Neue Erkenntnisse auch 100 Jahre nach Entdeckung

Viele der etwa 5300 Objekte untersuchen Wissenschafter jetzt zum ersten Mal. Und das Gold spielt dabei ausnahmsweise einmal nicht die Hauptrolle.

2014 war der Totenmaske des Tutanchamun der Bart abgefallen und unsachgemäss wieder angeklebt worden. Daraufhin bekamen Restauratoren vom RGZM in Mainz 2015 die Möglichkeit, den Schaden zu beheben und das berühmte Stück grundlegend zu untersuchen.

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Die Totenmaske des Tutanchamun in den Händen zu halten, das 3300 Jahre alte und geradezu unwahrscheinlich kunstvoll gearbeitete Antlitz des jungen ägyptischen Königs, mehr als zehn Kilogramm Gold, Edelsteine und Glaseinlagen, das vielleicht berühmteste archäologische Fundstück der Welt: was für ein unfassbares Privileg! Katja Broschat hat dieses Privileg gehabt. «Es war furchtbar», sagt sie.

2015 war das, nachdem der Maske bei Arbeiten an der Vitrine im Museum in Kairo der Bart abgefallen und übereilt und unsachgemäss wieder angeklebt worden war. Broschat und ihr Mann Christian Eckmann, beide Restauratoren am Römisch-Germanischen Zentralmuseum (RGZM) in Mainz, wurden nach Publikwerden des Vorfalls für eine erste Begutachtung hinzugezogen. «Als der ägyptische Minister für Antiken dann einige Monate später anfragte, ob wir auch die Restaurierung machen könnten, war klar, dass das kein vergnügliches Jahr werden würde.»

Denn sofort schossen ihr diverse Horrorszenarien durch den Kopf: «Die Verantwortung war riesig, und man hat sich nächtelang ausgemalt, was alles passieren könnte – dass ein Journalist stolpert bis hin zu Diebstahlsszenarien à la ‹Rififi› oder ‹Topkapi›.» Aber Nein sagen konnte und wollte sie trotzdem nicht. Denn: «Es war auch eine goldene Chance, sich endlich einmal anzusehen, wie der Bart denn eigentlich ursprünglich, also im 14. Jahrhundert vor Christus, befestigt war.»

Die im Grab gefundenen etwa drei Dutzend Statuen aus teilweise oder vollständig vergoldetem Holz sind bisher nicht im Detail untersucht worden. Diese etwa 70 Zentimeter hohe Statue nimmt Bezug auf den Mythos des Gottes Osiris, der von seinem Bruder Seth ermordet wird. Osiris’ Sohn Horus besiegt daraufhin Seth, der die Form eines Nilpferds angenommen hat. Das Nilpferd stellten die Ägypter aus magischen Gründen nicht dar.

Die im Grab gefundenen etwa drei Dutzend Statuen aus teilweise oder vollständig vergoldetem Holz sind bisher nicht im Detail untersucht worden. Diese etwa 70 Zentimeter hohe Statue nimmt Bezug auf den Mythos des Gottes Osiris, der von seinem Bruder Seth ermordet wird. Osiris’ Sohn Horus besiegt daraufhin Seth, der die Form eines Nilpferds angenommen hat. Das Nilpferd stellten die Ägypter aus magischen Gründen nicht dar.

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Das Gold aus dem Grab Tutanchamuns blendete alle

Die Befestigung des Barts an der Maske mag ein Detail sein. Aber sie ist symptomatisch für den Stand der wissenschaftlichen Forschung: Das Grab Tutanchamuns sei zwar das bekannteste von allen, aber auch das mit den wenigsten wissenschaftlichen Studien zu den Funden, sagt Susanne Bickel, Ägyptologin an der Universität Basel. Genau 100 Jahre ist es her, dass die in den Fels gehauenen Kammern mit der Mumie des ägyptischen Herrschers und seiner unfassbar reichen Ausstattung im Tal der Könige auf dem Westufer des Nils bei Theben entdeckt wurden. Genug Zeit, sollte man meinen, um alles gründlich zu untersuchen. Doch das Gegenteil ist der Fall.

Das hat verschiedene Gründe. Die schiere Menge der etwa 5300 Objekte mag eine Rolle spielen, der bürokratische Aufwand, um überhaupt an das Material heranzukommen, und auch die Weiterentwicklung der Methoden und Standards.

