“Hate Speech bekomme ich auch”

Zu woke, zu ländlich, tendenziös – als Chefin des grössten Schweizer Medienhauses muss Nathalie Wappler viel einstecken. Im Interview spricht sie über Hate-Speech, Gendersternchen, Winnetou, Sandro Brotz und die Kritik am öffentlichrechtlichen Rundfunk im In- und Ausland.

Nathalie Wappler, Direktorin von Schweizer Radio und Fernsehen: «Sie schauen am Samstagabend ‹Happy Day?› Das erstaunt mich jetzt ein bisschen».

Gaëtan Bally / Keystone

Frau Wappler, Sie sind deutsch-schweizerische Doppelbürgerin, vor Ihrem Amtsantritt als SRF-Direktorin waren Sie zwei Jahre lang Programmdirektorin beim Mitteldeutschen Rundfunk. Wie unterscheidet sich die Arbeitsatmosphäre in Deutschland und der Schweiz?

Sie ist ähnlich. Dass sie dort etwas schneller reden, ist bekannt. Weil der Ton und die Sprache einen anderen Zug haben, empfindet man die Deutschen schnell als strenger, obwohl sie das gar nicht sind.

In Deutschland sind die öffentlichrechtlichen Sender stark in die Kritik geraten. Man wirft ihnen vor, politische Schlagseite zugunsten von Rot-Grün zu haben, zudem gibt es Skandale wegen verschwenderischen Gebarens und Vetternwirtschaft. Was ging Ihnen durch den Kopf, als Sie die Berichte gelesen haben?

Inhaltliche Kritik kann auch bei der ARD durch unabhängige Aufsichtsgremien überprüft werden. Diese halten immer wieder die Sachgerechtigkeit und die Ausgewogenheit der Sendungen fest. Die Skandale habe ich natürlich mitverfolgt, und ich bin froh, dass sie aufgeklärt werden.

Diplomatischer geht es nicht. Finden Sie es in Ordnung, wenn ein ARD-Tagesthemen-Kommentator grüne Politik bewirbt, ohne dass den Zuschauern gesagt wird, dass er Aktivist der Grünen ist?

Das finde ich grundsätzlich nicht gut. Journalisten müssen möglichst unabhängig sein. Die ARD hat denn auch richtigerweise entschieden, dass der besagte Journalist gewisse Themen am Sender nicht mehr kommentieren darf.

Als Sie Ihr Amt angetreten sind, haben Sie gesagt, dass es bei SRF keinen Meinungsjournalismus gebe. Dennoch wird man bei SRF häufig mit Meinungen konfrontiert. Zu sehen war das etwa in der Sendung «Arena», als der Moderator Sandro Brotz den SVP-Politiker Thomas Aeschi vor laufender Kamera als Rassisten bezeichnete.

Ich habe mich damals hinter Sandro als Moderator gestellt, und das mache ich auch weiterhin. Er ist sonst ein guter und vermittelnder Moderator. Aber es stimmt, wir haben in jener Sendung zu wenig transparent gemacht, dass der Rassismusvorwurf von der Antirassismuskommission kam. Das hätten wir besser machen müssen.

Die Sendung hatte in der Schweizer Öffentlichkeit eine enorme Resonanz. Freuen Sie sich insgeheim, wenn Sie am Samstagmorgen aufstehen und merken, dass sich in den sozialen Netzwerken gerade ein Empörungssturm über die «Arena» zusammenbraut?

Solche Diskussionen zeigen, dass die «Arena» viel zu reden gibt, entgegen anderen Behauptungen. Mir ist es am liebsten, wenn mir am Samstagmorgen ganz unterschiedliche Leute sagen, dass ihnen die Diskussionen in der Sendung gefallen hätten. Aber ich gehöre nicht zu denen, die sagen: «Super, mein Tag fängt damit an, dass sich gerade alle aufregen.»

Nicht nur in der «Arena», auch in unpolitischen SRF-Sendungen wird man als Zuhörer oft mit Meinungsäusserungen und tendenziösem Journalismus konfrontiert. In der «Tagesschau» vom Donnerstagabend war von den «durchaus berechtigten Anliegen» der Klima-Aktivisten die Rede. Über deren Anliegen – planwirtschaftlicher «Umbau» der Wirtschaft, keine Atomkraft, Flugverbote und so weiter kann man allerdings genauso unterschiedlicher Meinung sein wie über deren Methoden. Weshalb dieser politische Kommentar in einer Nachrichtensendung?

