Offensivpower im Schnellcheck: Superjoker kaschiert Flicks erstes Gegentor

Es ist passiert: Hansi Flick muss gegen Rumänien das erste Gegentor für die deutsche Fußball-Nationalmannschaft unter seiner Führung hinnehmen. Die WM-Qualifikation ist dennoch beinahe sicher, weil das Team Willen und Leidenschaft beweist. Und mit Thomas Müller ein Superjoker alles richtig macht.

Was ist im Hamburger Volksparkstadion passiert?

Attraktiver Fußball im Hamburger Volksparkstadion? Böse Zungen behaupten, das hätte ja eh niemand erwarten können. Anders als der Hamburger SV, der in der 2. Fußball-Bundesliga aktuell nur auf Platz sieben liegt, führt der DFB die Gruppe J in der WM-Qualifikation immerhin souverän an. Ebenso kann aber niemand behaupten, nicht 90 Minuten lang ordentlich unterhalten worden zu sein. Die Offensive hatte einen heftigen Drang nach vorn, die Spiellust war deutlich erkennbar. Und zur Offensive zählten sich über weite Strecken auch Jonas Hofmann und sogar Niklas Süle, der sich immer wieder mit vorn einschaltete. “War geil”, urteilte denn auch Thomas Müller – freilich wusste er da auch schon, dass er spät das Siegtor schießen würde.

Thomas Müller schleicht sich weg, trifft und jubelt.

(Foto: dpa)

Denn in Hamburg war auch das passiert, von dem Bundestrainer Hansi Flick wusste, dass es irgendwann passiert: Er hat ein Gegentor kassiert. Also sein Team, aber eben das erste mit ihm als Chefcoach. Der HSV hat ja auch schon elf in dieser Saison bekommen … Der kurzfristig für den verletzten Kapitän Manuel Neuer ins Tor gerückte Marc-André ter Stegen kennt die Situation. Es war sein 26. Länderspiel, es ist das erst 15., das er gewinnen konnte. Die Beziehung DFB-Elf und ter Stegen, sie ist eine komplizierte. Am Montag soll Neuer wieder spielen können, versicherte Flick schon vor der Partie geflissentlich.

Teams und Tore

Deutschland: ter Stegen/FC Barcelona (29 Jahre/26 Länderspiele) – Hofmann/Borussia Mönchengladbach (29/7) ab 85. Klostermann/RB Leipzig (25/15), Süle/Bayern München (26/36), Rüdiger/FC Chelsea (28/48), Kehrer/Paris St. Germain (25/13) – Kimmich/Bayern München (26/63), Goretzka/Bayern München (26/39) – Gnabry/Bayern München (26/30), Reus/Borussia Dortmund (32/47) ab 67. Havertz/FC Chelsea (22/21), Sane/Bayern München (25/38) ab 89. Ademeyi/Red Bull Salzburg (19/2) – Werner/FC Chelsea (25/46) ab 67. Müller/Bayern München (32/107). – Trainer: Flick

Rumänien: Nita/Sparta Prag (34 Jahre/10 Länderspiele) – Ratiu/SD Huesca (23/3), Rus/Fehervar FC (25/9), Chiriches/Sassuolo Calcio (31/68), Burca/CFR Cluj (28/7) ab 50. Manea/CFR Cluj (24/15) , Tosca/Gaziantep FK (29/27) – Hagi/Glasgow Rangers (22/21) ab 60. Maxim/Gaziantep FK (31/51), Stanciu/Slavia Prag (28/51) ab 82. Albu/Rapid Bukarest (28/1), Marin/Cagliari Calcio (25/34), Mihaila/Parma Calcio (21/4) ab 60. Ivan/CS Universitatea Craiova (24/10) – Puscas/FC Reading (25/24) ab 82. Mitrita/PAOK Thessaloniki (26/15). – Trainer: Radoi

Schiedsrichter: Cüneyt Cakir

Tore: 0:1 Hagi (9.), 1:1 Gnabry (52.), 2:1 Müller (81.)

