Karsten Warholm an der Leichtathletik-WM in neuem High-Tech-Schuh

Die Schuhtechnologie revolutioniert gerade die Leichtathletik. Was im Marathon begann, setzt sich auf der Bahn fort – und bald werden die Athletinnen und Athleten höher und weiter springen als je zuvor.

Karsten Warholm unterwegs zum Weltrekord über 400 m Hürden in Tokio. Da trägt er noch Schuhe ohne reaktiven Schaum im Vorfuss.

Kai Pfaffenbach / Reuters

«Bullshit!» Das war die Antwort von Karsten Warholm, als er an den Olympischen Spielen 2021 in Tokio zu den Schuhen seines Konkurrenten Rai Benjamin befragt wurde. Die beiden waren über 400 m Hürden soeben in eine neue Dimension gestürmt, Warholm war am Ende der Sieger mit einem Fabelweltrekord von 45,95 Sekunden.

Aber Benjamin hatte ihn bis auf die letzten Meter gejagt, mit einem Nike-Nagelschuh, in dessen vorderer Partie zwei Luftkissen verbaut waren, die ähnlich wie Federn wirken sollten. Warholm sagte, er sehe nicht ein, warum man irgendetwas unter einen Sprintschuh stecken sollte.

An den Weltmeisterschaften, die am Freitag in Eugene im US-Gliedstaat Oregon beginnen, wird Warholm mit einem Schuh antreten, unter den sehr wohl etwas gesteckt wurde. Sein Ausrüster Puma hat ihn in Erinnerung an die Aussagen des Norwegers mit einem Aufdruck versehen: #BS – für Bullshit. In dem Schuh steckt weit über ein Jahr Entwicklungsarbeit, an der Warholm intensiv beteiligt war. Er ist der einzige Spitzenathlet, den Puma an diesen Titelkämpfen damit ausrüstet, danach wird das Produkt sukzessive allen zugänglich gemacht.

Karsten Warholm und der neue Schuh, aufgenommen in Eugene am 13. Juli 2022.

Karsten Warholm und der neue Schuh, aufgenommen in Eugene am 13. Juli 2022.

Joël Marklund / Imago

Ohne Superschuhe nicht mehr konkurrenzfähig

Warholms neuer Schuh ist exemplarisch für das, was in den vergangenen Jahren in der Leichtathletik passiert ist. Der Treiber war Nike mit dem Strassenschuh Vaporfly, in dessen dicker Sohle ein extrem reaktiver Schaum mit einer Carbonplatte kombiniert wurde. Der Vaporfly revolutionierte ab 2016 den Laufsport, danach gab es eine Zeit, in der Spitzenläufer in grossen Marathons praktisch chancenlos waren, wenn sie andere Modelle an den Füssen hatten. Die Konkurrenz reagierte, heute haben alle grossen Firmen sogenannte Carbonschuhe im Sortiment.

Warholms Sturmlauf zum Fabelweltrekord in Tokio.

Eurosport / Youtube

Den nächsten Coup landete Nike 2018, als vereinzelte Athleten auch auf der Bahn mit Schuhen antraten, in deren Vorderteil reaktiver Schaum verbaut war. Es gehörte wohl zur Marketingstrategie des Ausrüsters, dass die Läufer die Schuhe schon kurz nach den Rennen auszogen und in ihre Rucksäcke steckten. Als müsse ein Betriebsgeheimnis geschützt werden. Um dieses zu ergründen, hätte man die Treter aufschneiden und im Detail untersuchen müssen.

Aber eines war augenfällig: Diese Nikes machten schnell. Im Januar 2020 erliess der Weltverband neue Regeln, die vor allem etwas klärten: Ja, es ist erlaubt, dicke Sohlen zu bauen, und es ist auch erlaubt, in diese eine steife Platte zu integrieren, zum Beispiel aus Carbon.

Das war ein wichtiges Signal für die Forschungsabteilungen, denn zuvor war in der Fachwelt darüber diskutiert worden, ob man diesen technologischen Fortschritt nicht verbieten sollte. Nun gab es klare Regeln, aber auch die Möglichkeit, innerhalb dieser Regeln innovativ zu werden. Romain Girard, der Leiter der Schuh-Entwicklung bei Puma, vergleicht das mit der Formel 1. «Dort werden regelmässig die Rahmenbedingungen definiert, und es ist dann an den Ingenieuren, auf dieser Basis das beste Auto zu bauen.»