Unsere Korrespondentin unterstützt die Aktionen der Aktivistengruppe keineswegs, im Gegenteil. Sie zieht den Schluss, dass die Störaktionen zu sehr polarisieren und dadurch deren Anliegen untergehen. Damit meint sie generell den Einsatz gegen den Klimawandel, dessen Existenz wissenschaftlich erwiesen ist.

Ein anderes Beispiel: Man hört sich die Morgensendung auf SRF 3 an, und die Moderatorin teilt einem mit, sie finde es unverständlich, dass überhaupt über Gendersprache diskutiert werde. «Machen wir es doch einfach», sagt sie. Anschliessend zitiert sie eine Expertin für Gendermedizin, die behauptet, Frauen würden in der Medizin systematisch benachteiligt. Gegenstimmen sind keine zu hören.

Bei der Sachgerechtigkeit geht es immer um das Gesamtangebot. Es kann ja sein, dass in einem Beitrag nur eine Stimme vorkommt. Das Thema «Gendergerechte Sprache» kommt bei uns vielfach vor, auch mit kritischen Stimmen und auch bei SRF 3. Wir haben uns ja auch zu gendergerechter Sprache bekannt in unseren publizistischen Leitlinien. Von daher: Ja, wir setzen uns mit gendergerechter Sprache auseinander.

Wie kommt es beim Publikum an, dass Sie gendern?

Die Sprache verändert sich, und es gibt immer auch Stimmen, die das nicht gut finden. Wir haben uns dazu entschlossen, weil sich die Gesellschaft verändert.

In Deutschland gab es kürzlich eine grosse Debatte um die Frage, ob ein neuer Winnetou-Film gezeigt werden dürfe. In der Schweiz sind Konzerte abgebrochen oder abgesagt worden, weil sich Aktivisten wegen der Dreadlocks der weissen Musiker angeblich unwohl fühlten. Lösen solche Debatten bei Ihnen Befremden aus, oder steigern sie Ihre Sensibilität?

Während der Winnetou-Debatte musste ich eine Schlagzeile lesen, wonach SRF keine Winnetou-Filme mehr zeigt. Da habe ich mich schon sehr gewundert, denn seit 2018 haben wir schlicht keine Lizenz mehr erworben für Winnetou. Warum hätte ich eine erwerben sollen? Filme kaufen wir stets nach redaktionellen Kriterien ein. Wichtig ist, dass man sensibel ist für gesellschaftliche Debatten, damit muss man sich auseinandersetzen. Bei «Verstehen Sie Spass?» gab es vor einigen Jahren einen Fall von Blackfacing, da war die Aufregung gross. Wir müssen uns mit solchen Themen auseinandersetzen.

SRF kündigt heute manche Sendungen mit Trigger-Warnungen an. So wurde ein Interview mit der Islamkritikerin Ayaan Hirsi Ali mit einer Warnung versehen, weil Hirsi Ali die Woke-Ideologie als idiotisch bezeichnet hat und sich dagegen ausspricht, spezielle Pronomen für Menschen zu verwenden, die sich weder als Frau noch als Mann fühlen. Braucht es das wirklich?

Manchmal sind solche Warnhinweise ein bisschen übertrieben. Man muss herausfinden, was geht und was zu viel ist. Es hält eine redaktionelle Kultur lebendig, dass man darüber diskutiert – und zugibt, wenn es zu viel war. Im Fall Hirsi Ali war es zu viel, und wir haben das auch korrigiert.

Wo sind die Warnhinweise notwendig?

Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Wir restaurieren alte Filme, zum Beispiel den «Schuss von der Kanzel», einen traditionellen Schweizer Film aus dem Jahr 1941. Da kommt Blackfacing vor. Natürlich zeigen wir diesen Film, aber wir weisen in einer Tafel am Anfang darauf hin, dass sich seit 1941 etwas verändert hat. Dies ist keine Warnung, aber eine solche Kontextualisierung muss man heute liefern.

Wir reden hier über Gendern und Trigger-Warnungen, das potenzielle Unwohlsein von Medienkonsumenten: Geben die Medien diesen Themen zu viel Gewicht?

Allein an der Emotionalität und an der Tatsache, dass Sie das hier einbringen, sieht man doch, dass es ein Thema ist. Sich damit auseinanderzusetzen, ist ein fruchtbarer Prozess, wo auch immer wir landen.

