Rotation, Razzien und Ronaldo: Wo stehen Europas Top-Nationen vor der EM?

Nach zwei überzeugenden Testspielen gegen Frankreich und die Niederlande ist Deutschland in EM-Stimmung. Einige Experten trauen dem DFB-Team nach dem radikalen Umbau sogar den Titel zu. Und wie stehen die Chancen für die anderen großen Fußball-Nationen?

Die vergangene Länderspielphase hätte für das DFB-Team nicht viel besser laufen können. Die hochkarätigen Testspiele gegen Frankreich (2:0) und die Niederlande (2:1) wurden gewonnen, darüber hinaus gibt es plötzlich eine klare Startelf, die auch noch einen starken Eindruck hinterlässt. Fans und Mannschaft freuen sich aufs Turnier. Das können nicht alle europäischen Top-Nationen von sich behaupten. Ein Blick auf die Konkurrenten:

Die Rückkehr des ewigen Ronaldo

Portugal scheint bereits eine klare Struktur mit Blick auf die Europameisterschaft im Juni und Juli in Deutschland zu haben. Ließ Trainer Roberto Martinez, der zuvor die belgische Auswahl trainierte, zu Beginn der Qualifikation noch eine Dreierkette spielen, laufen die Portugiesen zuletzt in den allermeisten Fällen mit einer Viererkette auf. Davor sichert ein Sechser ab, drei offensive Mittelfeldspieler füttern die Doppelspitze. In der ist auch wieder Platz für Cristiano Ronaldo. Der Kapitän, der bei der WM in Katar zwischenzeitlich eine Bankrolle akzeptieren musste, hat sich in der Qualifikation zur EM mit zehn Toren eindrucksvoll zurückgemeldet.

So offensiv die Ausrichtung auf dem Papier auch aussieht; Portugal spielt mit zehn Siegen aus zehn Spielen nicht nur die stärkste Qualifikation aller Nationen. Sie kassieren bei 36 geschossenen Toren gerade einmal zwei (!) Gegentreffer. Von “CR7” emanzipiert sich das Team zusehends. In der jüngsten Länderspielphase treffen beim 5:2-Testsieg über Schweden fünf verschiedene Spieler. Ronaldo steht nicht auf dem Feld. Es ist der elfte Sieg in Serie. Prompt folgt ein 0:2 gegen Slowenien. Mit Ausnahme von Innenverteidiger-Altmeister Pepe tauschte Martinez zwischen beiden Partien die komplette Startelf aus.

Dennoch gibt es Spieler, die bereits sicher für die EM planen können. Neben dem mittlerweile nach Saudi-Arabien abgewanderten Ronaldo setzt Martinez in der Offensive regelmäßig auf Pep Guardiolas Musterschüler Bernardo Silva (Manchester City), Joao Felix (FC Barcelona) und Rafael Leao (AC Mailand). Im Mittelfeld ist Bayern-Flirt Joao Palhinha vom FC Fulham eine wichtige Stütze, Manchester Uniteds Bruno Fernandes sorgt für kreative Momente. In der Defensive verlässt sich der Coach vor allem auf Ex-Bayern-Verteidiger Joao Cancelo und Manchester Citys Ruben Dias.

Eng könnte es für Raphael Guerreiro vom FC Bayern werden. Der Linksverteidiger war während der Quali-Spiele zu einigen Einsätzen von der Bank gekommen, fehlte zuletzt jedoch aufgrund eines Muskelfaserrisses. Mit Nuno Mendes von PSG wartet hinter Cancelo weitere noch starke Konkurrenz. Der Europameister von 2016 ist aller Voraussicht nach auch in diesem Sommer ein heißer Titelkandidat. Die Form des Teams sucht ihresgleichen (vom Slowenien-Ausrutscher mal abgesehen), das Personal ist Weltklasse.

Deutschland als neuer Angstgegner?

