Schönheit, Weisheit, tiefe Wahrheit? Auf einer Reise durch Ladakh im Himalaja-Gebirge erlebte Christine Hohwieler ihre persönliche Transformation.
Als ich aufwache, ist mein erster Gedanke: nicht noch ein Kloster! Vorgestern waren es drei. Hermis, Thiksey, Shey – die des oberen Indus-Tals. Gestern noch eins, Likir. Alle traumhaft gelegen, mit Buddha-Statuen zum Anstaunen und grimmigen Schutzkönigen. Dazu Sasis unglaubliches Wissen über den tibetischen Buddhismus, der seit dem 8. Jahrhundert die Hauptreligion in Ladakh ist. Einen besseren Guide kann man sich nicht wünschen. Ich möchte trotzdem im Bett bleiben. Oder gleich loswandern. Aber ich bin eine artige Gruppenreisende. Also gehe ich runter in den Speisesaal zum Frühstück, und dann machen wir uns auf den Weg. Bis zum Kloster Alchi sind es nur fünf Minuten, und ich merke: Etwas ist anders heute.
Sehr hohe Berge und Aprikosen – das war es, was ich wollte
Vielleicht sind es die alten Aprikosenbäume, an denen wir vorbeigehen. Oder die brüchigen Gebetsmühlen, die ich an der Außenmauer anschubse, jede einzelne. Dabei murmele ich “Om Mani Padme Hum”, das berühmte buddhistische Mantra für Mitgefühl und Liebe – meine neue Angewohnheit. Als ich mit Verspätung vorm ersten Tempel stehe, spricht Sasi schon über die tausendjährige Geschichte des Komplexes. Ich höre nur halb zu. Ich nehme eine Aprikose vom Boden und esse sie. Betrachte den Innenhof, in dem außer unserer zwölfköpfigen Gruppe noch kein Mensch ist an diesem Morgen. Sehe das Sonnenlicht auf den Holzschnitzereien am Tempeleingang. Und dann fange ich an zu weinen. Ich weine im ersten Tempel, im zweiten und im dritten. Vor den uralten Buddhas und den Wandmalereien. Zwei Stunden später, im Bus auf dem Weg zu unserer Wanderung, weine ich immer noch still vor mich hin. Schönheit, Weisheit, tiefe Wahrheit? Ich weiß nicht, was dieses Fließen ausgelöst hat. Ich weiß nur, dass es gut ist.
“Du musst nach Ladakh”, hatte eine Freundin gesagt, “es wird dich transformieren.” Das klang weniger nach einer Reiseempfehlung, eher nach einer Anordnung. Hinter mir lagen harte Monate. Stress im Job, zwei Augenoperationen, viel Alltags-Hickhack. Ich brauchte Abstand von allem. Eine Provinz im Norden Indiens erschien mir weit genug weg. Die Freundin schwärmte von der lebendigen Klosterkultur, der Freundlichkeit der Menschen und deren berührender Spiritualität. Ladakh liegt zwischen dem Himalaja und dem Karakorum-Gebirge, mit weniger als 300 000 Einwohnern, angenehm unbewohnt also. Geopolitisch, sagte sie, sei die Region brisant, weil sie an Pakistan und das von China besetzte Tibet grenzt, aber man könne da unbesorgt reisen.
Was am Ende den Ausschlag gab für meinen Trip in diese ferne Ecke der Welt, war die Aussicht auf hohe Berge – so viele, dass die meisten nicht mal Namen haben. Und auf Aprikosen. Ladakh ist bekannt für deren Anbau. Aprikosen sind meine Lieblingsfrüchte. Ich flog nach Delhi und weiter nach Leh, der Hauptstadt Ladakhs. Unter uns waren bald nur noch endlose Gipfel zu sehen. Kurz vorm Landeanflug tauchten ein paar grüne Flicken auf.
Die Großzügigkeit der Menschen haut einen wirklich um
In den ersten Tagen in Leh schnappte ich ständig nach Luft. Die Lunge einer Flachlandbewohnerin neigt auf 3500 Meter Höhe zu leichter Panik. Außerdem steckt die quirlig-bunte Stadt mit dem immer noch dörflichen Charme voller Überraschungen. Ich kaufte Aprikosen bei den Marktfrauen auf der Straße und aß sie – Fernreisetrottel – ungewaschen im Gehen. Ohne Folgen. Einmal sahen wir eine Kuh auf eine Restaurantterrasse spazieren, niemand verscheuchte sie. Wir bogen aus einer dunklen Basargasse ins Licht, und am Horizont: lauter 5000er.