Der Vergleich mit der Formel 1 ist naheliegend, denn tatsächlich haben Erkenntnisse aus der Automobilindustrie zur Entwicklung der neuen Schuhe beigetragen. Die Automobilindustrie hat viel Geld in die Erforschung von reaktiven Schäumen investiert, um sie zum Beispiel bei der Konstruktion von Stossstangen einzusetzen. Vereinfacht gesagt, sind das Kunststoffe, die mit Gas versetzt werden. Im Fall von Puma ist es Stickstoff, der Schaum wurde deshalb Nitro getauft.

Weltweit mit der Wissenschaft vernetzt

Girard hat in einem Sitzungszimmer der Puma-Zentrale in Herzogenaurach diverse Schuhe auf einen Tisch gestellt, alles Entwicklungen der vergangenen Monate. Die Firma betreibt im Unterschied zu den grössten Konkurrenten kein zentrales Forschungslabor, sondern arbeitet mit diversen Universitäten, Labors und spezialisierten Unternehmungen zusammen.

Dadurch entsteht das, was Girard Nahrung für den kreativen Prozess nennt. «Wir verschliessen uns nicht in unserer eigenen Welt, sondern wir öffnen uns für alle möglichen Experten aus der Sportwissenschaft.»

In den Diskurs einbezogen werden auch die Aktiven. Im vergangenen Jahr reiste Girard mit dem ganzen Team der Entwicklungsabteilung ans Meeting Weltklasse Zürich, wo mit 16 Athletinnen und Athleten Schuhe getestet und Diskussionen geführt wurden. «Wir stehen in einem ständigen Entwicklungsprozess, irgendwann müssen wir innehalten und gemeinsam mit den Athleten schauen, was wirklich sinnvoll ist», sagt Girard. Zürich war der ideale Zeitpunkt, weil danach noch rund zehn Monate blieben, um die Modelle für die WM 2022 zu perfektionieren.

Was in der Entwicklung alles passiert, lässt sich am Langhürdler Warholm erklären. Die von Nike zuerst für die Strassenschuhe lancierte Technologie baut auf zwei zentrale Elemente: eine Carbonplatte und reaktiven Schaum. In den Spikes (Nagelschuhen) wird der Schaum teilweise durch Luftkissen ersetzt. Beides wird beim Aufsetzen des Fusses mit Energie geladen und gibt diese danach wieder frei, ähnlich, wie wenn man eine Sprungfeder zusammendrückt und wieder loslässt. Es wird immer wieder diskutiert, ob das Geheimnis im Carbon oder im Schaum steckt. Wahrscheinlich geht es darum, die ideale Kombination zu finden.

Puma baute schon 2021 Spikes mit Schaum im Vorfuss, doch Warholm konnte ihre Vorteile nicht nutzen. Wo das Problem liegt, sieht man bei Mittel- und Langstreckenläufern gut, wenn im Fernsehen Zeitlupenaufnahmen der Füsse gezeigt werden: Der Schaum in den Schuhen verbiegt sich in alle Richtungen, es sieht manchmal aus, als würden die Athletinnen auf den Sohlen instabil herumwabbeln. Das wirkt sich extrem aus, wenn Warholm mit über 30 km/h durch die Kurve prescht oder hinter der Hürde mit einem Mehrfachen seines Körpergewichts auf der Bahn aufsetzt.

Deshalb verzichtete der Norweger im Olympiajahr auf Bullshit, wie er das nannte. Er lief einen Schuh mit einer Carbonplatte, die exakt an seine biomechanischen Bedürfnisse angepasst war. Es brauchte mehrere Retuschen, bis alles passte. «Karsten hat ein sehr gutes Gespür für die Schuhe, und er kann auch klare Feedbacks geben», sagt der Entwicklungsleiter Girard. Wenn in der Sohle etwas verändert werde, könne der Athlet exakt sagen, wo das geschehen sei und um wie viele Millimeter die Sohle dort dicker oder dünner sei.

