Wohnsitz und Firma anmelden wird zur Odyssee

Wer in China einen Wohnsitz und eine Firma anmeldet, lernt das Land von einer unbekannten Seite kennen. Eine Geschichte über Chats mit Beamten, traditionelle Stempel und Angst vor Fälschern.

Mit diesem Stempel hofft das NZZ-Büro Shenzhen, für künftige Abenteuer mit der chinesischen Bürokratie gewappnet zu sein.

Matthias Sander / NZZ

Vorweg ein Geständnis, liebe Leser: Ich schreibe diesen Text auch aus Egoismus. Ich will verlorene Lebenszeit in etwas Produktives umwandeln.

Zwei Monate lang bin ich durch das Labyrinth der chinesischen Bürokratie geirrt, um eine Aufenthaltsbewilligung zu ergattern. Ich lernte nette Beamte kennen und nicht so nette. Ich engagierte eine Agentur und sollte deren Mitarbeiterin sicherheitshalber als Freundin ausgeben. Und ich musste mir im Land der ach so fortgeschrittenen Digitalisierung in einem speziellen Laden einen Stempel anfertigen lassen.

Jedes Land habe die Regierung, die es verdiene, behauptet ein Sprichwort. Keine Ahnung, ob das stimmt. Aber wahrscheinlich hat jedes Land die Bürokratie, die ihm entspricht. Meine Odyssee jedenfalls kam mir ziemlich chinesisch vor.

Zunächst lief alles wie am Schnürchen. 30 Tage hat man nach der Einreise in China Zeit, seine Aufenthaltsbewilligung zu beantragen. Das hört sich machbar an, doch erst musste ich drei Wochen in Quarantäne, dann eine Woche auf das Ergebnis des obligatorischen Gesundheitstests für ausländische Einwohner warten. Als ich das Resultat in Händen hielt, am 30. Tag, fuhr ich direkt zur Einwanderungsbehörde, die in meiner neuen Wahlheimat, der südchinesischen Hochglanzmetropole Shenzhen, eine erstaunlich heruntergerockte Amtsstube ist.

Ich zog eine Nummer, kam rasch dran, ein freundlicher Beamter studierte meine Unterlagen. Am nächsten Tag würde ich umziehen, sagte ich. Oh, sagte er, dann solle ich mich in meinem Quartier temporär anmelden und die Bestätigung gleichentags vorbeibringen. Mir graute davor, wegen eines einzigen Papiers noch einmal fast drei Stunden hin und her durch die riesige Stadt zu fahren. Aber gut, der Beamte gab mir einen Tag Aufschub, und ich tat wie geheissen.

Zwei Wochen später wollte ich wie vereinbart meinen Reisepass mit der Aufenthaltsbewilligung abholen. Da begannen die Probleme. Es fehle ein Papier, sagte eine Beamtin: die Anmeldung. Das könne nicht sein, die hätte ich nachgereicht, sagte ich. Bei wem?, fragte sie. Ich zeigte auf einem Organigramm auf das Foto des Beamten. Der sei heute nicht da, sagte sie.

«Haben Sie Angst?», fragte die Beamtin

Das Ganze müsse ein Missverständnis sein, dachte ich. «Könnte ich bitte einmal meinen Pass sehen? Vielleicht ist ja das Visum doch schon drin.» Die Beamtin lehnte ab. Ich wiederholte meine Bitte. Sie sagte schnippisch: «Haben Sie Angst, dass ein Sticker auf Ihrem Pass klebt?»

Das fand ich nicht so witzig. Denn chinesische Behörden konfiszieren gern Pässe. Allermeist trifft es Chinesen: 2016 etwa mussten alle Bewohner der Uiguren-Region Xinjiang ihre Pässe abgeben; 2018 sammelten landesweit Schulen dauerhaft die Pässe von Lehrern ein, damit sie nicht mehr frei ins Ausland reisen können. Doch es kann auch Ausländer treffen: Zwei unschuldige amerikanische Geschwister durften gut drei Jahre lang nicht ausreisen, weil ihr in den USA lebender chinesischer Vater in einen Betrugsfall involviert sein soll.