Aber da ist auch noch etwas anderes, auch wenn vielleicht niemand es so direkt zugeben will: Man gewinnt den Eindruck, der Prunk, der Ruhm dieses Grabes waren so gross, die öffentliche Aufmerksamkeit so fokussiert auf das viele Gold, dass es seriöse Wissenschafter abgeschreckt haben mag. Erst in den vergangenen zwei Jahrzehnten haben sie begonnen, sich mit den Funden aus dem Grab zu beschäftigen.

Mumien aus dem Umfeld Tutanchamuns werden untersucht

Nicht alles, was Frank Rühli, Paläopathologe von der Universität Zürich, über die Mumien aus der sogenannten 18. Dynastie erzählen könnte, darf heute schon in der Zeitung stehen. Er und seine Zürcher Kolleginnen haben geholfen, im neuen Nationalmuseum der ägyptischen Zivilisation in Kairo das Labor für antike DNA einzurichten. In Kairo werden mehrere Mumien aus dem Umfeld von Tutanchamun untersucht, molekular mit Gewebeproben und radiologisch mit Computertomografie (CT). Rühli ist an den Arbeiten beteiligt. Es geht darum, Verwandtschaftsverhältnisse zu klären, auch anhand von DNA.

Die historischen Quellen nämlich geben keine Auskunft darüber, ob Tutanchamun der Sohn des später aus der Erinnerung getilgten Königs Echnaton und seiner Hauptgemahlin Nofretete war oder aus einer Nebenlinie stammte. 2010 gab es schon einmal eine ähnliche DNA-Untersuchung, bei der vier Mumien als die Grosseltern und die Eltern Tutanchamuns identifiziert wurden. Seine Eltern waren demnach Bruder und Schwester – aber wer sie sind, ist nach wie vor unklar, da die Mumien ohne beschriftete Särge gefunden wurden.

Die Ergebnisse der jüngsten Untersuchungen an den Mumien aus der 18. Dynastie werden wohl erst in einigen Monaten veröffentlicht werden. Sie werden möglicherweise nicht alle Fragen klären können, aber: «Eine Verwandtschaft auszuschliessen, wäre ja auch eine Antwort», sagt Rühli.

Die Eingeweide Tutanchamuns wurden separat aufbewahrt, in einem Schrein aus vergoldetem Holz, der von vier Göttinnenfiguren geschützt wurde. Der Schrein enthielt einen Kasten aus Kalzit, einer Art Kalkstein, mit vier Vertiefungen. Sie waren jeweils mit einem Verschluss in Form einer Büste Tutanchamuns versehen. In jeder Vertiefung steckte ein Miniatursarg mit einem Organ.

Die Eingeweide Tutanchamuns wurden separat aufbewahrt, in einem Schrein aus vergoldetem Holz, der von vier Göttinnenfiguren geschützt wurde. Der Schrein enthielt einen Kasten aus Kalzit, einer Art Kalkstein, mit vier Vertiefungen. Sie waren jeweils mit einem Verschluss in Form einer Büste Tutanchamuns versehen. In jeder Vertiefung steckte ein Miniatursarg mit einem Organ.

Keystone

Die Ursache des Todes von Tutanchamun ist nach wie vor ungeklärt

Erst 18 Jahre war Tutanchamun alt, als er vermutlich im Jahr 1323 vor Christus starb. Mord durch einen Schlag auf den Hinterkopf, ein Unfall mit dem Streitwagen, eine Nilpferd-Attacke, Malaria, Tuberkulose, Klumpfuss: Über den Gesundheitszustand und die Ursache für seinen Tod haben sich in den vergangenen 100 Jahren viele Hypothesen entwickelt. Rühli und seine Kollegin Salima Ikram von der American University of Cairo überprüften 2014 alle Varianten darauf hin, ob sie sich aus den bisherigen Untersuchungen der Mumie belegen lassen. Nicht überraschend kamen sie zu dem Ergebnis, dass sich zwar einerseits vieles ausschliessen, aber andererseits nichts zweifelsfrei belegen lässt.

Aber Rühli fallen noch viele andere Dinge zu Tutanchamun ein, die zu untersuchen sich lohnen würde: Die Mumie wurde 1925, als sie erstmals ausgewickelt wurde, stark beschädigt, unter anderem wurden der Kopf und sämtliche Gliedmassen abgetrennt. «Die Forschung sollte jetzt in die Richtung gehen: In welchem Zustand war die Mumie 1925 beim Auswickeln?», sagt er. Oder die separat mumifizierten Eingeweide, eines von Rühlis Spezialgebieten. Magen, Lunge, Leber und Darm des Königs waren wie üblich entnommen und in kleinen Miniatursärgen mit ins Grab gelegt worden. Bei ihrer Auffindung 1922 waren die Organe noch vorhanden, das zeigen Fotos von damals. Heute sind die Behälter jedoch leer.