Insgesamt vierzehn Monate wurde mit dem Olympiasieger und Weltmeister getüftelt, bis auch er einen Schuh hatte, in dem Carbon mit Schaum kombiniert wird. Die Entwickler reisten mehrmals nach Oslo, der Sportler kam wiederholt nach Herzogenaurach. In diesem Prozess wurde eine Art Klammer entwickelt, die den Nitro-Schaum in der Sohle umfasst. Dadurch wird das horizontale Wabbeln verhindert, in der Vertikalen aber kann der Schaum seine ganze Explosivität entfalten. «An diesem Schuh wurde keine einzige Linie aus ästhetischen Gründen gesetzt», sagt Girard, «alles ist funktional – der Schuh ist reine Ingenieurskunst.»

Doch was bei Warholm funktioniert, muss nicht für alle passen. Der Austausch mit den Athleten hat den Entwicklern klargemacht, dass es heute nicht mehr zielführend ist, ein Standardmodell für alle anzubieten. Beim Bau der neuen Schuhe hat sich verschiedentlich gezeigt, dass nicht alle gleich reagieren. Die einen wollen eine ganz harte Sohle, andere eine weiche, und es wird von den Sportlerinnen immer wieder Neues ausprobiert.

Jedem Star sein individuelles Tuning

Girard geht deshalb davon aus, dass künftig jeder Weltklasseathlet ein individuell getuntes Modell laufen wird. Ähnlich wie im Skisport, wo die Besten schon lange die für sie passenden Bretter bauen lassen. In der Leichtathletik wäre das eine Revolution. Als Usain Bolt 2009 seine Fabelweltrekorde über 100 m (9,58) und 200 m (19,19) lief, trug er Schuhe, die zwar auf die Anatomie seiner Füsse massgeschneidert waren. Sie sassen wie angegossen, aber der Aufbau des Schuhs war exakt gleich wie bei dem Modell, das in der Massenproduktion gefertigt wurde.

Die Entwicklung der Schuhe für die Stadion-Leichtathletik steht erst am Anfang. Speziell in den kürzesten Sprints scheint auch noch nicht ganz klar, was den grössten Boost bringt. Die Schäume in den Sohlen sind in der Beschleunigungsphase weniger effizient als reine Carbonplatten, können aber beim Laufen mit Top-Speed helfen. Bisher haben sie den 100-m-Sprint nicht revolutioniert.

Aber schon ab der halben Bahnrunde (200 m) sind die Vorteile laut Girard offensichtlich. Es geht dabei nicht nur um den kleinen Trampolin-Effekt der geschäumten Sohlen, sondern auch um Laufökonomie. Als Nike die ersten Superspikes auf die Bahn brachte, sagten Athletinnen und Athleten wie zuvor schon ihre Pendants auf der Strasse, dass sie weniger ermüdeten und dadurch im Finale mehr Reserven hätten. Der Effekt lässt sich an den Weltranglisten ablesen: Liefen 2016 noch 34 Frauen die 800 m unter 2 Minuten, so waren es 2021 bereits 52.

Im Sprint hat die Entwicklung bereits eingesetzt, in den Sprüngen steht sie noch bevor. Puma hat in einem ersten Schritt ein Modell für den Dreisprung entwickelt, das der Olympiasieger Pedro Pablo Pichardo am Diamond-League-Meeting in Paris erstmals schnürte. Werden sich die Dimensionen in der Leichtathletik verschieben? Romain Girard kann sich das sehr gut vorstellen. Bei den Männern stammen die Weltrekorde im Drei-, Weit- und Hochsprung allesamt aus den neunziger Jahren. Neue Schuhe könnten sie in neue Dimensionen rücken.

Dass das keine unrealistische Vorstellung ist, hat sich im Strassenlauf gezeigt. Der Vaporfly und die später von Nike-Konkurrenten entwickelten Schuhe haben im Marathon Grenzen gesprengt. Symbolisch dafür steht Eliud Kipchoge, der in einer Art Laborversuch in Wien den Marathon als erster Mensch in weniger als 2 Stunden lief. Seine Zeit von 1:59:40 wurde zwar mithilfe von sich abwechselnden Tempomachern und im Windschatten eines Autos gelaufen, aber sie wäre ohne Carbonschuhe niemals möglich gewesen.

