Ein Hotelprojekt der speziellen Art im Muggiotal

Während der Corona-Pandemie reisten plötzlich alle ins Tessin. Diesen touristischen Schwung will man ausnützen. Zum Beispiel ganz hinten im Muggiotal, wo sich ein Dorf mit einem aussergewöhnlichen Hotelkonzept neuen Wohlstand erhofft.

«Muggiotal, nicht Maggiatal!» Deutschschweizer Fans werden nicht müde, für das südlichste Bergtal des Tessins zu werben. «Valmütsch» nennen die Einheimischen das Tal am Fuss des 1700 Meter hohen Monte Generoso. Lange Zeit kannte es gar keinen Tourismus. Zwar strömten mit der Eröffnung der Gotthardbahn ab 1882 bereits die ersten Feriengäste nach Ascona, Locarno oder Lugano, doch im Muggiotal gab es während Jahrzehnten nur Landwirtschaft und Schmuggel.

Allerdings war der Schmuggel einträglich. Einheimische brachten bis in die 1950er Jahre hinein Zigaretten, Zucker und Kaffee über alte Säumerpfade nach Italien, um ihr Einkommen aufzubessern. Daher stieg die Kaufkraft im Muggiotal beträchtlich. Doch im Laufe der Zeit sank die Zahl der Bewohner. Die jüngeren wanderten in die wirtschaftlich boomende Region Mendrisio ab.

Bäume statt Beton

Einer, der hier geboren und aufgewachsen ist, will nun dem Tal zu neuem wirtschaftlichem Schwung verhelfen. «Ich liebe das Muggiotal», sagt Oscar Piffaretti, Anfang fünfzig und ehemaliger Bankkaufmann und Spezialist für Finanzversicherungen. Um zu zeigen, wie dieser Aufschwung aussehen könnte, fährt er einen nach Scudellate, seinem Heimatdorf. Es ist das zweitletzte Dorf ganz hinten im Tal. Einst lebten hier um die 150 Menschen, heute sind es gerade noch 15. Und diese sind alle im Pensionsalter.

Blick ins Muggiotal. Die Bergflanken fallen sanft ab, hier und da bedeckt ein Hauch von Schnee die wenigen terrassierten Wiesen bei den Dörfern.

Blick ins Muggiotal. Die Bergflanken fallen sanft ab, hier und da bedeckt ein Hauch von Schnee die wenigen terrassierten Wiesen bei den Dörfern. 

Einst lebten in Scudellate 150 Menschen, heute sind es noch 15. Einer, der hier geboren und aufgewachsen ist: der Unternehmer Oscar Piffaretti.

Einst lebten in Scudellate 150 Menschen, heute sind es noch 15. Einer, der hier geboren und aufgewachsen ist: der Unternehmer Oscar Piffaretti.

Selbst durch die Windschutzscheibe spürt man den Charme des winterlichen Muggiotals. Kahle Laubbäume zeichnen feine Muster in die Luft. Die Dörfer auf den sanft abfallenden Bergflanken liegen da wie vor hundert Jahren. Von Betonbauten keine Spur.

Aus Scudellate kam Piffarettis Grossmutter Agnese, ihre Familie hatte im Dorf ein Gasthaus eröffnet, die Osteria Manciana. Sie heiratete einen jungen Bäcker, der 1939 aus Novazzano ins Tal gezogen war: Piffarettis Grossvater Ugo. Zu jener Zeit herrschte reges Leben im Dorf. Neben der Osteria gab es noch zwei weitere Beizen und eine Bäckerei. Denn unter den Hungrigen und Durstigen hatte es auch viele Schmuggler, liegt doch die Grenze nur einen Steinwurf entfernt. Und bis 1975 dienten auch Zollbeamte in Scudellate.

«Mögen Sie Ossobuco?», fragt Piffaretti. Es sei bald Mittagszeit, und seine Familie mache ihn in der Osteria selber. In seinem Heimatdorf hat er vor zwei Jahren ein besonderes Projekt angestossen: ein sogenanntes Albergo Diffuso. Auf Deutsch könnte man «weitläufiges Hotel» oder «dezentrales Hotel» dazu sagen. Die Zimmer liegen über das ganze Dorf verstreut, die Rezeption, die Verköstigung und die Koordination der Putzequipe sind zentral.

Hinten im Muggiotal schmiegt sich das Dorf auf 900 Metern über Meer langgezogen an den Hang.

Hinten im Muggiotal schmiegt sich das Dorf auf 900 Metern über Meer langgezogen an den Hang.

