Pistenkilometern besteht das Risiko, ungewollt am falschen Ende zu landen und nicht mehr zurückzukommen. Das allerdings ist nicht nur in Ischgl so.
Unterwegs im alpinen Wirrwarr
Viele Gebiete in den Alpen erstrecken sich über mehrere Gipfel und Täler. Mancher Skifahrer dürfte sich beim Blick auf die Pistenkarten von Riesenresorts wie Ski Arlberg (Österreich), 4 Vallées (Schweiz) und Les Trois Vallées (Frankreich) fragen, wie er bitteschön ohne Navi in diesem alpinen Wirrwarr nicht verloren gehen soll.
Doch Umfragen zeigen es, und auch die Marketingbüros großer Gebiete verweisen immer wieder darauf: Pistenvielfalt zieht und ist für viele Urlauber der wichtigste Entscheidungsgrund für ein Alpenziel. Dabei dürften viele Gäste, die an einem Ende des Skigebiets unterkommen, das andere Ende realistischerweise nie zu Gesicht bekommen.
Wer es doch versucht, muss sich sputen – oft geht es nur auf direktem Weg. Zwischendurch mal andere Pisten links und rechts der Route zu fahren oder gemütlich in einer Hütte einzukehren, ist nicht drin. Es sei denn, man möchte Gefahr laufen, unterwegs zu stranden. Der Genuss jedenfalls bleibt auf der Strecke. Zumindest für alle jene Skifahrer, die nicht nur abfahren wollen, bis ihnen die Füße brennen.
Größe des Skigebiets als Statussymbol
Doch am Ende geht es vielen gar nicht darum, jeden Winkel eines Skigebiets zu erkunden, glaubt Oliver Kern vom Portal Skiresort.de: “Die Leute wollen große Skigebiete, auch wenn sie nicht alles fahren wollen.” Aus Kerns Sicht ist die Größe des Skigebiets für viele eine Art Statussymbol, ähnlich einer teuren Armbanduhr oder Handtasche: “Sie wollen eben sagen können, dass sie am Arlberg waren oder im Skicircus Saalbach Hinterglemm.”
Gigantische Resorts: 600 Pistenkilometer in Frankreich
Der Skicircus, noch so ein Gigantenresort. Mehrere Täler, 270 Pistenkilometer. Und bald wohl noch größer. Zumindest sehen die Pläne vor, dass sich der Skicircus mit der Schmittenhöhe – dem Hausberg von Zell am See – verbindet. Damit wären es dann 347 Pistenkilometer, die man sich auf Skiern erfahren kann. Wenn denn die Kraft reicht.
Und es geht ja nicht nur um das Schaukeln zwischen den Gipfeln eines Gebiets. Jeder Berg für sich bietet ja schon eine Vielzahl Pisten. Im französischen Les Trois Vallées, dem größten Skigebiet der Welt, sind es in Summe 600 Kilometer. “Die werden sie in einer Woche Skiurlaub niemals alle abfahren”, sagt Kern. Zumindest für normale Skifahrer sei das unmöglich, schätzt er.
Wer nutzt die Pistenvielfalt aus?
Die Skigebiete jedoch beharren auf ihrer These: Gerade die Gäste, die länger vor Ort sind, schöpften die Pistenvielfalt aus. So teilt es zum Beispiel Ski Arlberg auf Nachfrage mit. Für einen sportlichen Skifahrer sei es darüber hinaus gut machbar, an einem Tag von einem Ende des Verbundes zum anderen und wieder zurück zu kommen.
Wer es darauf anlegt, ein Riesenskigebiet einmal hin und zurück zu durchkreuzen, muss auf jeden Fall gut planen. So kann es etwa im Walliser 4 Vallées passieren, dass man – angekommen am anderen Ende des Gebietes – mit Schrecken feststellt, dass es höchste Zeit ist, wieder den Weg in die andere Richtung anzutreten. Und zwar um kurz nach 13.00 Uhr, etwa drei Stunden vor der Fahrt des letzten Liftes.
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Auf guten Willen der Seilbahnbetreiber können falsch kalkulierende Wintersportler nicht hoffen. “Manche Lifte werden nicht auf die Minute schließen, wenn man mal etwas zu spät da ist”, schätzt Kern. “Aber am Ende stehen überall Schilder da, wann die letzten Bahnen fahren. Und da muss jeder Skifahrer selber gucken, dass er rechtzeitig zurückkommt.”
Bus und Taxi statt Seilbahn und Lift
Gäste könnten im Notfall auf öffentliche Verkehrsmittel ausweichen, erläutert Ski Arlberg. Auch wenn dies aufgrund der Wintersperre der Lechtalstraße zwischen den Orten “etwas umständlich” sein könne.
Wie umständlich das genau ist, zeigt ein Blick auf die Karte: Wer zum Beispiel in Warth hängenbleibt und zurück nach St. Anton möchte, muss eine Fahrt von 105 Kilometern in Kauf nehmen.
In Ischgl komme es in seltenen Fällen vor, dass Gäste die letzte Seilbahnfahrt verpassen, teilt die Silvrettaseilbahn AG mit. Und dann? Gibt es zwei Optionen: Eine rund dreistündige Busfahrt mit Umsteigen für rund 14 Euro oder rund eine Stunde und 15 Minuten Fahrt mit dem Taxi für rund 200 Euro.
Alternativen zum Gigantismus
Auch wenn das ungewollte Stranden am falschen Ort am Ende wenigen Skifahrern tatsächlich widerfahren wird – es wirft ein Schlaglicht auf Sinn und möglicherweise auch Unsinn hinter großen Skigebieten.
Oliver Kern, der mit seinen Kollegen Skigebiete testet und nach eigenen Angaben schon 900 Resorts weltweit befahren hat, geht bei seiner persönlichen Auswahl nicht allein nach Pistenkilometern: “Das ist ein Kriterium, aber eben nicht alles.” Viele Skigebiete bieten nicht unzählige Pistenkilometer, punkten dafür jedoch mit tollen Funparks oder Familienangeboten. “Die haben ihre Nische gefunden.”
Und auch ein schönes Gebiet mit 30 Kilometer Pisten könne sich lohnen, ist Kern überzeugt: “Das hört sich wenig an, aber auch das schafft ein normaler Skifahrer kaum an einem Tag.”
Von Tom Nebe, dpa
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