Die 90 Minuten im Spielfilm

5. Minute: Elfmeter! Oder doch nicht. Timo Werner läuft in den Strafraum ein, wird dabei von Andrei Burca leicht touchiert – und fällt. Die Berührung war zu leicht, heißt es nach dem VAR-Check. Doch kein Elfmeter, entscheidet Schiedsrichter Cüneyt Çakır. Da hat Joshua Kimmich umsonst am Elfmeterpunkt gewartet. Die Entscheidung dauerte (mal wieder) ziemlich lang.

cfd6688844d524fd480926ee82495040.jpg

Hagi. Ianis Hagi.

(Foto: AP)

9. Minute: TOOOOORRRR FÜR RUMÄNIEN: Statt des potenziellen deutschen Führungstreffers gibt es im Gegenzug den schnellen Konter – und das 0:1, da ist das erste Gegentor für das DFB-Team unter Hansi Flick. Im vierten Spiel ist es passiert, Vollstrecker ist Ianis Hagi. Das ging viel zu einfach: Antonio Rüdiger lässt sich tunneln, Thilo Kehrer schaut auch mehr zu als dass er eingreift, der herbeieilende Leon Goretzka kann nichts mehr ausrichten. Hagi trifft mit der linken Pieke ins lange rechte Eck. Hübsch anzusehen, wenn man nicht gerade den Deutschen die Daumen drückt. Ausgerechnet Hagi, der Sohn des berühmten Gheorge Hagi, dem besten rumänischen Fußballers aller Zeiten.

17. Minute: Die erste Großchance für das DFB-Team sieht reichlich kurios aus. Reus flankt von links in den Strafraum, Keeper Florin Nita ist vor Serge Gnabry am Ball, der über den fallenden Torhüter springt – ihn dabei aber am Kopf trifft. Auch Gnabry bleibt liegen, neben ihm prallt der Ball auf den Boden, Timo Werner eilt herbei, wird angeschossen, woraufhin der Ball zu dem vor dem freien Tor liegenden Gnabry fliegt. Der bekommt in seiner verdrehten Haltung das rechte ausgestreckte Bein an den Ball, der aber fliegt knapp am Tor vorbei.

36. Minute: Die DFB-Elf hat die Rumänen in den vergangenen Minuten kurz vor dem und sogar im eigenen Strafraum eingeschnürt. Der Druck ist groß, der Ball fliegt immer wieder vor dem Tor hin und her, kommt mehrfach in Richtung des Kastens – geht aber nicht rein. Reus mit einem sehenswerten Schuss von weit links, Goretzka mit einem Flachschuss, Gnabry legt von rechts in die Mitte ab, doch Nita ist dran. Alles hübsch, aber zählt alles nicht.

41. Minute: Da hat Nicolae Stanciu durchaus Glück, dass er nur Gelb sieht. Von hinten tritt er Kimmich ohne Chance auf den Ball in die Wade. Das Material hält der ruppigen Prüfung nicht Stand, der Stutzen reißt, der Stollen verewigt sich auf Kimmichs Haut.

44. Minute: Gnabry hat offenbar genug vom Passen und herumackern vor dem Tor. Nimmt sich ein Herz, zieht im vollen Lauf von rechts nach innen und schließt aus etwa 18 Metern ab. Der Flachschuss geht jedoch wenige Zentimeter rechts am Tor vorbei.

45.+1 Minute: Rüdiger will es auch wissen. Er kommt nach einem Freistoß von Kimmich im Nachsetzen an den Ball, sein Schuss geht aber weit links am Tor vorbei. Rümpft dann gleich selbst die Nase.

45.+2 Minute: Und schon wird Rüdiger doch wieder hinten gebraucht. Puscas ist nach schnellem Umschalten durch, Rüdiger kann im Sprint aber zur Ecke klären, die nichts einbringt.

45.+3 Minute: Auch Kimmich prüft Nita noch einmal vor der Pause. Der rumänische Keeper bleibt der Sieger.