Kann so etwas gutgehen? Hat nicht das Tessin in den letzten Jahrzehnten stetig an Gästen verloren? So hat noch am Morgen, beim Frühstück in Lugano, der junge Hotelier Lorenzo Pianezzi, Präsident von Hotelleriesuisse Ticino, von einer «Erosion» des Tourismus im Südkanton gesprochen. Nachdem die Übernachtungszahlen jahrzehntelang gestiegen waren, begannen sie Mitte der 1990er Jahre stark einzubrechen.

Den Hauptgrund für diese Entwicklung sieht Pianezzi in den Billigflug-Angeboten, die damals aufkamen. Sie lockten viele Tessin-Fans in südlichere, maritime Gefilde. So schrumpfte die Zahl von einst 3 Millionen jährlichen Übernachtungen auf 2,3 Millionen.

Für etwas Auftrieb sorgte erstmals wieder die Neat, die neue Eisenbahn-Alpentransversale. Nach der Eröffnung des neuen Gotthard-Bahntunnels Ende 2016 verzeichnete der Südkanton ein Jahr später immerhin 2,45 Millionen Übernachtungen. Dies dank der Stammkundschaft der Tessiner Hotels – den Deutschschweizern.

Kein Massentourismus

Hinten im Muggiotal schmiegt sich das Dorf Scudellate auf 900 Metern über Meer langgezogen an den Hang. Ob die Aussicht gefalle, erkundigt sich Oscar Piffaretti. Es ist eine rein rhetorische Frage: Steht man auf dem Balkon der Osteria Manciana, scheint sich einem das ganze Tal direkt vor den Füssen zu öffnen.

Nun ist auch zu sehen, wie stark bewaldet es ist. Hier und da bedeckt ein Hauch von Schnee die wenigen terrassierten Wiesen bei den Dörfern, von denen es auch nur eine Handvoll gibt. Wolken hängen über dem Tal. Sie können sich nicht entscheiden, ob sie Schneeflocken oder Regentropfen schicken sollen. Und es herrscht einfach Ruhe.

Guerino Piffaretti, der Vater von Oscar Piffaretti, eröffnete Anfang der 1980er Jahre mit Freunden in Scudellate eine Herberge.

Guerino Piffaretti, der Vater von Oscar Piffaretti, eröffnete Anfang der 1980er Jahre mit Freunden in Scudellate eine Herberge. 

Als Guerino Piffaretti im Jahr 2017 in Pension ging, beschlossen die Jungen, etwas Neues zu riskieren: das Albergo Diffuso.

Als Guerino Piffaretti im Jahr 2017 in Pension ging, beschlossen die Jungen, etwas Neues zu riskieren: das Albergo Diffuso.

«Bei uns gibt es keinen Massentourismus», sagt Piffaretti. Erst ab den 1970er Jahren kehrten vereinzelte Berggänger aus dem Südtessin in der Osteria Manciana ein. In dieser Zeit begann Oscar Piffarettis Mutter Piera dort zu wirtschaften, Seite an Seite mit ihrer Schwiegermutter Agnese. Weil sie so schmackhafte lokale Gerichte servierten, ging ihr Ruf weit über Scudellate hinaus.

Die Uhr in der Osteria Manciana schlägt zwölf. Der Ossobuco kommt auf den Tisch. Es ist Mitte Dezember und das letzte Wochenende, an dem der Betrieb offen hat. Also essen auch die letzten Gäste aus der Deutschschweiz besonders genüsslich, in aller Eintracht mit Einheimischen. Die Stimmung ist gut, es wird viel gelacht: Familie Piffaretti pflegt einen herzlichen Umgangston.

Anfang der 1980er Jahre eröffnete Oscar Piffarettis Vater Guerino mit einigen Freunden aus dem Dorf ein Ostello, eine Herberge für Schulklassen, die schnell beliebt wurde. Der Wendepunkt für die gut laufende Osteria und das Ostello kam 2017: Guerino und seine Frau Pierina Piffaretti gingen in Rente.

Nun gaben sich die Jungen einen Ruck. Sie beschlossen, etwas Neues zu riskieren: ein Albergo Diffuso. Dies wurde möglich, weil Oscar Piffarettis Frau, Simona Recalcati, ihren alten Job aufgab. Während dreissig Jahren hatte sie ein Restaurant in Chiasso geführt, nun stieg sie in die neue Unternehmung ein. Sie ist die Managerin des ganzen Osteria-Betriebs. Der Dritte im Bunde ist Piffarettis früherer Arbeitskollege Claudio Zanini aus Chiasso. Den dreien gehören mehrere Gebäude in Scudellate. Sie sind daran, sie als Unterkünfte für ihr dezentrales Hotel zu renovieren.