Die einzige Nation die in der Qualität über einen noch breiteren Kader verfügt als Portugal, ist Frankreich. Die sagenhaft talentierte Generation um Kylian Mbappé gilt erneut als Top-Favorit. Die Mannschaft präsentiert sich zuletzt gegen Deutschland nicht immer griffig, danach folgt ein knapper 3:2-Triumph über Chile. Zur Wahrheit gehört jedoch auch, dass Frankreich unter Didier Deschamps – falls überhaupt – sehr selten die Sterne vom Himmel gespielt hat. Der Kader bündelt individuelle Klasse auf einem Niveau, das weltweit wahrscheinlich keine andere Nationalmannschaft erreicht. “Sie haben vielleicht 40 Spieler, die sehr talentiert sind. Und sie haben eine sehr ausgeglichene Truppe, die rasch auf Änderungen reagieren kann”, äußert sich EM-Turnierdirektor Philipp Lahm gegenüber der AFP. Das Wissen, sich darauf verlassen zu können, hat die Equipe Tricolore in zwei WM-Finals geführt – 2018 mit erfolgreichem Ausgang.

In den allermeisten Fällen laufen die Franzosen in einem 4-2-3-1 auf. Die linke Seite der Viererkette übernehmen die Hernandez-Brüder Theo (an dem der FC Bayern Interesse haben soll) und Lucas (der die Bayern vor der Saison verlassen hatte). Mit Benjamin Pavard findet sich häufig noch ein weiterer Ex-FCB-Spieler in der Abwehrkette, doch auch Dayot Upamecano oder Barcelonas Jules Koundé erhalten regelmäßig Einsatzzeiten. Das Mittelfeld strukturiert Real Madrids Doppel-Sechs aus Aurelien Tchouameni und Eduardo Camavinga. Bemerkenswert reif spielt der 18-jährige Warren Zaire-Emery, der auch gegen Deutschland eine gute Partie zeigte. Vorn wirbelt die Pariser Flügelzange aus Kylian Mbappé und Ousmane Dembele um die Routiniers Antoine Griezmann und Frankreichs Rekordtorschützen Olivier Giroud.

Neben der jüngsten Niederlage gegen Deutschland gab es auch im vergangenen September beim Ein-Spiel-Comeback von Rudi Völler als Bundestrainer eine Pleite gegen den DFB. Es sind die einzigen Spiele, die das Team seit dem WM-Finale gegen Argentinien verloren hat. In der Qualifikation zum Turnier in Deutschland verhindert ein 2:2 am letzten Spieltag gegen Griechenland eine perfekte Punkteausbeute.

Neapel-Held stabilisiert auch Italien

Weit entfernt von einer perfekten Punkteausbeute war der amtierende Europameister in der Qualifikation. Die vergangenen Jahre sind für den italienischen Fußball eine ziemliche Achterbahnfahrt. Zwischen die verpassten Weltmeisterschaften 2018 und 2022 fiel 2021 der EM-Titel. Punktgleich mit der Ukraine schlossen die Italiener die Qualifikation ab, der Tordifferenz sei Dank landeten sie hinter England auf dem zweiten Platz. An der Seite steht seit September 2023 Luciano Spalletti, nachdem er zuvor als Trainer der SSC Neapel die lang ersehnte Meisterschaft an den Vesuv gebracht hatte. Seit seinem Amtsantritt verliert die Mannschaft nur das Spiel in England (1:3).

Das System ist immer das Gleiche; ein 4-3-3, das Spalletti auch in Neapel schon bevorzugt. Zuletzt testete er zum ersten Mal eine Dreierkette in den Begegnungen mit Ecuador und Venezuela. Italien gewann beide Partien. Das Gerüst der Nationalelf stellt Inter Mailand. Die Mannschaft von Simone Inzaghi war letztes Jahr ins Finale der Königsklasse eingezogen. In diesem Jahr marschiert das Team souverän zur Meisterschaft in der Serie A, derzeit sind es 14 Punkte Vorsprung auf “Verfolger” AC Mailand.

Ihren Einsatz in der Startelf sicher haben dürften Torwart Gianluigi Donnarumma (PSG), Davide Bastoni (Inter Mailand), Nicolo Barella (Inter Mailand) und Giacomo Raspadori (Neapel). Auch Inter-Außenverteidiger Federico Dimarco ist häufig Teil der ersten Aufstellung. Sicher nicht mitfahren wird Sassuolos Flügelstürmer Domenico Berardi, der wegen eines Achillessehnenrisses bis in den Herbst ausfällt. Es bleibt der Eindruck; Italien hat sich nach turbulenten letzten Jahren pünktlich zur EM beim ewigen Rivalen gefangen.