Halbzeit: Durchatmen. Das wird vor allem die rumänische Defensive gern. Kimmich regt sich beim Gang in die Kabine lieber noch einmal über das Foul gegen ihn auf, zeigt dem Schiedsrichtergespann erneut aufgebracht seine Wade.

47. Minute: Rüdiger on fire. Einen Konter der über rechts Rumänen unterbindet er wuchtig, indem er aus dem Sprint in den Lauf von Andrei Ratiu reingrätscht – und den Ball ins Aus schießt, ohne den Rumänen zu treffen.

48. Minute: Mal wieder Aktion im deutschen Strafraum. Stanciu spielt nach links zu Mihaila, der einläuft und George Puscas an den Ball lässt. Doch Süle ist zur Stelle und Endstation.

49. Minute: Ein bisschen wie beim Handball, geht’s direkt im Gegenzug in den gegnerischen Strafraum. Doch die Flanke von Reus verhallt unerreicht.

52. Minute: TOOOORRR FÜR DEUTSCHLAND!!! 1:1, Gnabry zieht nach einer Weitergabe von Reus kurz vor der Strafraumgrenze ab – und Nita muss zum ersten Mal hinterherschauen. Es ist Gnabrys 20. Tor im 30. Länderspiel, sein viertes im vierten Spiel unter Flick, alle Achtung.

58. Minute: Die Fans im Stadion haben den Schrei schon auf den Lippen, doch Reus grätscht die Hereingabe von Gnabry in den Hamburger Nachthimmel. Die Offensiv-Kombinationen sind gefällig, lassen auf das Führungstor hoffen.

62. Minute: Leroy Sané belohnt sich nicht. Ein schöner Tiefenlauf in Richtung rumänisches Tor, doch am Abschluss hapert’s. Er probiert’s selbst, statt abzugeben – und verzieht direkt selbst das Gesicht. Doch das Engagement ist ähnlich hoch wie zuletzt bei den Bayern. Also hoch.

73. Minute: Der Druck hält an. Chancen über Chancen, ins Tor gehen sie nicht. Die Abschlussstärke des DFB-Teams ist zu bemängeln. Kehrer flankt zu weit, Gnabry fischt den Ball vor der Torauslinie ab, Sané aber drischt den Rückpass erneut über das Tor.

76. Minute: Der eingewechselte Kai Havertz bekommt den Ball vom ebenfalls eingewechselten Thomas Müller am Mittelkreis und stürmt los. Im Strafraum kann ihn der miteilende Adrian Rus gerade noch abgrätschen.

81. Minute: TOOOORRR FÜR DEUTSCHLAND!!! 2:1, und wer macht’s? Thomas Müller, mithilfe seiner Bayern-Connection und eines mutmaßlich einstudierten Kniffs. Goretzka verlängert eine Kimmich-Ecke mit dem Kopf, Müller hat sich etwas abseits des Trubels am zweiten Pfosten freigeschlichen und drückt den Ball über die Torlinie. Man kann das kollektive Aufatmen im Stadion hören.

90.+3 Minute: Einmal kurz durchatmen, da wäre fast das 2:2 gefallen. Es wäre ein Eigentor von Rüdiger geworden, der den Ball ans Schienbein bekommt. Doch im Gewusel vor ter Stegen geht nochmal alles gut. Der folgende Eckball ergibt nichts.

Was war gut?

Die Siegesserie von Hansi Flick hält an. Viertes Spiel, vierter Sieg. Auch Wille, Einsatzbereitschaft – auch bei Sané – und Leidenschaft sind auf der Haben-Seite des Teams. Letztlich auch die drei erhofften Punkte für die WM-Quali, mit der Deutschland die Gruppe J mit nun 18 Punkten weiter souverän anführt. Die “Frische Brise”, mit der der Fanclub Nationalmannschaft diesmal von den Rängen anzufeuern gedachte, kann man dem DFB durchaus attestieren. Es gibt zwar wie beim 1:0-Sieg im Hinspiel nur ein Tor mehr als der Gegner vorzuweisen hat, doch anders als im März noch unter Löw spielt das Flick-Team weiter wie zuletzt mit sichtbarer Freude und dem Glauben an sich selbst.