Inspiriert von Italien

Auf die Idee des Albergo Diffuso seien sie gekommen, weil sie von rund 150 erfolgreichen Umsetzungen in Italien gehört hätten, sagt Zanini, der nächstens sechzig wird und der wirtschaftlich Denkende im Unternehmer-Trio ist. Von dort stamme das Modell des weitläufigen Hotels. Dieses besondere Konzept bewährt sich vor allem, wenn peripher gelegene, pittoreske Dörfer wegen Abwanderung zu veröden drohen. Touristen schätzten die verstreuten Zimmer oder Wohnungen während der Höhepunkte der Corona-Pandemie 2020 und 2021 ganz besonders.

«Wir rechnen mit Wachstum, wir werden überleben», sagt Claudio Zanini, im Bild mit seiner Frau Nilo Zanini.

«Wir rechnen mit Wachstum, wir werden überleben», sagt Claudio Zanini, im Bild mit seiner Frau Nilo Zanini.

Das Albergo Diffuso soll 2023 etwa 4000 Gäste beherbergen, 2024 sollen es 5000 sein.

Das Albergo Diffuso soll 2023 etwa 4000 Gäste beherbergen, 2024 sollen es 5000 sein.

Just zu Beginn der Pandemie gründeten Piffaretti und Zanini eine Stiftung. Deren Zweck sind Pflege und Erhalt des oberen Muggiotals. Die Berghilfe, der Kanton Tessin, die acht Stiftungsmitglieder und andere Privatpersonen schossen rund eine Million Franken ein. So konnte Scudellates Jugendherberge im ehemaligen Dorfschulhaus modernisiert und neu eröffnet werden. Anschliessend hoben sie die Aktiengesellschaft Albergo Diffuso del Monte Generoso aus der Taufe. Sie funktionierten die Osteria Manciana zur Rezeption und zum Hotelrestaurant um und richteten zehn stilvolle Schlafplätze ein.

Piffaretti und Zanini starteten im Juli 2021 einen kurzen Testbetrieb. Die Berghilfe und der Kanton leisteten Schützenhilfe beim Marketing, und sofort zog das Albergo Diffuso Touristen an. In jenem Jahr konnten Osteria und Ostello bereits um die tausend Übernachtungen verzeichnen. Es kamen hauptsächlich naturverbundene Deutschschweizer Gäste, die neue Orte im Tessin entdecken wollten. Ein Trend, der sich 2022 fortsetzte. Alles in allem übernachteten letztes Jahr etwa dreitausend Personen im Albergo Diffuso.

Es heisst immer wieder, die Corona-Pandemie habe für eine neue Blüte des Tessiner Tourismus gesorgt. Was ist da dran? Darauf angesprochen, meint der junge Hotelier Lorenzo Pianezzi: «In der Pandemie haben sich die Deutschschweizer und Romands wieder voll ins Tessin verliebt.» Wegen des südlichen Flairs samt Palmen, kombiniert mit schweizerischer Sicherheit. Sogar deutlich jüngere Menschen würden statt nach Mallorca ins Tessin reisen.

Natur, Ruhe und Authentisches: Das alles habe das Muggiotal in Überfülle, gibt sich der Unternehmer Claudio Zanini überzeugt.

Natur, Ruhe und Authentisches: Das alles habe das Muggiotal in Überfülle, gibt sich der Unternehmer Claudio Zanini überzeugt.

Simona Recalcati, die Frau von Oscar Piffaretti, arbeitet in der Osteria Manciana, dem Hotelrestaurant des Albergo Diffuso.

Simona Recalcati, die Frau von Oscar Piffaretti, arbeitet in der Osteria Manciana, dem Hotelrestaurant des Albergo Diffuso.

So verzeichnete der Südkanton im Jahr 2021 insgesamt 2,93 Millionen Übernachtungen. Eine Zahl, wie sie letztmals wohl Ende der 1980er Jahre erreicht worden war. Einen Rückgang um 13 Prozent zeigt die Bilanz für das erste Halbjahr 2022 – doch das sind immer noch etwas mehr Übernachtungen als in den letzten Jahren vor der Pandemie.

Unterdessen ist diese abgeflacht. Es wagen wieder mehr Leute eine Flugreise in deutlich südlichere Gefilde. Allerdings werden Flugtickets und Unterkünfte künftig kaum mehr so billig sein wie einst. Dies aufgrund der hohen Energiepreise und des geschärften Bewusstseins für den Umweltschutz. Genau das sei die Chance fürs Tessin, meint Pianezzi.

