Rimini-Rückblick – Der Lounge-Sänger von Ulrich Seidl ist so schrecklich, er kann brillant sein | Berliner Filmfestspiele 2022

WWürgereiz, Traurigkeit und konfrontative Groteske vereinen sich wieder einmal in einem Film von Ulrich Seidl, obwohl er von etwas fast – aber nicht ganz – wie gewöhnlichem menschlichem Mitgefühl gesäuert ist. Wenn Sie Seidls andere Filme gesehen haben, wissen Sie, was Sie erwartet, und Sie wissen, wie Sie sich für den Horror wappnen können. Vielleicht führt dieser Seidls kreative Karriere nicht viel weiter in den (oder weg vom) Untergang, aber er wird mit unerschütterlicher Überzeugung, einem enormen kompositorischen Gespür und einem erstaunlichen Gespür für das Entdecken außergewöhnlicher Orte geführt.

Der italienische Küstenort Rimini ist im Winter ein unheimlicher, melancholischer Ort; Seidl zeigt es in eiskaltem Nebel und echtem Schnee. Flüchtlinge drängen sich auf der Straße, und einige Gruppen deutscher und österreichischer Touristen machen in den kitschigsten Hotels Pauschalreisen zu günstigen Preisen zu Nebensaisonpreisen. Hier geht Ritchie Bravo, gespielt von Seidl-Stammgast Michael Thomas, seinem düsteren Gewerbe nach. Er ist ein alternder Lounge-Sänger mit einem Alkoholproblem, einem fröhlichen, verschlafenen Stil, einer islamfeindlichen Einstellung, einer gebleichten blonden 80er-Vintage-Frisur und einem breiten Bauch. Ritchie verdient seinen Lebensunterhalt damit, zu seiner begeisterten weiblichen Senioren-Fangemeinde zu singen, die auf ihren Trainerpartys auftaucht, um seine Show zu sehen. (Man könnte ihn mit Nick Apollo Forte in Woody Allens Broadway Danny Rose oder Gerard Dépardieu in Xavier Giannolis The Singer vergleichen – nur viel, viel schrecklicher.) Er stockt sein Einkommen auch auf, indem er Sex mit einigen der Fans für Geld hat – wirklich grausame Szenen im unversöhnlichen Seidl-Stil.

Doch Ritchie steckt in einer persönlichen Krise. Er muss heim nach Österreich, als seine Mutter stirbt und er mit seinem Bruder Ewald (Georg Friedrich) wiedervereinigt wird. Sein Vater Ekkehardt (gespielt von Hans-Michael Rehberg, der 2017 kurz nach den Dreharbeiten zu seinen Szenen starb) leidet an Demenz und versteht jetzt nicht, dass seine Frau tot ist. Dieser einsamen, angeschlagenen Figur werden die letzten desolaten Momente des Films zugesprochen. Aber am traumatischsten wird Ritchie zurück in Rimini mit der längst entfremdeten erwachsenen Tochter Tessa (Tessa Göttlicher) konfrontiert, die wütend Geld von ihm als Entschädigung dafür verlangt, wie er sie und ihre Mutter vor Jahren verlassen hat. Gekreuzigt von Schuldgefühlen und elektrisiert von Familiengefühlen nach der Beerdigung macht sich Ritchie auf den Weg, um Tessa ihr Geld zu besorgen – was bedeutet, das Geld vom Bankkonto seines verwirrten Vaters zu unterschlagen und seine Sexsessions mit seinen Touristenkunden zu Erpressungszwecken zu filmen.

Es endet nicht gut. Das braucht man kaum zu sagen. Sein Wiedersehen mit Tessa soll das Instrument seiner zermürbenden Bestrafung sein: Er ist schuldig und verdient alles, was auf ihn zukommt, außer dass man in Seidls Welt das Gefühl bekommt, dass ihm schreckliche Dinge passieren würden, selbst wenn oder besonders wenn er es täte. Ich benehme mich nicht schlecht. Es gibt Qual für alle, einschließlich des Publikums. Es liegt eine Art Brillanz darin.

Rimini wurde auf den Berliner Filmfestspielen gezeigt

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