Einer der vier Eingeweidesärge des Tutanchamun, die jeweils etwa 40 Zentimeter hoch sind. Bei ihrer Auffindung enthielten sie noch eingewickelte Pakete mit Magen, Darm, Lunge und Leber des toten Königs. Heute sind sie leer. Die Organe könnten eine noch unerschlossene Informationsquelle über den Gesundheitszustand Tutanchamuns sein.

Einer der vier Eingeweidesärge des Tutanchamun, die jeweils etwa 40 Zentimeter hoch sind. Bei ihrer Auffindung enthielten sie noch eingewickelte Pakete mit Magen, Darm, Lunge und Leber des toten Königs. Heute sind sie leer. Die Organe könnten eine noch unerschlossene Informationsquelle über den Gesundheitszustand Tutanchamuns sein.

PD

Auch andere Wissenschafter finden noch genug Forschungslücken. Sie haben sich in jüngster Zeit mit den Eisenobjekten, den Lederwaren und Schuhen, den Körben und Flechtwaren aus dem Grab beschäftigt. Gerade schaut sich jemand die Betten an, ein anderer die Stäbe. Die Statuen, deren Bilder so oft gezeigt werden, warten noch auf eine genaue Analyse. Bei einer von ihnen ist das nur noch anhand alter Fotos möglich: Sie wurde während der Unruhen in Ägypten 2011 gestohlen, nur ein Fragment tauchte wieder auf.

Gestohlen hatte offenbar auch der Entdecker des Grabes, Howard Carter. Aus einem erst in diesem Jahr aufgetauchten Brief wird deutlich, dass er Objekte aus dem Tutanchamun-Schatz mit nach England nahm. Der Ägyptologe Marc Gabolde von der Universität Montpellier hat kürzlich Fragmente, die über diverse Museen verstreut sind, solchen verschwundenen Schmuckstücken zugeordnet.

Die Glasobjekte aus Tutanchamuns Grab sind spektakulär

Körbe und Schuhe, schön und gut. Aber natürlich assoziieren die meisten Tutanchamun zunächst einmal mit Gold. Und Katja Broschat, die Restauratorin, hat ja selbst auch schon an Goldobjekten aus dem Grab geforscht, zerstörungsfrei mit einem Mikroskop und einem portablen Röntgenfluoreszenzgerät: an Goldblechen, die lose auf dem Boden liegend gefunden wurden und vielleicht einen Streitwagen zierten. Und dann, im Zuge der Reparatur, an der Totenmaske; die Abschlusspublikation erscheint in den kommenden Wochen als Buch.

Das Gold ist offensichtlich. Der heimliche Star unter den Materialien aus dem Grab ist aber viel überraschender: Glas. Auch bei der Totenmaske denkt man zuerst an Gold. Aber die blauen Streifen auf dem königlichen Kopftuch der Maske? Glas, bis zu 50 Zentimeter lange Stäbe. Das Flechtmuster am Bart? Glas. Und so geht es im Katalog weiter: Die Einlagen am goldenen Sessel, die Augen der Tierstatuetten, die Amulette? Glas, Glas, Glas. Kaum ein Objekt aus dem Grab kommt ohne das Material aus. Die meisten Glasstücke sind nur winzig klein und zieren einen Gegenstand aus Holz oder Gold, das grösste hingegen, eine Kopfstütze, wiegt fast zwei Kilogramm. Objekte in dieser Grösse, die keine Gefässe sind, gibt es zu dieser Zeit sonst nirgendwo auf der Welt.

Diese Kopfstütze aus blauem Glas wurde nach dem Tod des Tutanchamun-Ausgräbers Howard Carter in dessen Besitz gefunden. Sie trägt eine Inschrift mit dem Thronnamen Tutanchamuns; dass sie aus dem Grab stammt, gilt als sehr wahrscheinlich. Carter hatte dieses und andere Objekte offenbar gestohlen.

Diese Kopfstütze aus blauem Glas wurde nach dem Tod des Tutanchamun-Ausgräbers Howard Carter in dessen Besitz gefunden. Sie trägt eine Inschrift mit dem Thronnamen Tutanchamuns; dass sie aus dem Grab stammt, gilt als sehr wahrscheinlich. Carter hatte dieses und andere Objekte offenbar gestohlen.