Verletzte ohne Ende und ein Nationalmannschaftsverweigerer

Durchgesetzt hatte sich Italien im EM-Finale 2021 gegen England. Und das im Wembley-Stadion. Eine bittere Pleite, aber die in Teilen sehr junge Mannschaft ist inzwischen weiter gereift. Kapitän Harry Kane ist in Topform, Jude Bellingham hat sich bei Real Madrid als Torjäger neu erfunden. Also alles super?

Mitnichten. Die jüngste Länderspielpause produziert ernüchternde Ergebnisse, eine 0:1-Niederlage gegen Brasilien sowie ein Unentschieden gegen Belgien. Bereits vor dem zweiten Spiel müssen die Manchester-Urgesteine Harry Maguire (United) und Kyle Walker (City) angeschlagen abreisen, während der Partie verletzt sich zusätzlich Citys John Stones. Harry Kane konnte ohnehin nicht auflaufen, auch Arsenals Juwel Bukayo Saka stand Nationaltrainer Gareth Southgate nicht zur Verfügung. Chelseas Shootingstar Cole Palmer saß nach einer Blessur immerhin wieder auf der Bank, spielte jedoch keine Minute. Eingespieltheit ist nur zwei Länderspiele vor der EM ein ferner Traum.

Hinzu kommt der Fall Ben White. Der Rechtsverteidiger spielt mit dem FC Arsenal eine beeindruckende Saison, weilte jedoch im Urlaub. Er hatte die Nominierung abgelehnt und offensichtlich kein Interesse daran, für die Three Lions aufzulaufen. Drumherum lodern kleine Störfeuer, wie gleich zwei Trikot-Debatten. Zum einen stören sich große Teile der Öffentlichkeit an dem violett eingefärbten Kreuz im Kragen des Heimtrikots (zudem sich sogar Premier Rishi Sunak ablehnend äußerte), zum anderen ist es so teuer wie nie.

Als Jude Bellingham in seiner gruseligen Zuverlässigkeit in der 95. Minute gegen Belgien trotz allem mal wieder den Karren aus dem Dreck zog und den Ausgleichstreffer zum 2:2 erzielte, explodierte das Stadion nicht. Die Ränge waren nur noch halbvoll, viele Fans bereits auf dem Nachhauseweg.

Zwischen Goldjunge und Geldwäsche

Lamine Yamal war von Brasiliens Verteidigern kaum zu halten.

Lamine Yamal war von Brasiliens Verteidigern kaum zu halten.

(Foto: IMAGO/PanoramiC)

Ebenfalls gegen Brasilien testete die spanische Nationalmannschaft. Im Wohnzimmer Bellinghams, dem Santiago Bernabeu, applaudierten die Anhänger ausnahmsweise mal einem Barcelona-Spieler. Und was für einem. Lamine Yamal bereitete das sehr sehenswerte Tor von Dani Olmo vor, holte zwei Elfmeter raus (auch wenn der Kontakt beim ersten Strafstoß verdächtig nach Schwalbe aussah), schlug gefährliche Ecken und ließ die brasilianischen Verteidiger mit einem bunten Strauß aus Finten und Übersteigern ein ums andere Mal ins Leere laufen. Falls Sie den Namen noch nie gehört haben, wird das daran liegen, dass Yamal 16 Jahre alt ist.

Den entzückenden Goldjungen kann der spanische Fußball gut gebrauchen. Vor der Brasilien-Partie gab es im ersten Länderspiel des Jahres eine überraschende Niederlage gegen Kolumbien. Und fernab des Platzes wird die Stimmung noch trüber. Denn nicht nur die Fans interessieren sich für den spanischen Verband, sondern auch die Behörden. Nach einer Razzia im RFEF-Hauptquartier in Madrid werden mehrere Direktoren freigestellt. Dem ehemaligen Verbandschef Luis Rubiales, der nach dem Kuss-Skandal bei der Frauen-WM im vergangenen Jahr zurücktreten musste droht nun eine Festnahme. Im Rahmen der Vergabe des spanischen Supercups nach Saudi-Arabien gibt es Ermittlungen zu Korruption und Geldwäsche.