Das heisst, es ist egal, wo man landet?

Nein, aber es braucht auch Offenheit. Das ist doch das Schöne an der journalistischen Arbeit: Sie ist immer so nahe an der gesellschaftlichen Auseinandersetzung, ich lerne wahnsinnig viel. Ich glaube, das Publikum auch. Natürlich gibt es solche, die sagen: «Jetzt kommen die schon wieder mit dem Gender-Blödsinn.» Andere dagegen sagen: «Hey, es verändert sich etwas, habt ihr das nicht bemerkt?» Manche Entwicklungen finde ich auch schwierig und übertrieben: Man darf den Bürgerinnen und Bürgern auch etwas zumuten. Aber als Frau in einer Führungsposition bin ich durchaus froh, dass sich das gesellschaftliche Klima auch verändert hat, dass Sensibilitäten gewachsen sind.

Welche Erfahrungen haben Sie als Frau gemacht?

Es fängt damit an, dass es früher kaum Frauen in Führungsetagen gab. Ich bin noch heute in vielen Gremien und Runden die einzige Frau. Das verändert sich glücklicherweise, es gibt immer mehr Frauen in Führungspositionen, mitunter auch, weil sie einen emanzipierten Mann haben, der die Betreuung der Kinder mit ihnen teilt. Perspektivenvielfalt bringt uns weiter.

Als Sie bei SRF Stellen streichen mussten, hat man Sie sinngemäss als Meisterin der Guillotine betitelt. Werden Sie als Frau anders kritisiert als ein Mann?

Wenn Sie als Frau eine gewisse Klarheit an den Tag legen, kommen solche Vorwürfe viel schneller auf. Bei einem Mann würde es heissen, er sei durchsetzungsstark. Das passiert immer wieder, aber man lernt dazu. Keine Sorge: Ich kann mich wehren.

Sie haben als Journalistin in den 1990er Jahren angefangen, heute klagen viele darüber, dass sich die Öffentlichkeit auch durch das Internet stark polarisiert habe. Wie erleben Sie das?

Als ich angefangen habe, spielte das Internet im redaktionellen Alltag noch keine Rolle. Man konnte sich das gar nicht vorstellen, die ganze Fragmentierung in den Filterblasen. Aber ich bin optimistisch, dass sich die Menschen auch künftig miteinander austauschen werden. Natürlich werde ich auch nicht verschont von Hate-Speech. Aber ich vertraue darauf, dass die Menschen eigentlich die Verständigung suchen. Jeder, der mir anständig schreibt, erhält eine Antwort. In ganz vielen Fällen geht es ums Gehörtwerden. Das ist anspruchsvoller geworden. Aber den alten Zeiten trauere ich nicht nach.

SRF zelebriert zwar Diversität, gleichzeitig wirkt das Fernsehen doch auch ziemlich uniform. Angefangen bei den Moderatorinnen und Moderatoren: Fast alle sind zwischen 30 und 50, schlank, haben weisse Zähne und sehen recht gut aus. Typen wie Beni Thurnheer wirken da schon fast exotisch.

Beni Thurnheer ist 73. Wenn Sie und ich in dem Alter noch so gut in Schuss sind, können wir uns glücklich schätzen. Wir haben doch sehr unterschiedliche Köpfe. Salar Bahrampoori ist doch ganz anders als Fabienne Gyr. Rainer Maria Salzgeber, Bigna Silberschmidt, Cornelia Boesch – das sind alles unterschiedliche Persönlichkeiten. Aber klar: Wenn Sie Fernsehen machen, brauchen Sie Leute, die gerne vor die Kamera stehen.

Sie werden auch öfter von der Kamera eingefangen, etwa wenn Sie im Publikum von «Benissimo» oder bei «Happy Day» von Röbi Koller sitzen.

Sie schauen am Samstagabend «Happy Day»? Das erstaunt mich jetzt ein bisschen, aber es freut mich.

Warum sind Sie erstaunt, ist «Happy Day» so trashig?

Natürlich nicht. Dass ich diese Sendungen besuche, ist ein Zeichen der Wertschätzung, ich mache das öfter, auch um jenen meinen Dank auszusprechen, die am Samstag arbeiten.