Christian Eckmann / RGZM

«Unfassbar schön» seien sie, sagt Katja Broschat, und von phantastischer Qualität. Sie hat die Objekte in den vergangenen Jahren untersucht. Die Handwerkskunst ist auch deshalb bemerkenswert, weil Glas zu Tutanchamuns Zeiten noch ein recht neues Material war. Ebenfalls aus geschmolzenem Sand hergestellte Glasuren, die sogenannte ägyptische Fayence, gab es zwar schon seit etwa 3000 vor Christus. Als eigenständiger Werkstoff – das erste menschengemachte Material der Welt – jedoch war es erst Mitte des 16. Jahrhunderts vor Christus entwickelt worden, ob im Vorderen Orient oder in Ägypten, ist umstritten. Umso überraschender war für Broschat, dass es im Grab des Tutanchamun auch transparente, farblose Einlagen gibt, nicht mit Farbschleier wie noch ein Jahrhundert zuvor, sondern wasserklar.

In diesem Film sind zahlreiche der Glasobjekte aus dem Grab des Tutanchamun mit den neu gewonnenen Erkenntnissen zu sehen.

Corning Museum of Glas

Die Restauratorin entdeckt ägyptische Hinterglasmalerei

Und sie führen zu einem weiteren, verwandten Phänomen, das selbst für Broschat völlig unerwartet war: Hinterglasmalerei. «Man dachte immer, das gebe es erst in römischer Zeit», sagt sie. Aber im Grab des Tutanchamun sind die Augen bei Statuetten eben nicht wie zuvor angenommen auf den Untergrund gemalt und dann mit einer Scheibe Bergkristall abgedeckt, sondern von hinten auf ein Stück Glas gemalt. Auch ein winziges Porträt des Königs auf dem Verschluss eines Paars von Ohrringen ist so gefertigt. Die Technik ist eine völlig andere. Man spricht auch von «Rückwärtsmalerei», weil die Malreihenfolge umgedreht ist: Erst kommen die Details, dann der Hintergrund.


Broschat entdeckte die Hinterglasmalerei bei immer weiteren Objekten, einer kleinen Vogeleinlage an einem goldenen Dolch zum Beispiel. «Das sah einfach nicht aus wie gefärbtes Glas», sagt sie. «Ich war mir sicher, mein Mann glaubte es nicht. Wir haben uns fast scheiden lassen.» Erst in diesem Frühjahr konnten sie den Dolch endlich mit Infrarotfotografie und speziellen Filtern untersuchen. Broschat lag richtig. Mit ihrem Mann ist sie noch zusammen.


Liegt Nofretete hinter einer Wand im Grab des Tutanchamun?

Und dann gibt es noch einen Ägyptologen, der auch an der in den Fels gehauenen Grabkammer des Tutanchamun noch etwas erforschen will. Der Brite Nicholas Reeves vermutet hinter der Nordwand der Sargkammer einen weiteren Raum und darin die Mumie der Nofretete. Das Grab sei ursprünglich für sie angelegt und erst nachträglich für Tutanchamun umgenutzt worden. Reeves stützt sich dabei auf bestimmte Objekte im Grab sowie auf Auffälligkeiten in der Wandmalerei und auf Wärmebilder, die diesen und einen weiteren Hohlraum hinter der Westwand zeigen sollen.

Seine erstmals 2015 vorgestellte These bekräftigt er noch einmal in der Neuauflage seines Buches «The Complete Tutankhamun», die Ende Oktober erschienen ist. Die Ägypter schweigen nach anfänglicher Begeisterung das Thema inzwischen tot, und einige von Reeves’ Kollegen sind, gelinge gesagt, sehr skeptisch. Einer von ihnen, Aidan Dodson, lässt sich mit der Aussage zitieren, Reeves «reitet mit seinen Theorien ein totes Pferd».

Susanne Bickel, die mit dem Kings’ Valley Project der Universität Basel im Tal der Könige forscht, ist weit weniger ablehnend. «Reeves’ Beobachtung an sich ist hervorragend», befindet sie. «Es entspricht der Praxis der Ägypter, dass sie eine Kammer nachträglich zupflastern.»


Aber dass in dieser möglichen Kammer wirklich Nofretete liegt, das hält auch Bickel für eine sehr gewagte These. Und man könne eben nicht einfach ein Loch in die Wand machen und nachschauen. «Man müsste erst einen Masterplan machen, ein eigenes Museum und eine Restaurierungswerkstatt bauen, und man brauchte unendlich viel Geld und Zeit.»

Deshalb wird wohl erst einmal nichts dieser Art passieren. Die Ägyptologie hat auch nach 100 Jahren noch genug zu tun mit Tutanchamun und dem bisher einzigen weitgehend unberaubten Königsgrab. Für ein weiteres ist noch keine Zeit. In 100 Jahren vielleicht.

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