Meinen Pass bekam ich also nicht zu Gesicht, aber immerhin hatte ich die Anmeldung dabei, so dass wir sie kopieren konnten. Am nächsten Tag könne ich meinen Pass abholen, sagte die Beamtin.

Kaum hatte ich die Behörde verlassen, rief mich die Beamtin auf dem Handy an: Der Abholtermin morgen sei hinfällig, ich müsse erst eine Firma registrieren.

Ich war fassungslos. Warum hatte mir das niemand vorher gesagt? Und wie sollte ich eine Firma anmelden können, wenn ich selbst noch nicht angemeldet war?

Journalist in China, eine seltene Art

Zugegeben, für die Behörden war mein Fall speziell. Denn ich eröffnete ein neues Korrespondentenbüro in Shenzhen, das zweite der NZZ in China nach jenem in Peking. Damit haben die lokalen Behörden wenig Erfahrung, denn in den vergangenen Jahren schmiss China eher ausländische Journalisten hinaus, als dass es neue hereingelassen hätte, und die verbleibenden Korrespondenten arbeiten praktisch alle in Peking oder Schanghai. In Shenzhen, der drittwichtigsten Metropole des Landes mit rund 20 Millionen Einwohnern, kenne ich nur zwei andere ausländische Journalisten.

Tatsächlich musste ich auch keine Firma registrieren, sondern ein «ständiges Büro einer ausländischen Medienorganisation». Das musste ich bei exakt jenem Amt tun, das mir drei Wochen vorher meinen Presseausweis ausgehändigt hatte, nämlich bei der Zweigstelle des Aussenministeriums in der Provinzhauptstadt Guangzhou, und zwar unter Angabe der praktisch gleichen Informationen und Dokumente. Warum hatten die Beamten das mir nicht vorher gesagt?

Da fiel mir wieder das blaue Büchlein ein, das die Beamten mir mit dem Presseausweis überreicht hatten. «FAQ zu ausländischen journalistischen Angelegenheiten in der Provinz Guangdong» hiess es. Ich Esel hatte es nur überflogen, so erwartbar schienen mir die Hinweise (zum Beispiel sollen Interviewanfragen selbst an Lokalpolitiker an die jeweilige Zweigstelle des Aussenministeriums gerichtet werden). Dabei enthielt das Büchlein auch wertvolle Hinweise zu bürokratischen Prozeduren. Okay, mein Fehler.

Doch auch im Büchlein stand nicht alles, und so oder so stand ich auf absehbare Zeit ohne Aufenthaltsbewilligung da. Somit konnte ich auch kein Bankkonto eröffnen, ergo nicht WeChat Pay nutzen, jenes digitale Bezahlsystem, das Barzahlungen praktisch verdrängt hat. Das Konkurrenzsystem Alipay kann man zwar ohne chinesisches Konto nutzen, aber nur begrenzt und für meist geringe Beträge. Weil wegen Kapitalverkehrskontrollen zudem Überweisungen aus dem Ausland nach China schwierig sind, zahlte ich meine Wohnungsmiete fortan mit einem fetten Bündel roter Mao-Scheine.

Meine Anmeldungen mussten derweil warten. Am 1. Oktober war Nationalfeiertag, dann eine Woche landesweite Ferien, bis zu einem Donnerstag. Am Freitag danach würde wohl kein Beamter arbeiten, dachte ich. Falsch gedacht. Am Freitagabend sah ich einen verpassten Anruf von der Einwanderungsbehörde, und am Samstag, an dem in China oft gearbeitet wird, rief die Beamtin wieder an: Wo meine Büroanmeldung bleibe?

Ohne Visum keine Wohnung

Auch meine Hausverwaltung wurde ungeduldig. Sie fragte im Messengerdienst WeChat nach einer Kopie meiner Aufenthaltsbewilligung; die Vermieterin müsse sie den Behörden vorlegen. Ich erklärte die Situation. Wenige Tage später meldete sich die Hausverwaltung wieder: Ohne Visum müsse ich die Wohnung verlassen. Na danke.