«Happy Day» führt gemäss offizieller Sendebeschreibung «Menschen zusammen, die sich schmerzlich vermissen», Zuschauer können ein Duett mit ihrem Lieblingsstar singen, und der Moderator Röbi Koller wird als «Mann Ihrer Träume beschrieben». Gehören solche Sendungen wirklich zur journalistischen Grundversorgung, die SRF bieten soll?

Wir müssen gemäss Konzession auch Unterhaltung bieten. Dabei achten wir auf die Unterscheidbarkeit zu Privaten, Adaptionen von internationalen Formaten überlassen wir schon lange ihnen und setzen auf Eigenentwicklungen. Diese Sendungen haben etwas Verbindendes, fördern den Zusammenhalt. Ich denke da auch an die «Landfrauenküche», ein klassisches Unterhaltungsformat. Da treten Leute aus der ganzen Schweiz auf: traditionelle Bauernfamilien, andere leben in gleichgeschlechtlichen Beziehungen. In diesen Formaten erzählen wir viel über die Schweiz, auch darüber, wie sie sich verändert.

«Landfrauenküche», «Samschtig-Jass» – warum funktionieren die SRF-Sendungen so gut, die sich an der ländlichen Schweiz orientieren?

Nur weil Sie jassen, heisst das doch nicht, dass Sie die traditionelle Schweiz thematisieren. Das bindet auch ein städtisches Publikum. In unserer Konzession steht, dass wir alle Leute erreichen müssen. Das ist ein anspruchsvoller Auftrag. Das gelingt uns auch, etwa mit der Serie «Neumatt», wo wir ganz aktuelle Themen aufgreifen, etwa die Transformation der Landwirtschaft.

Sie müssen alle erreichen, aber 2016 war die «jüngste» Sendung von SRF 1 das «Guetnachtgschichtli». Der Altersdurchschnitt der Zuschauer betrug 40,4 Jahre. Hat das gebessert?

Ja, mit unseren neuen, digitalen Angeboten wie den «Kinder-News», «rec.» oder «We, Myself & Why» bei Instagram erreichen wir ein Publikum zwischen 18 und 35. Das freut mich sehr.

Das Online-Angebot von SRF ist stark ausgebaut worden, faktisch produzieren Sie eine Internetzeitung. Deswegen sind Sie seit Jahren im Clinch mit dem Verlegerverband. Warum konzentrieren Sie sich nicht einfach auf Fernsehen und Radio, wie es Ihrem Auftrag entspricht?

Die Herausforderung ist doch für alle Medienhäuser, wie wir nachhaltig im Internet präsent sein können. Aber wir produzieren sicher keine Internetzeitung. Bei der Weiterentwicklung unserer News-App haben wir uns beispielsweise auf Audio und Video konzentriert, aus Rücksicht auf die privaten Verleger. Wir wissen zudem aus zahlreichen Studien, dass die öffentlichrechtlichen Medien den Privaten im expandierenden Online-Markt nichts streitig machen. Auch wenn Avenir Suisse jüngst in einer Studie etwas anderes behauptet.

Der Vorsitzende der ARD, Tom Buhrow, hat kürzlich öffentlich über einen radikalen Umbau der öffentlich-rechtlichen Sender gesprochen. Unter anderem hält er es für legitim, Sender zu fusionieren und über eine Reduktion des Angebots zu diskutieren. Was halten Sie von seinen Aussagen?

Tom Buhrow hat in seiner Rede als Privatperson mehrere interessante Reformvorschläge gemacht. Die Auseinandersetzung darüber hat gerade erst begonnen und ich bin gespannt, wie sich die medienpolitische Diskussion weiter entwickelt.

In der Schweiz sind Sie immer wieder mit politischen Initiativen konfrontiert, die eine Abschaffung aller Gebühren oder zumindest ihre Halbierung verlangen. Ist das anstrengend für Sie, oder tut es SRF im Gegenteil gut?

Das gehört zu unserer Demokratie dazu. Es ist legitim, gegen die SRG Unterschriften zu sammeln, aber man muss sich bewusst sein, dass das Angebot bei einer Halbierung der Gebühren drastisch gekürzt werden müsste. Als ich in Ostdeutschland Programmdirektorin beim MDR war, habe ich gesehen, was es heisst, wenn die Grundversorgung wegbricht. Wenn der Bus nicht kommt, wenn sich ganze Landstriche entvölkern. Das hat mich zutiefst besorgt. Wenn Sie etwas einmal kaputt hauen, bauen Sie es nie mehr auf.

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