Eliud Kipchoge in Wien, aufgenommen am 12. Oktober 2019.

Eliud Kipchoge in Wien, aufgenommen am 12. Oktober 2019.

Lisi Niesner / Reuters

Puma hat auch hier investiert und eine Lösung gefunden, die sich auffällig von den Modellen der Konkurrenz unterscheidet. Girard präsentiert in Herzogenaurach einen Schuh mit einer zweigeteilten Sohle. Der hochreaktive Nitro-Schaum wird nur unter dem Vorfuss verwendet, in der Ferse steckt ein stark absorbierender Schaum. Die beiden Teile werden durch eine gewölbte Carbonplatte verbunden.

Fünf verschiedene Paar Schuhe für jeden Langstreckenläufer

Die Idee sei, den menschlichen Fuss nachzuahmen, der in der Mitte aus Knochen und Sehnen besteht, die eine Spannung erzeugen. Entsprechend ist die Carbonplatte unter dem Fussgewölbe besonders hart und vorne eher weich. Nitro sei dem von Nike verwendeten und patentierten Schaum gleichwertig, sagt Girard. Aber es gebe eine noch nicht veröffentlichte Studie, die zeige, dass durch die neuartige Konstruktion von Puma eine bessere Laufökonomie als beim Vaporfly erreicht werde.

Orientiert sich an der Anatomie des menschlichen Fusses: der neue Marathonschuh von Puma.

Orientiert sich an der Anatomie des menschlichen Fusses: der neue Marathonschuh von Puma.

PD

Puma hat ausserdem einen Schuh für kurze Strassenläufe entwickelt, der völlig anders aussieht. Er ist ähnlich konstruiert wie ein Bahnschuh und berücksichtigt, dass bei Distanzen bis 5 km sehr aggressiv auf dem Vorfuss gelaufen wird. Er ist wie der Marathonschuh nur für Spitzenläufer gedacht und soll dosiert eingesetzt werden. Die Puma-Athleten erhalten von ihrem Ausrüster jeweils eine Tasche mit fünf verschiedenen Paar Schuhen, und es wird intensiv mit ihnen darüber diskutiert, wann welches Modell sinnvollerweise benutzt wird.

Dazu gehört auch ein Schuh mit einer monströs klobig wirkenden Sohle, die mit einer Dicke von 65 mm weit über dem in den Regeln festgeschriebenen Maximum von 40 mm liegt. In der Firma nennen sie ihn deshalb den «Rule Breaker». Er ist als Trainingsschuh für Eliteathleten gedacht. Diese reagieren skeptisch, wenn sie ihn sehen, und ihr Laufgefühl scheint sie darin zu bestätigen, dass der Schuh langsam macht. Aber dann schauen sie auf die Uhr und staunen. Laut Girard ist dieser Schuh ein weiteres Tool, um ausgewogen zu trainieren und Verletzungen zu vermeiden.

Nike lancierte den Vaporfly 2017 mit aggressivem Marketing als Schuh für alle Läuferinnen und Läufer, die Bestzeiten laufen wollen. Diverse Studien bestätigen, dass das tatsächlich auch im Hobbybereich möglich ist. Allerdings wird inzwischen auch immer häufiger auf Verletzungen hingewiesen, die auf diese Schuhe zurückzuführen sind.

Girard sagt, der für die Elite konstruierte Marathonschuh sei nichts für Freizeitsportler. Für sie kommt demnächst ein Marathonschuh auf den Markt, der zwar auch auf der Nitro-Technologie basiert, aber völlig anders konstruiert ist als das Spitzenmodell. Ob es sich durchsetzt, wenn Puma-Athleten anfangen, mit ihren auffälligen Schuhen Marathons zu gewinnen? Das wird sich weisen. Beim Vaporfly hat sich gezeigt, dass Leute sogar auf der gemütlichen Joggingrunde im Wald das an den Füssen haben wollen, was die Stars schnell macht.

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