Während der Motor zurzeit stottert, lief die spanische Fußballmaschine vor allem 2023 auf Hochtouren. Die Iberer gewannen bis auf eine überraschende 0:2-Niederlage in Schottland alle Spiele. In der Nations League schlugen sie im Halbfinale Italien und krönten sich durch einen Sieg über Kroatien im Finale zum Sieger.

Jung ist auch die Mannschaft. Nach der WM in Katar geht mit Sergio Busquets das letzte Gesicht der goldenen Generation, die zwischen 2008 und 2012 zwei Europa- und eine Weltmeisterschaft gewann. Doch Barcelonas legendäre Nachwuchsakademie La Masia produziert munter weiter. Die zurzeit verletzten Mittelfeldgenies Pedri (21) und Gavi (19) sowie der bereits erwähnte Lamine Yamal sind die neuen Hoffnungsträger. Pau Cubarsi, ein 17-jähriger Innenverteidiger, durfte ebenfalls jüngst debütieren. Dazu kommt Bilbaos Flügelstürmer Nico Williams (21). Weitere Hochtalentierte wie Barcelonas Linksverteidiger Alejandro Baldé (20) oder Villarreals Angreifer Jeremy Pino (21) werden die EM aller Voraussicht nach aufgrund von Verletzungen verpassen.

Oranje zahnlos gegen Top-Teams

Neben Frankreich konnte sich die deutsche Nationalmannschaft mit den Niederlanden noch einen weiteren Turnierfavoriten aus nächster Nähe anschauen. Oranje bestrafte den ersten Fehler Deutschlands eiskalt, trotz der frühen Führung ging das Spiel jedoch mit 1:2 verloren. Nach dem Spiel bescheinigt Bayern-Verteidiger Mathijs de Ligt der DFB-Auswahl “viel Qualität auf allen Positionen”.

Die hat die Niederlande vor allem in der Defensive. In der einstigen Hochburg des “Voetbal Total” ist die Abwehr längst das Prunkstück. An der Seite von de Ligt spielten gegen Deutschland Weltklasse-Verteidiger wie Liverpool- und Oranje-Kapitän Virgil van Dijk oder der bei Manchester City durch Vielseitigkeit bestechende Nathan Aké. Mit Denzel Dumfries von Inter Mailand oder Leverkusens Jeremie Frimpong hat Coach Ronald Koeman auch auf den Außenbahnen hochwertige Optionen. Im Mittelfeld vermissen die Niederländer schmerzlich ihren Chef-Gestalter Frenkie de Jong.

Der Barca-Star fällt zuletzt immer wieder aus, 2023 konnte er nur vier Länderspiele bestreiten. Die Offensive ist gespickt mit bekannten Gesichtern aus der Bundesliga. Seit dem zweiten Gruppenspiel bei der WM 2022 stand Hoffenheims Wout Weghorst in jedem Spiel der Niederlande auf dem Feld. Der Dortmunder Flügelstürmer Donyell Malen ist im Kreis der Nationalmannschaft ebenso gern gesehen. Leipzigs Zauberer Xavi Simons eigentlich auch. Zuletzt gab es aber harsche Kritik für den Elite-Dribbler. Er verliere zu viele Bälle, ließ Koeman ihn und die Weltöffentlichkeit wissen. Zur Strafe gab es gegen Deutschland lediglich eine Minute Spielzeit. Eigentlich zählt die quirlige PSG-Leihgabe aber fest zum Kern der Mannschaft.

Mit Blick auf die Ergebnisse ist festzuhalten, dass die Niederlande vor allem Probleme mit Top-Teams hat. Die Qualifikation in Gruppe B brachte acht Siege und zwei Niederlagen – beide gegen Frankreich. In der Nations League verlor das Team sowohl das Halbfinale gegen Kroatien als auch das Spiel um Platz drei gegen Italien. Im jüngsten Vergleich mit Deutschland setzte es die nächste Niederlage. Inwiefern Oranje diese Schwäche in den Griff bekommen hat, werden Fans schnell erkennen. In der EM-Gruppe D ist Frankreich erneut Gegner.

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