Was war schlecht?

4201995eff723ce9475f25d0218adfdf.jpg

Erstes Gegentor.

(Foto: imago images/Matthias Koch)

Wir müssen dringend über die Zielstrebigkeit der Offensive reden. Viel vor dem rumänischen Tor, sehenswert festgespielt, die gegnerische Abwehr beschäftigt, aber … die letzte Konsequenz fehlt noch zu häufig. 14 Torschüsse zählte die Statistik – zwei gingen rein. Aus 75 Prozent Ballbesitz gelingt letztlich doch noch der Sieg gegen 42. der FIFA-Weltrangliste. Aber eben erst in der 81. Minute, erst mit Hereinnahme des Super-Jokers Müller. Es klingt arrogant, aber das deutsche Team hätte den Sieg vorher klarmachen müssen.

Stattdessen gab es früh das erste Gegentor in der Ära Flick, weil die schnell umschaltenden Rumänen einmal erfolgreich entwischen. Er könne aufgrund der kurzen Zeit mit der Mannschaft nur auf “Details, gerade auch in der Defensive” eingehen, hatte Flick vor dem Spiel bei RTL gesagt. Dass die Zuordnung in der 9. Minute nicht passte, werden Rüdiger, Kehrer und Co. aber auch ohne Flicks explizite Ansprache wissen. Die Verteidiger werden sich bei Müller bedanken, dass man über sie morgen womöglich weniger spricht als es hätte passieren können.

Und was jetzt?

Am Sonntag fliegt die DFB-Elf nach Nordmazedonien. Böse Erinnerungen an die sehr unschöne 1:2-Pleite vom 31. März in Duisburg werden wach. Diese Schmach gilt es auszumerzen. Damit es möglichst reibungslos läuft, setzt der DFB alles auf eine geordnete Anreise nach Skopje. Die Airline Austrian soll es richten. Der Charterflieger einer litauischen Gesellschaft hatte bekanntlich im September für Chaos gesorgt, als die Rückreise aus Island unerwartet über Schottland führte. Der Ersatzstromgenerator war defekt. Das soll nicht noch einmal passieren. In Nordmazedonien kann bereits das WM-Ticket gelöst werden.

Was sagen die Beteiligten?

Hansi Flick: “Die Mannschaft hat gefightet, ist All in gegangen. Die Zuschauer sind mitgegangen. Wir haben nie aufgesteckt, wir haben Selbstvertrauen gehabt. Natürlich war das ein oder andere in der Präzision nicht so, wie wir uns das vorstellen. Der Sieg ist am Ende aber mehr als verdient. Wir haben das Spiel über weite Strecken bestimmt.”

Thomas Müller: “Ich fand, dass wir ein sehr engagiertes Spiel gemacht haben. Wenn du mit 0:1 in die Pause gehst, ist das kein befriedigendes Gefühl, aber wir hatten schon das Gefühl, dass wir mehr verdient gehabt hätten. Umso schöner war es, dass wir uns mit dem 2:1 belohnt haben. Man muss auch ein Kompliment an die Fans machen: Obwohl wir mit 0:1 zurücklagen, wurde die Leistung honoriert, und als dann das 2:1 fiel, war es schon eine kleine Explosion. Man hat die Verbindung gespürt, wir haben das auf dem Spielfeld sehr genossen.”

Serge Gnabry: “Umso früher wir uns qualifizieren, desto besser. Das war heute ein großer Schritt. Jetzt wollen wir es am Montag klarmachen.”

Joshua Kimmich: “Wir hätten das Spiel einfacher gestalten können, sind unglücklich in Rückstand geraten. Aber jeder im Stadion hat gemerkt, wie wichtig uns dieses Spiel hier ist. Am Ende wurden wir dafür belohnt.”

Der Tweet zum Spiel

Der Rekordtorschütze der 2. Liga – auch im Volksparkstadion erfolgreich unterwegs – wurde letztlich doch nicht gebraucht.

.
source site