In Leh war die Begeisterung für den Dalai Lama ungebrochen groß. Wir waren umgeben von Tausenden von Menschen, die meisten hatten sich schon auf dem Boden des Festgeländes niedergelassen, viele in Trachten und mit Blumen in der Hand. Auch wir freuten uns – darüber, dass Touristen willkommen waren bei der buddhistischen Belehrung durch seine Heiligkeit und den Tanzdarbietungen der Schülerinnen und Schüler. Irgendwann rollte eine Autokolonne vor. Der Dalai Lama kam auf die Tribüne, langsam, gestützt von zwei Mönchen, er lächelte und winkte – ganz klar ein Moment für den Fundus unvergesslicher Erlebnisse. Trotzdem waren es am Ende ein paar Frauen, die mich am meisten bewegten. Sie gingen mit Tassen durch die Reihen und schenkten aus großen Thermoskannen Buttertee aus. Dazu gab es Reis mit Nüssen und Rosinen. Und Kuchen. Für alle. So viel Großzügigkeit haut einen schon um.
“Eure Reise ist gesegnet”, schreibt die Freundin auf WhatsApp, als ich mich zwischendurch bei ihr melde, “da wird noch viel kommen an reichen Geschenken – sag ich mal etwas kitschig.”
Wir dürfen inmitten der Mönche sitzen, ihrem Gesang lauschen
Der Morgen im Kloster Alchi ist definitiv ein Geschenk. Und, später am selben Tag: das Mittagessen bei der Familie in Tar, einem winzigen Dorf, in das keine Straße führt. Gut eine Stunde wandern wir durch eine Schlucht – und landen im Paradies. Blühende Wiesen, ein Bach unter Weiden, Weizengarben am Wegrand. Alles, was wir dort essen und trinken, ist selbst angebaut. Das Mehl für die Momos auf unseren Tellern, das Gemüse, mit dem die Teigtaschen gefüllt sind. Alles schmeckt köstlich.
In Tingmosgang schwänzen drei von uns die Wanderung, um eine Zeremonie oben auf dem Berg im Kloster Tserkarmo zu besuchen. 60 Mönche aus der ganzen Region beten an diesem Tag zwölf Stunden lang dafür, dass alle Lebewesen genug zu essen haben. Begrüßt werden wir vom Lama Konchok Samten. In makellosem Deutsch mit eindeutig hessischem Einschlag. Was daran liegt, dass der Mönch, der als Siebenjähriger hier ins Kloster kam, die Hälfte des Jahres in einem buddhistischen Zentrum bei Gießen unterrichtet und dort Meditationen leitet.
Als gebürtige Hessin bin ich entzückt. Erst recht, als ich erfahre, dass der Lama Samten kurzzeitig mal ganz in der Nähe meines Heimatdorfs gewohnt hat. Wir dürfen inmitten der Mönche sitzen, ihrem murmelnden Gesang lauschen, den Hörnern und Trommeln. Nach einer halben Stunde fühle ich mich wie in Trance und höre bis zum Abend nicht auf zu lächeln.
Ladakh heißt “Land der hohen Pässe”. Der Chang La-Pass, den wir auf dem Weg zum Pangong-See überqueren werden, ist 5300 Meter hoch, und ich mache mir Sorgen um meine Augen. Sie tun weh – die Höhenluft, der Staub –, das wird da oben sicher nicht besser. Bei einem Zwischenstopp in Leh frage ich unseren Deutsch-Englisch-Hindi-Nepalesisch-und-Ladakhi-sprechenden Super-Guide Sasi nach einer Apotheke. Er erwähnt kurz, dass er in Kathmandu Augenheilkunde studiert hat, und besorgt mir Tropfen. Ich beschließe, mich über nichts mehr zu wundern.
Bergwüste und Wasser und Licht, es ist umwerfend schön
“Bad road brings you to beautiful destination.” Das ist Sasis Lieblingssatz. Das attraktive Ziel ist ein schwacher Trost auf der siebenstündigen Fahrt zu dem berühmten Salzsee auf 4238 Meter Höhe. In zwei Kleinbussen holpern wir über die Schotterstraße, rechts die Felswand, links der Abgrund. Manchmal halten wir an und warten, weil Bauarbeiter den nächsten Meter Weg pflastern oder die Militärlaster vor uns um einen Felsbrocken rangieren müssen. Kurzzeitig hasse ich die Berge.
Und liebe sie wieder, als wir endlich da sind. Der Pangong-See liegt an der Grenze zwischen Ladakh und Tibet. Er ist 134 Kilometer lang und tiefblau, es wächst kaum ein Halm direkt am Ufer. Bergwüste und Wasser und Licht, es ist umwerfend schön.
Ladakh wirkt auf mich wie ein Crashkurs in Ehrfurcht. Im Nubra Valley stelle ich mir am letzten Abend im Hotel den Wecker auf zwei Uhr. Als ich rausgehe in den Garten, ist nur noch das Rauschen des Flusses zu hören. Die Nachtluft ist kühl. Die Milchstraße schimmert hell wie ein Wolkenband, kein Licht schwächt das Funkeln der Sternbilder. Ich wäre gerne jemand, der sich damit auskennt, und bedaure, ihre Namen nicht zu wissen. Aber nicht sehr. Unter diesem Himmel, umgeben von riesigen Bergen, schrumpft die eigene Bedeutung angenehm in sich zusammen. Ungefähr auf Aprikosengröße.