Das Tessin als Ganzjahresdestination

Als Vertreter der jungen Hoteliergeneration fordert er touristische Projekte, um die Gäste zu halten. Pianezzi denkt zum Beispiel an die mittlerweile verworfene Idee, eine Passerelle von Ascona zu den Brissagoinseln zu bauen. Das Wetter sei in den letzten Jahren im Winter immer milder geworden, sagt er. Es liege auf der Hand, dass das Tessin deshalb zur ganzjährigen Destination werden müsse.

Im Muggiotal gibt man sich zuversichtlich. «Wir rechnen mit Wachstum, wir werden überleben», sagt Claudio Zanini. Etwa 4000 Gäste möchte er in der nächsten Saison beherbergen, 2024 sollen es 5000 sein. Viele Deutschschweizer Touristen suchten im Tessin Natur, Ruhe und Authentisches. Das alles habe das Muggiotal in Überfülle.

Zanini nimmt den Besucher mit auf einen Rundgang durchs Dorf. Ein paar Häuser weiter hämmern, sägen und bohren Arbeiter in einem stattlichen Gebäude mit breiter Fensterfront. Vor dem Haus stehen auf einer Terrasse alte Maulbeerbäume, die im Sommer Schatten spenden. Deswegen wird die Baute auch «Casa dei Gelsi» heissen.

Gleich daneben wurden neue Obstbäume gepflanzt. Und auf dem Abhang unterhalb des Hauses lassen Zanini und Piffaretti einen kleinen Weinberg anlegen, den höchstgelegenen des Tessins. In drei Jahren wollen sie einen eigenen Bio-Weissen anbieten. Im Keller der Casa dei Gelsi soll ausserdem eigener Käse reifen, hergestellt in Chiasso zwar, aber mit Milch aus dem Muggiotal.

Das Maulbeerbaum-Haus soll im Rahmen eines Bed-and-Breakfast-Konzepts mit sechs Zimmern und zwölf Schlafplätzen Teil des Albergo Diffuso werden. Dazu gesellt sich bald eine ausgebaute Berghütte auf der Caviano-Alp oberhalb von Scudellate mit weiteren Schlafplätzen. Alles in allem geht es um Investitionen von sechs Millionen Franken und die Schaffung dreier weiterer Vollzeitjobs.

Das Albergo Diffuso plant, seinen Gästen auch Wanderungen, Yoga-Kurse und Ausflüge auf den alten Schmugglerpfaden nach Italien anzubieten.

Das Albergo Diffuso plant, seinen Gästen auch Wanderungen, Yoga-Kurse und Ausflüge auf den alten Schmugglerpfaden nach Italien anzubieten.

Der Plan ist, dass die Gäste mindestens drei Nächte bleiben. Also muss auch ein entsprechendes Programm her: Vorgesehen sind Wanderungen, Yoga-Kurse und Ausflüge auf den alten Schmugglerpfaden nach Italien. Das Nachbarland liegt ja um die Ecke, einige hundert Meter nach dem alten Zollhaus oberhalb des Dorfes.

Genau darauf steuert Zanini nun zu, um den frühen Sonnenuntergang zu geniessen. Die Wolken haben sich nämlich verzogen. Gleich neben dem Zollhaus liegt der Friedhof mit der typischen südlichen Ornamentik. Es ist ein schöner Kontrast: Schmuggel und Vergänglichkeit.

Von hier oben überblickt man das ganze Dorf, sieht den Kran über der Casa dei Gelsi schweben und die Arbeiter werken. Und die Sicht ins Tal, das im Abendlicht noch zarter wirkt, ist jetzt noch erhabener. Fast meint man, ein Fleckchen von der Poebene zu erspähen.

Das zentral geleitete Albergo Diffuso soll nicht nur in Scudellate zum Wirtschaftsfaktor werden, sondern auch in anderen Dörfern des Muggiotals. Sinnvoll wäre nämlich die Vernetzung mit allen Hausbesitzern im Tal, die Zimmer vermieten wollen: So wären sie motiviert, ihre zum Teil heruntergekommenen Bauten zu renovieren.

Wenn noch mehr «sanfte Touristen» anreisen, entstehen zudem neue Pizzerien und Herbergen. Dann erhalten die Handwerker und Lieferanten mehr Aufträge – und am Ende gibt es vielleicht wieder mehr junge Familien im Tal.

Es herrscht also Pionierstimmung im «Valmütsch». Oder wenigstens in Scudellate. Dabei hält sich Zanini ans Motto: «Wer die beste Location hat, der überlebt.» Und die hat Scudellate.

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