Mein Kontaktbeamter in Guangzhou schrieb mir derweil auf WeChat, er sei einen Monat krankgeschrieben, und verwies mich an eine Kollegin. Später erfuhr ich, dass es auf dem Amt angeblich einen grösseren Personalwechsel gegeben habe. Jedenfalls war später auch nicht mehr die Kollegin für mich zuständig, sondern ein netter Herr, der gerade erst aus einer anderen Abteilung gekommen war und deshalb nach eigener Aussage vieles noch nicht wusste. Dafür war er umso hilfsbereiter und sprach super deutsch.

Die Büroanmeldung musste nicht nur in Guangzhou genehmigt werden, sondern auch in Peking, und so reisten meine Papiere fröhlich durchs Land. Als ich schliesslich ein schickes kartoniertes Zertifikat für das Shenzhener Büro der «Neuen Zürcher Zeitung» – für Geniesser: xīn sūlíshì bào, 新苏黎世报 – in Händen hielt, glaubte ich mich am Ziel meiner administrativen Träume.

Ich schickte der Einwanderungsbehörde per SMS ein Foto des Zertifikats. Die Beamtin antwortete trocken: Ich müsse mein Büro noch als «Organisation in Verbindung mit auswärtigen Angelegenheiten» registrieren.

Dafür war nicht etwa das Aussenministerium zuständig, wie man denken könnte, sondern die Einwanderungsbehörde. Auf Nachfrage schickte mir die Beamtin eine lange Liste mit Anforderungen. Ich war am Ende meiner Nerven. «Tod durch Bürokratie», kommentierte ein seit langem in China lebender Kollege. Ich beschloss, eine Agentur den Rest erledigen zu lassen.

Die Agentur war sehr nett, doch auch sie sah zum ersten Mal ein Zertifikat für ein Korrespondentenbüro und hatte zunächst mehr Fragen an mich als ich an sie. Ich übergab ihr meine Beamtenkontakte. Kurz darauf leitete die Agentur ein Empfehlungsschreiben des Aussenministeriums weiter, das für meine Aufenthaltsbewilligung nötig sei. Ausserdem würde ich mir einen Firmenstempel zulegen müssen, auch dazu gab es nun ein Empfehlungsschreiben des Ministeriums. Warum nicht gleich so?

Absicht oder nicht?

Spätestens jetzt stellte ich mir grundsätzliche Fragen zu Chinas Bürokratie. Waren all diese Verzögerungen Versehen oder Absicht? An reihenweise Zufälle glaubte ich zwar nicht. Doch individuell schien jeder Beamte sich korrekt zu verhalten, auch wenn alle stets nur das Nötigste taten. Vermutlich wollte in der starren Hierarchie niemand etwas riskieren.

Liegt der Fehler stattdessen im System? Und sind solche Verzögerungen aus Sicht der Machthaber gar keine Fehler, sondern ein «feature», nämlich ein Herrschaftsinstrument? Je dichter das Bürokratie-Gestrüpp, desto besser kann man natürlich die Leute kontrollieren. Und das beherrscht die Kommunistische Partei in ihrer «allumfassenden Demokratie» ja formidabel.

Diese Fragen stellte ich auch einem altgedienten Korrespondenten. Seine Antwort klang sehr weise. «Sag mir Bescheid, wenn du’s herausfindest. Ich bin seit sechs Jahren hier und habe nichts über China verstanden. Ich sammle nur Erfahrungen.»

Immerhin hatte ich schon genug Erfahrungen gesammelt, um nun das System etwas in meinem Sinne lenken zu können. Um einen Firmenstempel zu kaufen, brauchte ich nämlich meinen Originalpass, der ja weiter bei der Einwanderungsbehörde schlummerte. Die dortige Beamtin bestand darauf, dass ich ihn persönlich abholen und wieder zurückbringen müsse. Dass ich mich also gut einen halben Tag lang als Kurier betätigen solle, obwohl andere Leute das bekanntlich beruflich machen.

Am Ende unseres ruppigen Telefonats sagte ich einen Satz, der sich wohl als Zauberwort erwies: «Okay, ich schalte Peking ein.» Die Beamtin legte grusslos auf. Ich überlegte, wen in Peking ich überhaupt einschalten würde.