Unsere Reisetipps für Ladakh
Hinkommen & Rumkommen
Die beschriebene Reise “Ladakh – Kultur und Wandern in Klein-Tibet” bietet der österreichische Veranstalter Weltweitwandern an, 18 Tage inklusive Flug im Doppelzimmer ab 3590 Euro. Wer viel wandern und Ladakh vor allem zu Fuß erleben möchte, kommt bei der 19-tägigen Trekkingreise “Ladakh – Vom Nubra- ins Industal” auf seine Kosten. Termine für die Reisen im Sommer gibt es im Juli und August 2024. weltweitwandern.com
Übernachten
Eco Poplar Resort. Ladakhs Hauptstadt Leh ist quirlig, intensiv, bunt, und das Eco Poplar mit seinem üppigen Garten der perfekte Rückzugsort: zentralgelegen, trotzdem friedlich. Die Doppelbungalows haben kleine Terrassen, die größte florale Pracht bietet die Nummer 105. DZ/F ab 86 Euro. (Leh, Shenam Fort Road, Tel. 96 22 96 00 60, eprladakh.com)
Zimskhang Holiday Home, Alchi. Ein geräumiges, helles Zimmer, ein Balkon mit hübschen Holzornamenten – alles sehr einladend hier. Und draußen geht’s gleich weiter mit dem Freuen: Fast jede Straße im Dörfchen Alchi ist gesäumt von Aprikosenbäumen. DZ/F, im alten Hotelflügel 55 Euro, im neuen Flügel des Hauses 74 Euro. (Leh, Alchi Chhoskor, Tel. 97 97 44 71 77, zimskhang.in)
Genießen
Il Forno Rooftop Restaurant. Olivenpizza aus dem Steinofen zu essen (3 Euro) ist nicht die erste Idee, die einen in Ladakh anfliegt, aber der Blick von der Dachterrasse lockt. Am Wochenende gibt’s Livemusik, und wer keine Lust auf Italienisch hat, kann auch indische Küchenklassiker wie Palak Paneer bestellen (2 Euro). (Leh, Zangsti Road, Tel. 96 22 96 59 41)
Hor-Lam Restaurant & Café. Nach dem Passstraßen-Gegurke von Leh ins Nubra Valley sitzen wir hier unter Weiden, essen Brennnesselsuppe (90 Cent) und als Hauptgang Sku, einen Alltagseintopf mit Weizennudeln, die an Orecchiette erinnern (2 Euro). Dazu ein, zwei Gläser Sanddornsaft – knallorange und köstlich (90 Cent). (Nubra, Khardong, Main Road, Tel. 97 97 87 22 82)
Einkaufen
Leh Main Market. Kaschmirtücher und Teppiche, Kunsthandwerk, Schmuck und Kochutensilien – das Angebot im Zentrum von Leh ist überwältigend, das Einkaufen ein großer Spaß. Die besten Aprikosen gibt’s direkt auf der Straße. Hübsch verpackt kriegt man alles rund um die Früchtchen (der Hit: Lippenbalsam aus Aprikosenkernöl) in “Ladags Apricot Store” (LBA Lhamokhang Shopping Complex, Zangsti Road). Oder direkt daneben, bei “Dzomsa, The Good-For-All Shop”. Hier kann man auch für einen Cent seine Wasserflasche auffüllen. Nach einem Kaschmirschal sucht man in Leh lange – wegen der großen Auswahl. Die federleichten Dinger in der Nobel-Boutique Utpala (ZangstiRoad, Hemis-Complex Shop No. 19) verdanken ihre Schönheit den Naturfarben aus Kräutern, Blumen und Früchten des Himalaja. Im “Ladakh Rural Women’s Enterprise” (Nac Complex, Main Bazar) versammeln sich viele Mitbringsel auf engstem Raum, alle handgefertigt von Frauen aus der Gegend. Mein Lieblingsladen zum Klamotten kaufen: die Eternal Boutique von Dolma Dhondup, die in ihrem Shop wunderschöne, farbenfrohe Kleidung für Frauen, Kinder und Babys verkauft. Alles selbst entworfen und Fairtrade (Raku Complex, Fort Road).
Hätte ich das gewusst …
Buttertee wird überall in Ladakh getrunken. Ich saß dreimal vor einer vollen Tasse, dreimal bin ich an dem Geschmack gescheitert, was ich beschämend unhöflich fand. Ich hätte gleich nach dem ersten Versuch jede weitere Tasse dankend ablehnen sollen.
Telefon
Die Landesvorwahl von Indien ist 009.
Mehr Infos findest du hier allesueberladakh.com