Ich schaltete dann erst einmal Guangzhou ein, nämlich den Deutsch sprechenden Beamten in der Zweigstelle des Aussenministeriums. Kurz darauf rief die Beamtin zurück: Sie habe mit ihrem Chef gesprochen. Ich könne einen Vertreter zum Abholen schicken – müsse aber vorher dessen Namen und Passnummer sowie die genaue Uhrzeit mitteilen.

Ein Drache aus Jade

Nach wochenlangem Austausch von WeChat-Nachrichten mit diversen Beamten fand ich es eine hübsche Abwechslung, dass meine Odyssee mich nun in einen Laden führte, dessen Geschäft auf eine jahrtausendealte Tradition zurückgeht, die sich von China aus in ganz Ostasien verbreitet hatte: das Beglaubigen von offiziellen Dokumenten mit Stempeln und Siegeln.

Im Laden präsentierte ein Schaukasten hübsche Steine so gross wie Lippenstifte. Sie waren glatt geschliffen und leuchteten, rot und gelb und braun. Die teuersten Exemplare standen wie bei einem Juwelier in Vitrinen. Auf einem Steinquader thronte eine furchteinflössende Fabelkreatur, so gross wie eine Faust, und fletschte die Zähne. Preis: 29 800 Yuan, gut 4300 Franken.

Die Mitarbeiterin der angeheuerten Agentur eröffnete mir, ich würde wohl nicht nur einen Stempel für das Büro, sondern auch einen «Finanzstempel» brauchen, etwa um ein Firmenkonto zu eröffnen. Und ausserdem einen Stempel mit meinem Namen.

Ich bat um einen zweisprachigen Stempel mit meinem chinesischen und meinem deutschen Namen, um Missverständnissen vorzubeugen. (Es gibt die abenteuerlichsten Geschichten von Ausländern in China, die zum Beispiel nicht an das Geld auf ihrem Konto kommen, weil auf einem Dokument nur der eine oder der andere Name steht.) Doch zweisprachige Stempel gab es nicht. Denn jeder Stempeltyp hat eine bestimmte Grösse und Form, quadratisch oder elliptisch. Und Namensstempel haben für zwei Namen keinen Platz.

Also bestellte ich zwei Namensstempel. Für jenen mit meinem deutschen Namen wählte ich einen hellgrünen Jadestein, auf dem ein kleiner Drache sitzt. Damit würde ich künftig chinesische Bürokraten beeindrucken, dachte ich; ausserdem ist es ein hübsches Souvenir. (Keine Angst, liebe NZZ-Buchhaltung, die knapp 130 Franken dafür habe ich nicht auf Spesen genommen.)

Ich erspare Ihnen, liebe Leser, die weiteren Volten, und schreite fort zum finalen Akt: der Abgabe meiner Dokumente, rot abgestempelt mit meinem neuen Firmenstempel, bei der Einwanderungsbehörde. Sie würde mein neues Büro als ausländische Organisation registrieren und dann umgehend meinen Visumsantrag bearbeiten.

Eine Mitarbeiterin der Agentur begleitete mich wieder. «Sag ihnen, dass ich eine Freundin bin», bat sie. «Warum?», fragte ich verdutzt. «Sie mögen keine Agenturen. Sie befürchten, dass wir für Ausländer Dokumente fälschen.»

Die Agenturmitarbeiterin/Freundin hielt sich dezent im Hintergrund, ich ging allein zum Schalter. Eine Beamtin vollzog die Registrierung des NZZ-Büros als ausländische Organisation: Sie tackerte meine Dokumente in einer blauen Mappe zusammen und gab sie mir zurück. Die Mappe zeigte ich zwei anderen Beamten. Einer der beiden sagte, meine Aufenthaltsbewilligung könne ich in zwei Wochen abholen.

So lange wollte ich nicht mehr auf meinen Pass warten. «Ich möchte ihn morgen», sagte ich trocken. Meine neue Freundin schaute mich entgeistert an. Ich legte nach: «Ich warte schon seit zwei Monaten auf meinen Pass.» – «Ich weiss», sagte der Beamte. Er verschwand kurz in einem Hinterzimmer, kam wieder und sagte: «Okay.»

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